Dass sie schon morgen sterben werden, wissen die Menschen natürlich nicht. Engel wissen, dass es so kommen wird, und versuchen - ganz pragmatisch - ein letztes Mal zu helfen. Denn jede kleine Freude und die Liebe machen das menschliche Leben ein wenig erträglicher - davon sind die Engel des letzten Tages, die der Autor in seinem neuen Roman bei der Arbeit beobachtet, felsenfest überzeugt. Mit großem Einfühlungsvermögen erzählt Michal Viewegh, in Tschechien ein Bestsellerautor, von den überirdischen Beschützern am Himmel über Prag, zu deren Pflichtausstattung Flügel längst nicht mehr gehören.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2010Der Himmel über Prag
Mors certa, hora incerta: Michal Vieweghs neues Buch
Der Schriftsteller David Wagner hat gerade im "Merkur" ein glänzendes Feuilleton über die Umwege geschrieben, die Bücher zu ihren Lesern finden lassen. Auch im Falle des Tschechen Michal Viewegh kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie und warum ich ihn entdeckte; der Titel seiner "Geschichten über Sex und Ehe" (F.A.Z. vom 17. Juli 2004) mag mich irgendwie angesprochen haben. Das war ein Roman aus Kurzgeschichten mit derselben Hauptfigur, vergleichbar Updikes Episoden aus dem Eheleben der Maples ("Der weite Weg zu zweit") - nur dass Vieweghs Held eben mit Scheidung und donjuaneskem Single-Dasein den kompletten Vollwaschgang zeitgenössischen Großstadtliebeslebens absolvierte, Schleudern und Trocknen inbegriffen.
Der neue Roman Vieweghs bedient sich eines konventionellen Grundeinfalls. Die titelgebenden "Engel des letzten Tages" sind tatsächlich übersinnliche Wesen, deren Mission darin besteht, Todgeweihten den Abschied zu versüßen, hier dem Fahrlehrer Karol, der bei einem Autounfall sterben wird. Karels Ehe ist in spießiger Alltäglichkeit versunken, und so versuchen die vier, durch subtile Manipulationen einen letzten zärtlichen oder wenigstens nostalgischen Moment zwischen den einander längst entfremdeten Eheleuten zu ermöglichen.
Das Engelsquartett, das sich auch kapitelweise die Erzählstimme teilt, erscheint halb wie eine hollywoodreife Superhelden-Taskforce, halb wie ausgebrannte und zynische Angestellte einer willkürlichen Himmelsbürokratie auf Dienstreise. Retten können sie niemanden. Je nach Berufserfahrung haben sie sich mehr oder weniger mit dieser Ohnmacht abgefunden, die durch ihre Allwissenheit nur umso frustrierender wird. Spannung erzeugt Viewegh durch die Rekonstruktion des Unfallhergangs; dem Leser sind nur Faktum und Zeitpunkt, nicht die genauen Umstände des Todes bekannt. In dieses Gerüst sich kreuzender Biographien baut Viewegh dann jene Gedanken über den Sinn des Lebens ein, die schon seine früheren Bücher aus dem Regal bloß witziger und kluger Unterhaltungsliteratur hinaushoben.
Die eigentliche Hauptfigur ist die Ärztin Ester, Fahrschülerin Karels an diesem fatalen Tag, deren Mann Tomás, kaum vierzig, kurz zuvor an Krebs starb. Esters Trauer und die immer wieder andrängenden Erinnerungen bilden den Kontrapunkt zu den banalen Verrichtungen der anderen, die von ihrem Ende nichts ahnen: "Mach aus deiner Vernunftgläubigkeit kein goldenes Kalb, erklärte sie ihm. Das Leben ist ein Geheimnis, das gelebt werden will, und kein Problem, das gelöst werden muss." Ester nahm Tomás aus dem Hospiz nach Haus, um ihn bis zuletzt zu pflegen. Sie ist der wirkliche, der wahre "Engel des letzten Tages". Doch für die meisten Menschen ist diese Stunde eben ungewiss. Dieses kleine, weise Buch bringt direkt aus dem Jenseits eine schlichte Botschaft mit, die praktischerweise ganz unabhängig davon ist, ob es überhaupt eines gibt: Lebe jeden Tag, als wäre es der letzte.
