«Ein grausiger Mord geschieht, keiner kennt den Mörder, aber jeder weiß von einer offenen Hintertür und Spuren im Schnee ... Stewart O'Nan spürt die großen Tragödien menschlicher Verstrickungen auf. Meisterhaft beschreibt er kleine Demütigungen und Mißverständnisse im täglichen Leben, unerfüllte Hoffnungen rund um Liebe und Leid, die zu Dramen eskalieren. Sein spannendes Erzählwerk ist zum Heulen traurig und voller Schönheit, seine Sprache genau und von bestechendem Charme. Die literarische Szene ist um einen exzellenten Erzähler reicher geworden.» (Der Spiegel)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.1997Der Versager
Stewart O'Nans "Engel im Schnee" · Von Thomas Steinfeld
In seinem Debütroman "Engel im Schnee" erzählt Stewart O'Nan eine Geschichte, die im Spätherbst 1974 in Butler, einer Kleinstadt im Westen Pennsylvanias, spielt. "Es gibt nicht viel zu sehen, das Geschäftsviertel, das sich dort konzentriert, wo die Route 8 zur Main Street wird, dann die Brücke, die Bahngleise, die sich am Connoquenessing entlangschlängeln, die blauen Blocks der Armco-Fabrik Straßen kreuzen und verbinden sich, Wälder teilen sich säuberlich, um die Überlandleitungen durchzulassen." In dieser Stadt geschieht ein Mord, und erst am Ende des Romans erfährt man, wer der Mörder ist. Geahnt hat man es längst. Denn diese amerikanische Provinz ist plan, und was immer dort passiert, scheint nach einem archaischen Muster einfach geradeaus und abwärts zu laufen. Es verbirgt sich in ihr kein Geheimnis des Banalen wie noch in David Lynchs "Twin Peaks". Dennoch erscheint sie ihren Bewohnern wie ein Rätsel. Aber das liegt daran, daß ihnen jede Distanz zu dem Schicksal fehlt, das ihnen widerfährt.
In der Geschichte steckt eine Seifenoper, wenn es denn noch Melodramen gäbe, die am Rand des Existenzminimums spielten. Da ist der langhaarige Arthur Parkinson, vierzehn Jahre alt, Posaunist in der Blaskapelle seiner High School. Seine Eltern lassen sich scheiden, weil der Vater den Seitensprung der Mutter nicht verzeihen will. Später will der Vater zur Familie zurück, aber jetzt will die Mutter nicht mehr. Da ist die hübsche Annie Marchand, die früher auf den kleinen Arthur aufgepaßt hat. Sie arbeitet als Serviererin im Country Club und ist mit Glenn verheiratet. Aber sie hat ihn verlassen, als er arbeitslos wurde und vor dem Fernseher in Dosenbier und Trübsal versank. Barb ist ihre Freundin, aber Annie betrügt sie mit ihrem Mann Brock. Und dann gibt es noch Tara, die kleine Tochter von Annie und Glenn. Sie ertrinkt, als sie, für eine halbe Stunde allein gelassen, auf den zugefrorenen Teich läuft. Erzählt werden diese Geschichten mit großer Akribie, die sich ganz auf das konzentriert, was man mit Augen und Ohren wahrnehmen kann. Es ist, als wolle der Autor hinter die Anfänge der Psychologie zurückkehren.
So fugenlos ist die amerikanische Provinz mit dem Unglück verbunden, daß Furcht und Mitleid keinen Halt finden. Nur Arthur, der kleine Posaunist, entkommt dem Schrecken, und aus seiner Perspektive ist einer großer Teil des Romans erzählt. Zu Beginn der Geschichte kehrt er, erwachsen geworden, nach Butler zurück, um das Weihnachtsfest bei seiner Mutter zu verbringen. Tatsächlich kommt hier keiner auf den Gedanken, die Stadt zu verlassen, um woanders sein Glück zu machen. Es ist Winter, der Schnee fällt auf die Stadt, auf der Schnellstraße dröhnen die Sattelschlepper vorbei, und Pittsburgh, zwanzig Meilen südlich gelegen, ist so weit entfernt, daß es ebensogut in New Mexico liegen könnte. Butler ist eine Insel. Um sie herum ist das Nichts, und die Romangestalten irren, in tausend Halbheiten verstrickt, darauf umher, als seien sie Figuren in einem Albtraum oder als habe ein Fluch sie an diesen Ort gebannt.
