Große Zeitdiagnostiker als kritische Beobachter.Mit Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich ein neuer Intellektuellen-Typus, der das Verhältnis von Geschichte und Politik kritisch in den Blick nahm. Der französische Philosoph Raymond Aron prägte für diese Experten der Zeitdiagnostik den Begriff »engagierte Beobachter«.Gangolf Hübingers Studien zum Phänomen des Zeitdiagnostikers setzen ein bei der Kulturschwelle um 1900 und den sich radikalisierenden Ideenkämpfen um wissenschaftliche Beschreibung und politische Gestaltung der Moderne. Es folgen exemplarische Porträts zu Max Weber, zu Ernst Troeltsch, dem Analytiker der großen Umbrüche nach 1918, zu Fritz Stern, dem Mittler zwischen Europa und Amerika, und zu Ralf Dahrendorf in seinem kritischen Dialog mit Jürgen Habermas über 1989 und die Folgen.Die abschließende kritische Betrachtung gilt dem intellektuellen Anspruch der Historiker, bewusst in zwei Welten zu leben, in Gegenwart und Vergangenheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2019Der Ideenkämpfer im kühlen Ordnungsdenker
Wie eine Problemgeschichte der Gegenwart: Gangolf Hübingers Essays zur intellektuellen Biographie Max Webers
In einer Rede über "Geist und Macht" aus dem Jahr 1986 führte Jürgen Habermas Max Weber als Beispiel für jenen zumal in Deutschland anzutreffenden Intellektuellen an, der Intellektuelle "Intellektuelle" schimpft. Um dies zu untermauern, bezog sich Habermas auf den berühmten Vortrag "Politik als Beruf", in dem Weber der professionellen Rationalität des Berufspolitikers die politisch dilettierenden Schriftsteller samt ihrer "ins Leere laufenden Romantik des intellektuell Interessanten ohne alles sachliche Verantwortungsgefühl" gegenüberstellte. Wenn sich Weber in Rage redete, was nicht selten vorkam, titulierte er sie als "Tintenfassromantiker", "lackierte Plebejer" oder schlicht "Phrasendreschmaschinen".
Insofern fügte Weber dem Wörterbuch einer deutschen Schimpfwortgeschichte des "Intellektuellen" einige Einträge hinzu. Sosehr die "negative Klangfarbe" dieses Begriffs insbesondere in Deutschland während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dominierte, sollten positive Zwischentöne jedoch nicht ignoriert werden. Nach Webers Verständnis, das betont Gangolf Hübinger, sei die Rolle der Intellektuellen doppeldeutig. Man dürfe sich nicht von seinem "Bannstrahl ,Literat'" blenden lassen. Dies käme einem "großen Missverständnis" gleich und würde an Webers hauptsächlicher Interpretationslinie vorbeizielen.
Um diese adäquat in die Zeitläufte einzubetten, nimmt Hübinger die "Kulturschwelle" um 1900 in den Blick, die von einer "Doppelrevolution" gekennzeichnet gewesen sei: eine der Demokratisierung und Pluralisierung von Lebensformen und Weltbildern, eine weitere der Verwissenschaftlichung nicht zuletzt auch sozioökonomischer und politischer Ordnungsideen. Der beschleunigte Erfahrungswandel in sich neu formierenden, heftig pulsierenden, bis zur Zerreißprobe angespannten Massengesellschaften forderte den nüchternen "Wirklichkeitswissenschaftler" ebenso wie den intellektuellen Zeitdiagnostiker heraus.
Weber sang ein Loblied nicht nur auf die Rationalisierung, sondern auch auf die Intellektualisierung. Während die erste Funktion ihm zufolge wesentlich dem auf Wertfreiheit gepolten Gelehrten zukam, suchte er im zweiten Fall nach Akteuren, die durch "eigene innere Nötigung", so formulierte er es einmal, "die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen können". Neben dem auf "Entzauberung" zielenden analytischen Scharfsinn begriffsgenauer und unbestechlicher Wissenschaft erkannte Weber einen beachtlichen Bedarf an "Intellektualismus" und dessen Trägerschichten, den kultur- und weltbildprägenden, ja "weichenstellenden" Intellektuellen. Weber selbst, der "Gelehrten-Intellektuelle", wie Hübinger ihn nennt, verband beides in einer Person.
