Was ist das wirklich: Dichtung?
Wenn Wörter Wirklichkeit erzeugen - und die Sprache ist der Menschheit ja nicht fertig ins Maul gefallen -, so sind Dichtung und Leben untrennbar miteinander verwoben. Nachdenken über Dichtung heisst somit, über das Leben nachdenken zu müssen.
Der Autor muss sich prüfen, wie er lebt, und muss sich Rechenschaft ablegen über seine Verantwortung, wenn er Dichtung in die Welt setzt. Wie er es tut und was er unter Dichtung versteht, legt Christoph Wilhelm Aigner in seiner Poetologie offen, bis hin zu jenen zehn Einsichten, die sein und damit das Leben seiner Gedichte beeinflusst haben.
Wenn Wörter Wirklichkeit erzeugen - und die Sprache ist der Menschheit ja nicht fertig ins Maul gefallen -, so sind Dichtung und Leben untrennbar miteinander verwoben. Nachdenken über Dichtung heisst somit, über das Leben nachdenken zu müssen.
Der Autor muss sich prüfen, wie er lebt, und muss sich Rechenschaft ablegen über seine Verantwortung, wenn er Dichtung in die Welt setzt. Wie er es tut und was er unter Dichtung versteht, legt Christoph Wilhelm Aigner in seiner Poetologie offen, bis hin zu jenen zehn Einsichten, die sein und damit das Leben seiner Gedichte beeinflusst haben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2000Hügelausläufer
Christoph Wilhelm Aigner prüft die Scheuklappen der Erkenntnis
Ein Autor, der den "Umgang mit Menschen in Städten" verlernt hat und den der "Gedanke an Lesungen schreckt", läßt sich dennoch zu einer Veranstaltungsreihe in Württemberg überreden. Die Lesetournee führt ihn zu Gymnasien in Ravensburg, Reutlingen und Biberach. Sie wird finanziert von einer Stiftung, die ihm einen oberschwäbischen "Schutzengel" beigegeben hat, genauer eine "Engelin", die in die Lesungen einführt. In Ravensburg scheint es an der richtigen Abstimmung gefehlt zu haben, denn im Welfengymnasium steht der Schulausflug auf dem Tagesprogramm; nur zwei von einer Reise zurückgekehrte Abiturklassen lassen sich in aller Eile in den Vortragssaal lotsen. Sonst aber verläuft die Tournee programmgemäß.
Programmgemäß heißt auch, daß die Fragen der Schüler voraussehbar sind. Warum schreiben Sie? (Antwort des Autors: Warum atmen Sie?) Weshalb schreiben Sie noch Gedichte, was doch sehr altmodisch ist? Bevorzugen Sie kurze oder lange Gedichte? Was ist Interpretation, und wie kann man interpretieren? Der Autor geht kein Risiko ein und bereitet mögliche Antworten vor, erweitert sie zu grundsätzlichen Überlegungen, zum Dichterischen und Gedicht.
Die (eingestandene) Gesellschaftsferne ist der Preis des Autors für seine Naturnähe. Das Buch setzt ein mit genauen und doch poetischen Landschaftsbildern: "Immer öfter fahren Nebelschiffe ein in die bewaldeten Buchten und Schneisen der Hügelausläufer." Von vergnüglicher Anschaulichkeit ist seine Prosa, wenn er Wörter oder Begriffe mit Naturgleichnissen erläutert. Überhaupt ist die Prosa stärker in der erzählenden Darstellung als in der Reflexion. Unter sein Niveau geht Aigner, wenn er Descartes' Satz "Ich denke, also bin ich" abfertigt, ohne seinen philosophischen Voraussetzungen gerecht zu werden.
In dem Paradoxon von den "Scheuklappen der Erkenntnis" faßt Aigner seine Abwehr analytischer Methoden zusammen. Ironisch-spielerisch demontiert er diese Interpretation im Gleichnis vom "lebendigen Leib der Dichtung", der in der Universitätsklinik von einem medizinischen Fach zum anderen weitergereicht wird. Aigners Rede vom "Gedichtwesen" und seine Entgegensetzung von "Kunst" und "Gedicht" neigen zu Mystifizierungen. Immerhin lockert sich am Ende das Verdikt gegen logische Elemente der Dichtung und der Interpretation, wenn den "Fermenten Zweifel und Selbstkritik" ein Recht eingeräumt wird.
Den tieferen Grund für sein Mißtrauen gegen die Analyse verrät Aigner, wenn er Definitionsversuche der modernen Linguistik zitiert, so die folgende: "Die ästhetische Botschaft eines Werks ist die Semantizität der polyfunktionalen Präsentation wahrnehmbarer Konstituenten in nicht deliminativen Kontexten." In der Tat, solche Schreckschüsse können einen Dichter, dem Verse "Lebewesen" sind, zurücktreiben in die Wälder.