Dieser Fluch ist durch und durch amerikanisch. Amerikanisch ist auch die Angewohnheit, jedes Ding nur als eingetragenes Warenzeichen zu kennen. Aber auch wenn der deutsche Leser bei den vielen Mavericks, Furys, Chargers, Bonnevilles, Darts und Novas keine Vorstellung davon hat, ist ihm doch klar, daß sie in einem geschlossenen Universum herumfahren, in dem jedes Ding seinen Namen, seinen Platz und vor allem seinen Wert hat. Amerikanisch ist die Gewißheit, daß jeder sein Schicksal allein zu tragen hat. Wenn einer unter dieser Last zusammenbricht, heißt es "dumm gelaufen" - "it didn't work".
Wenn die alten Romane vom Aufstieg ihrer Helden erzählten, berichteten sie zugleich vom Untergang einer Klasse. Bei Balzac versank der Adel, und bei Faulkner verkamen die Gutsbesitzer des amerikanischen Südens. Viele Etagen tiefer und einige Generationen später, läßt Stewart O'Nan die Kleinbürger und Handwerker untergehen, und mit ihnen geht die Hoffnung. Die Söhne werden Gelegenheitsarbeiter, sie leeren die Bettpfannen im Altersheim, der alte Triumph, das Schmuckstück der Familie, wird verkauft, um die Zahnspangen für die Tochter zu bezahlen. Das klingt kitschig. Der Kitsch braucht nur einen Spalt, um darin seine Rostblüten zu züchten, und Stewart O'Nan verwendet sein ganzes Geschick darauf, die Oberfläche seiner Geschichte so zu schmirgeln wie einen alten Kotflügel, der neu lackiert werden muß: "Das ist nichts, worüber man nachdenken kann."
Das heißt auch: Wenn das Böse erst einmal da ist, verbreitet es sich überall. Aber noch irritierender als die Allgegenwart des Bösen ist die Abwesenheit des Guten. Jeder Fehltritt, jede Halbherzig- oder Nachlässigkeit ist noch lange sichtbar. Jede Abweichung ist wie eine Spur, die nicht verweht. Und kein gütiger Geist kommt und bringt die Welt wieder in Ordnung. Was hat Glenn getan, daß Annie ihn hinauswirft? Er war zu nett und zu traurig. Was hat Annie getan, als sie Glenn und ihre Freundin Barb betrog? Sie hat auf einer Party mit Brock im Badezimmer gestanden, weil das kalte Bier in der Wanne lag, und dann haben sie in fremden Körpern nach einem matten Abglanz des Glücks gesucht. Und was war der Anlaß für Taras Tod? Daß Annie erkältet war und auf dem Sofa einschlief. Wo der Mensch schwach wird, stellt das Böse sich ein. Und umgekehrt.
Die Logik des Mißlingens ist zu einem beliebten Thema geworden, und um sie darstellbar zu machen, muß man die weite Welt der Moral auf einen kleinen Punkt reduzieren. Vor kurzem lief der Film "Fargo" der Brüder Joel und Ethan Coen in den Kinos. Auch er spielt in einer gottverlassenen Landschaft, in der die Spuren im Schnee entsetzlich lange zu sehen sind, und auch dort kann jeder Fehltritt einen Tod nach sich ziehen. Der Film inszeniert das große Sterben wie Nummern aus einer Slapstick-Revue, während das Buch still und ernst ist. Aber beide Werke inszenieren ihre Welten, als gäbe es eine direkte Verbindung zwischen den Vereinigten Staaten und dem Alten Testament. Weit und breit ist kein Gerechter zu finden, und alle Verheißungen, seien es die der Religion oder die der Vernunft, erscheinen wie Verrat. "O laß der Gottlosen Bosheit ein Ende werden und fördere die Gerechten", murmelt Glenn am Ende. Und dann: "Ich habe diese Scheiße satt, und ich will, daß sie vorbei ist." Glenn wird zum Vollstrecker.