Während Weber die "Literaten" ob ihrer mangelnden Verantwortungsethik und ihres bloßen Ästhetizismus scharf missbilligte, schätzte er den wissenschaftlich gebildeten Ideenkämpfer sehr. Ein weiterer "positiv geformter Intellektuellentypus" kam hinzu, wie Hübinger zu zeigen vermag: der Journalist. Sofern dieser individuelles Verantwortungsgefühl und unbestechliche Urteilskraft besaß, achtete ihn Weber sehr und verband damit ein Lob für die moderne Presse überhaupt. Er selbst schlüpfte in die verschiedenen Rollen, wirkte in erster Linie als Gelehrter, aber auch als Zeitkritiker und Journalist, der 1918/19 für die "Frankfurter Zeitung" die akute Umbruchssituation schilderte und würdigte.
Wenngleich er dies nicht offen eingestand und auf einer strikten Rollentrennung beharrte, kollidierte der "kühle Ordnungsdenker" mit dem "rigorosen Ideenkämpfer", der Gelehrten-Intellektuelle mit dem kommentarfreudigen Publizisten im Spannungsfeld von Rationalität und Radikalität. Dabei war gerade der Konflikt, der Kampf, ein Modus, der Weber besonders zusagte. Der Jurist und Politikwissenschaftler Karl Loewenstein sagte über ihn, er habe sich dann "am wohlsten" gefühlt, "wenn er Gegner hatte".
Hübinger charakterisiert Weber treffend als Konfliktliberalen und -denker. Dies verdeutlicht er am Beispiel der Lauensteiner Kulturtagungen, die der Verleger Eugen Diederichs im Jahr 1917 organisierte. Dort sah Weber überwiegend jugendbewegte Schwarmgeister, Staatsmetaphysiker und Gemeinschaftsideologen am Werk, die seinen Unmut erregten. Diederichs hielt ihm im Anschluss zersetzenden Negativismus vor und nannte ihn abwertend einen "kritisch-intellektuellen Typus". Notwendig seien dagegen "schöpferisch-politische Menschen", die für "Bindung" sorgten, statt einem "atomistischen Subjektivismus" zu frönen. Für derartiges deutsches Synthese-Streben, wie es sich im "Geist von 1914" verdichtet hatte, war der streitlustige Individualist und unorthodoxe Grenzgänger Weber nicht zu haben. Dafür war er zu analytisch-sezierend, zu kritisch und zu demokratisch veranlagt.
Gangolf Hübinger, Mitherausgeber der Max-Weber-Gesamtausgabe, die 2020 pünktlich zum einhundertsten Todestag mit insgesamt 47 Bänden komplett vorliegen soll, ist einer der besten Kenner Webers und seiner Zeit. In den hier versammelten Aufsätzen aus den Jahren beleuchtet er nicht nur Stationen einer herausragenden intellektuellen Biographie, sondern zeigt ebenso, welche Impulse auf sie einwirkten und welche von ihr ausgingen. Diese gelehrten und geschickt aufeinander abgestimmten Miniaturen verbinden eine gesellschafts- und politikgeschichtliche Grundierung mit kultur-, medien- und wissenschaftshistorischen Betrachtungen. Neben diversen Denktraditionen, (inter-)disziplinären Formungsprozessen und institutionellen Netzwerken wie dem "Verein für Socialpolitik" und dem "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" legt Hübinger wichtige Personengeflechte frei. Sie reichen von Bruder Alfred über Ernst Troeltsch und Robert Michels bis zu Georg Jellinek, rezeptionsgeschichtlich bis zu Ralf Dahrendorf oder M. Rainer Lepsius.
Manche Passagen, die das spannungsreiche Zeitklima der langen Jahrhundertwende "1900" aus dem Konglomerat eines globalen Kapitalismus, nationalstaatlicher Ordnung und demokratischer Selbstbestimmung erwachsen sehen, lesen sich sogar wie eine Problemgeschichte unserer Gegenwart. Dieser Band unterstreicht einmal mehr: Weber gehört nicht ins Antiquariat. Sein "Intellektualismus" verdient fundierte Historisierung und bleibt doch aktuell.