WALTER HINCK
Christoph Wilhelm Aigner: "Engel der Dichtung". Eine Lesereise. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2000. 158 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christoph Wilhelm Aigner prüft die Scheuklappen der Erkenntnis
Ein Autor, der den "Umgang mit Menschen in Städten" verlernt hat und den der "Gedanke an Lesungen schreckt", läßt sich dennoch zu einer Veranstaltungsreihe in Württemberg überreden. Die Lesetournee führt ihn zu Gymnasien in Ravensburg, Reutlingen und Biberach. Sie wird finanziert von einer Stiftung, die ihm einen oberschwäbischen "Schutzengel" beigegeben hat, genauer eine "Engelin", die in die Lesungen einführt. In Ravensburg scheint es an der richtigen Abstimmung gefehlt zu haben, denn im Welfengymnasium steht der Schulausflug auf dem Tagesprogramm; nur zwei von einer Reise zurückgekehrte Abiturklassen lassen sich in aller Eile in den Vortragssaal lotsen. Sonst aber verläuft die Tournee programmgemäß.
Programmgemäß heißt auch, daß die Fragen der Schüler voraussehbar sind. Warum schreiben Sie? (Antwort des Autors: Warum atmen Sie?) Weshalb schreiben Sie noch Gedichte, was doch sehr altmodisch ist? Bevorzugen Sie kurze oder lange Gedichte? Was ist Interpretation, und wie kann man interpretieren? Der Autor geht kein Risiko ein und bereitet mögliche Antworten vor, erweitert sie zu grundsätzlichen Überlegungen, zum Dichterischen und Gedicht.
Die (eingestandene) Gesellschaftsferne ist der Preis des Autors für seine Naturnähe. Das Buch setzt ein mit genauen und doch poetischen Landschaftsbildern: "Immer öfter fahren Nebelschiffe ein in die bewaldeten Buchten und Schneisen der Hügelausläufer." Von vergnüglicher Anschaulichkeit ist seine Prosa, wenn er Wörter oder Begriffe mit Naturgleichnissen erläutert. Überhaupt ist die Prosa stärker in der erzählenden Darstellung als in der Reflexion. Unter sein Niveau geht Aigner, wenn er Descartes' Satz "Ich denke, also bin ich" abfertigt, ohne seinen philosophischen Voraussetzungen gerecht zu werden.
In dem Paradoxon von den "Scheuklappen der Erkenntnis" faßt Aigner seine Abwehr analytischer Methoden zusammen. Ironisch-spielerisch demontiert er diese Interpretation im Gleichnis vom "lebendigen Leib der Dichtung", der in der Universitätsklinik von einem medizinischen Fach zum anderen weitergereicht wird. Aigners Rede vom "Gedichtwesen" und seine Entgegensetzung von "Kunst" und "Gedicht" neigen zu Mystifizierungen. Immerhin lockert sich am Ende das Verdikt gegen logische Elemente der Dichtung und der Interpretation, wenn den "Fermenten Zweifel und Selbstkritik" ein Recht eingeräumt wird.
Den tieferen Grund für sein Mißtrauen gegen die Analyse verrät Aigner, wenn er Definitionsversuche der modernen Linguistik zitiert, so die folgende: "Die ästhetische Botschaft eines Werks ist die Semantizität der polyfunktionalen Präsentation wahrnehmbarer Konstituenten in nicht deliminativen Kontexten." In der Tat, solche Schreckschüsse können einen Dichter, dem Verse "Lebewesen" sind, zurücktreiben in die Wälder.
WALTER HINCK
Christoph Wilhelm Aigner: "Engel der Dichtung". Eine Lesereise. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2000. 158 S., geb., 32,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Hans Jürgen Balmes scheint in diesem Band nicht viel Neues über Gedichtinterpretationen erfahren zu haben. Denn nach Aigner kann man Gedichten "genauso wenig ins Herz schauen (...) wie einem Frosch in den Kopf", womit die Diskussion um Interpretation nach Balmes schon gleich wieder beendet ist. Ansonsten enthält der Band, wie der Leser erfährt, Landschaftsbeschreibungen, Aphorismen und "pathetische Selbstbeschreibungen". Äußerst widersprüchlich findet der Rezensent, was Aigner über das Reimen sagt. So halte der Autor Reime einerseits für 'Äußerlichkeiten', andererseits für "manchmal direkt 'vorgeschrieben'", und dann erläutert er wieder seine eigenen Reime, wie der Rezensent verwundert feststellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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