RICHARD KÄMMERLINGS
Michal Viewegh: "Engel des letzten Tages". Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Deuticke Verlag, Wien 2010. 128 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mors certa, hora incerta: Michal Vieweghs neues Buch
Der Schriftsteller David Wagner hat gerade im "Merkur" ein glänzendes Feuilleton über die Umwege geschrieben, die Bücher zu ihren Lesern finden lassen. Auch im Falle des Tschechen Michal Viewegh kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wie und warum ich ihn entdeckte; der Titel seiner "Geschichten über Sex und Ehe" (F.A.Z. vom 17. Juli 2004) mag mich irgendwie angesprochen haben. Das war ein Roman aus Kurzgeschichten mit derselben Hauptfigur, vergleichbar Updikes Episoden aus dem Eheleben der Maples ("Der weite Weg zu zweit") - nur dass Vieweghs Held eben mit Scheidung und donjuaneskem Single-Dasein den kompletten Vollwaschgang zeitgenössischen Großstadtliebeslebens absolvierte, Schleudern und Trocknen inbegriffen.
Der neue Roman Vieweghs bedient sich eines konventionellen Grundeinfalls. Die titelgebenden "Engel des letzten Tages" sind tatsächlich übersinnliche Wesen, deren Mission darin besteht, Todgeweihten den Abschied zu versüßen, hier dem Fahrlehrer Karol, der bei einem Autounfall sterben wird. Karels Ehe ist in spießiger Alltäglichkeit versunken, und so versuchen die vier, durch subtile Manipulationen einen letzten zärtlichen oder wenigstens nostalgischen Moment zwischen den einander längst entfremdeten Eheleuten zu ermöglichen.
Das Engelsquartett, das sich auch kapitelweise die Erzählstimme teilt, erscheint halb wie eine hollywoodreife Superhelden-Taskforce, halb wie ausgebrannte und zynische Angestellte einer willkürlichen Himmelsbürokratie auf Dienstreise. Retten können sie niemanden. Je nach Berufserfahrung haben sie sich mehr oder weniger mit dieser Ohnmacht abgefunden, die durch ihre Allwissenheit nur umso frustrierender wird. Spannung erzeugt Viewegh durch die Rekonstruktion des Unfallhergangs; dem Leser sind nur Faktum und Zeitpunkt, nicht die genauen Umstände des Todes bekannt. In dieses Gerüst sich kreuzender Biographien baut Viewegh dann jene Gedanken über den Sinn des Lebens ein, die schon seine früheren Bücher aus dem Regal bloß witziger und kluger Unterhaltungsliteratur hinaushoben.
Die eigentliche Hauptfigur ist die Ärztin Ester, Fahrschülerin Karels an diesem fatalen Tag, deren Mann Tomás, kaum vierzig, kurz zuvor an Krebs starb. Esters Trauer und die immer wieder andrängenden Erinnerungen bilden den Kontrapunkt zu den banalen Verrichtungen der anderen, die von ihrem Ende nichts ahnen: "Mach aus deiner Vernunftgläubigkeit kein goldenes Kalb, erklärte sie ihm. Das Leben ist ein Geheimnis, das gelebt werden will, und kein Problem, das gelöst werden muss." Ester nahm Tomás aus dem Hospiz nach Haus, um ihn bis zuletzt zu pflegen. Sie ist der wirkliche, der wahre "Engel des letzten Tages". Doch für die meisten Menschen ist diese Stunde eben ungewiss. Dieses kleine, weise Buch bringt direkt aus dem Jenseits eine schlichte Botschaft mit, die praktischerweise ganz unabhängig davon ist, ob es überhaupt eines gibt: Lebe jeden Tag, als wäre es der letzte.
RICHARD KÄMMERLINGS
Michal Viewegh: "Engel des letzten Tages". Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Deuticke Verlag, Wien 2010. 128 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
So konventionell Richard Kämmerlings die Grundidee (Engel auf Erdenmission) des neuen Romans von Michal Viewegh auch findet, so überraschend spannend wird's dann doch für ihn, wenn der Autor Biografien und Schicksale sich kreuzen und Gedanken über den Lebenssinn einfließen lässt. Dass die vielstimmige Cherubimschar dem Rezensenten teils wie Charlys Engel, teils wie Himmelsbeamtinnen erscheinen, nimmt er hin und freut sich an dem "kleinen, weisen" Buch mit der einfachen, doch bei Kämmerlings einschlagenden Message: Carpe Diem.
© Perlentaucher Medien GmbH
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