ALEXANDER GALLUS
Gangolf Hübinger:
"Max Weber". Stationen und Impulse einer
intellektuellen Biographie.
Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2019. 419 S., geb., 64,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie eine Problemgeschichte der Gegenwart: Gangolf Hübingers Essays zur intellektuellen Biographie Max Webers
In einer Rede über "Geist und Macht" aus dem Jahr 1986 führte Jürgen Habermas Max Weber als Beispiel für jenen zumal in Deutschland anzutreffenden Intellektuellen an, der Intellektuelle "Intellektuelle" schimpft. Um dies zu untermauern, bezog sich Habermas auf den berühmten Vortrag "Politik als Beruf", in dem Weber der professionellen Rationalität des Berufspolitikers die politisch dilettierenden Schriftsteller samt ihrer "ins Leere laufenden Romantik des intellektuell Interessanten ohne alles sachliche Verantwortungsgefühl" gegenüberstellte. Wenn sich Weber in Rage redete, was nicht selten vorkam, titulierte er sie als "Tintenfassromantiker", "lackierte Plebejer" oder schlicht "Phrasendreschmaschinen".
Insofern fügte Weber dem Wörterbuch einer deutschen Schimpfwortgeschichte des "Intellektuellen" einige Einträge hinzu. Sosehr die "negative Klangfarbe" dieses Begriffs insbesondere in Deutschland während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dominierte, sollten positive Zwischentöne jedoch nicht ignoriert werden. Nach Webers Verständnis, das betont Gangolf Hübinger, sei die Rolle der Intellektuellen doppeldeutig. Man dürfe sich nicht von seinem "Bannstrahl ,Literat'" blenden lassen. Dies käme einem "großen Missverständnis" gleich und würde an Webers hauptsächlicher Interpretationslinie vorbeizielen.
Um diese adäquat in die Zeitläufte einzubetten, nimmt Hübinger die "Kulturschwelle" um 1900 in den Blick, die von einer "Doppelrevolution" gekennzeichnet gewesen sei: eine der Demokratisierung und Pluralisierung von Lebensformen und Weltbildern, eine weitere der Verwissenschaftlichung nicht zuletzt auch sozioökonomischer und politischer Ordnungsideen. Der beschleunigte Erfahrungswandel in sich neu formierenden, heftig pulsierenden, bis zur Zerreißprobe angespannten Massengesellschaften forderte den nüchternen "Wirklichkeitswissenschaftler" ebenso wie den intellektuellen Zeitdiagnostiker heraus.
Weber sang ein Loblied nicht nur auf die Rationalisierung, sondern auch auf die Intellektualisierung. Während die erste Funktion ihm zufolge wesentlich dem auf Wertfreiheit gepolten Gelehrten zukam, suchte er im zweiten Fall nach Akteuren, die durch "eigene innere Nötigung", so formulierte er es einmal, "die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen können". Neben dem auf "Entzauberung" zielenden analytischen Scharfsinn begriffsgenauer und unbestechlicher Wissenschaft erkannte Weber einen beachtlichen Bedarf an "Intellektualismus" und dessen Trägerschichten, den kultur- und weltbildprägenden, ja "weichenstellenden" Intellektuellen. Weber selbst, der "Gelehrten-Intellektuelle", wie Hübinger ihn nennt, verband beides in einer Person.
Während Weber die "Literaten" ob ihrer mangelnden Verantwortungsethik und ihres bloßen Ästhetizismus scharf missbilligte, schätzte er den wissenschaftlich gebildeten Ideenkämpfer sehr. Ein weiterer "positiv geformter Intellektuellentypus" kam hinzu, wie Hübinger zu zeigen vermag: der Journalist. Sofern dieser individuelles Verantwortungsgefühl und unbestechliche Urteilskraft besaß, achtete ihn Weber sehr und verband damit ein Lob für die moderne Presse überhaupt. Er selbst schlüpfte in die verschiedenen Rollen, wirkte in erster Linie als Gelehrter, aber auch als Zeitkritiker und Journalist, der 1918/19 für die "Frankfurter Zeitung" die akute Umbruchssituation schilderte und würdigte.
Wenngleich er dies nicht offen eingestand und auf einer strikten Rollentrennung beharrte, kollidierte der "kühle Ordnungsdenker" mit dem "rigorosen Ideenkämpfer", der Gelehrten-Intellektuelle mit dem kommentarfreudigen Publizisten im Spannungsfeld von Rationalität und Radikalität. Dabei war gerade der Konflikt, der Kampf, ein Modus, der Weber besonders zusagte. Der Jurist und Politikwissenschaftler Karl Loewenstein sagte über ihn, er habe sich dann "am wohlsten" gefühlt, "wenn er Gegner hatte".
Hübinger charakterisiert Weber treffend als Konfliktliberalen und -denker. Dies verdeutlicht er am Beispiel der Lauensteiner Kulturtagungen, die der Verleger Eugen Diederichs im Jahr 1917 organisierte. Dort sah Weber überwiegend jugendbewegte Schwarmgeister, Staatsmetaphysiker und Gemeinschaftsideologen am Werk, die seinen Unmut erregten. Diederichs hielt ihm im Anschluss zersetzenden Negativismus vor und nannte ihn abwertend einen "kritisch-intellektuellen Typus". Notwendig seien dagegen "schöpferisch-politische Menschen", die für "Bindung" sorgten, statt einem "atomistischen Subjektivismus" zu frönen. Für derartiges deutsches Synthese-Streben, wie es sich im "Geist von 1914" verdichtet hatte, war der streitlustige Individualist und unorthodoxe Grenzgänger Weber nicht zu haben. Dafür war er zu analytisch-sezierend, zu kritisch und zu demokratisch veranlagt.
Gangolf Hübinger, Mitherausgeber der Max-Weber-Gesamtausgabe, die 2020 pünktlich zum einhundertsten Todestag mit insgesamt 47 Bänden komplett vorliegen soll, ist einer der besten Kenner Webers und seiner Zeit. In den hier versammelten Aufsätzen aus den Jahren beleuchtet er nicht nur Stationen einer herausragenden intellektuellen Biographie, sondern zeigt ebenso, welche Impulse auf sie einwirkten und welche von ihr ausgingen. Diese gelehrten und geschickt aufeinander abgestimmten Miniaturen verbinden eine gesellschafts- und politikgeschichtliche Grundierung mit kultur-, medien- und wissenschaftshistorischen Betrachtungen. Neben diversen Denktraditionen, (inter-)disziplinären Formungsprozessen und institutionellen Netzwerken wie dem "Verein für Socialpolitik" und dem "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" legt Hübinger wichtige Personengeflechte frei. Sie reichen von Bruder Alfred über Ernst Troeltsch und Robert Michels bis zu Georg Jellinek, rezeptionsgeschichtlich bis zu Ralf Dahrendorf oder M. Rainer Lepsius.
Manche Passagen, die das spannungsreiche Zeitklima der langen Jahrhundertwende "1900" aus dem Konglomerat eines globalen Kapitalismus, nationalstaatlicher Ordnung und demokratischer Selbstbestimmung erwachsen sehen, lesen sich sogar wie eine Problemgeschichte unserer Gegenwart. Dieser Band unterstreicht einmal mehr: Weber gehört nicht ins Antiquariat. Sein "Intellektualismus" verdient fundierte Historisierung und bleibt doch aktuell.
ALEXANDER GALLUS
Gangolf Hübinger:
"Max Weber". Stationen und Impulse einer
intellektuellen Biographie.
Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2019. 419 S., geb., 64,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Es könnte kaum einen besseren Zeitpunkt für dieses Buch geben.« (Sebastian Meißner, literaturkritik.de, Nr. 6, Juni 2016) »luzide Analysen intellektueller Positionen und Konstellationen des beginnenden und des endenden 20. Jahrhunderts, die Gangolf Hübinger als souveränen Kenner der Materie ausweisen« (Thomas Hertfelder, H-Soz-Kult, 03.02.2017) »bietet (...) eine zusammenhängende Interpretation und Darstellung der Intellektuellengeschichte, die sich zudem hervorragen lesen lässt« (Thomas Kroll, Neue Politische Literatur, Jg. 62, 2017) »Der Band versammelt durchweg lesenswerte Aufsätze der zurückliegenden Jahre aus der Feder eines der führenden deutschsprachigen "Intellectual Historians"« (Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 29, 2017)