Aber wenn Glenn die biblischen Worte ausspricht, klingen sie fremd, und seine Umgebung versteht sie nicht. Überhaupt hat keine dieser Gestalten eine Sprache für das, was ihr widerfährt. In den Häusern läuft pausenlos der Fernseher, auch in den Motelzimmern beim Ehebruch. Die Zeit wird in den Intervallen gemessen, die durch "All My Children", "Chiller Theatre" oder "General Hospital" gesetzt werden. Aber das Fernsehen ist wie das weiße Rauschen, das schon Ewigkeiten währt. Es ist einfach da, und diese Serien, die doch in Millionen Haushalten gleichartige Erfahrungen schaffen, scheinen die einzelnen Menschen nicht zu erreichen. Man glaubt ja gerne, daß durch die Allgegenwart des Fernsehens auch ein uniformes Verhalten entstehe. Ganz unaufdringlich erzählt Stewart O'Nan, daß diese Vermutung falsch ist. Das Fernsehen mag zwar einen Bogen von Küste zu Küste spannen, man mag es sogar vermissen, wenn es einmal nicht läuft. Aber zwischen dem Medium, das alles umfaßt, und dem einzelnen, der nur für sich steht, gibt es keine Verbindungen mehr. Unter dem Netz, das durch die elektronische Öffentlichkeit geknüpft wird, wächst ein dunkler Raum, in dem sich die Welt nicht als Kontinuum wahrnehmen läßt.
Nur mit der Musik ist das anders. Dem Roman "Engel im Schnee" ist eine Tonspur unterlegt, und der Autor wird nicht müde, die Musiker beim Namen zu nennen, die Titel ihrer Lieder zu zitieren und sogar ganze Passagen anzuführen: Im Radio laufen Steely Dans "Reelin' in the years" oder "Ramblin' Man" von den Allman Brothers. Es sind immer dieselben Lieder, und mit ihnen ist man vertraut bis zum letzten Ton. Und wenn Glenn Auto fährt, hört er Cat Stevens: "Oooh baby baby it's a wild world. It's hard to get by just upon a smile". Das sind geborgte Weisheiten, aber sie werden nicht so empfunden. Ein jeder hat seine Lebensmelodie, sie wird auf der Grenze zwischen der Wirklichkeit und dem Tagtraum gespielt.
Es ist selten geworden, daß ein Roman so genau ist, so präzise beschreibt, daß er seinen Gegenstand zu ergreifen scheint, anstatt ihn zu erschaffen. Das verlangt vom Autor handwerkliches Geschick, einen Beobachter, der wie beiläufig hinschauen kann, und also sehr viel Bescheidenheit. Es dauert eine ganze Weile, bis der Leser bemerkt, daß Stewart O'Nan aus zwei Perspektiven erzählt. Die eine gehört Annie und Glenn, steht in der dritten Person und im Präsens, denn Annie und Glenn haben keine Vergangenheit und keine Zukunft. Die andere gehört Arthur. Er erinnert sich. Er benutzt das Präteritum, und als er das Ende seiner Geschichte erreicht, ist auch das große Sterben überwunden. Die Vergangenheitsform, die Erinnerung ist eine Befreiung. Das ist vielleicht das Ungewöhnlichste an diesem Roman, einem der wichtigsten der Saison, daß hier mit der Archaik des Schreckens auch dessen läuternde Kraft wiederkehrt.
Stewart O'Nan: "Engel im Schnee". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997. 256 S., geb., 38,- DM.
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Stewart O'Nans "Engel im Schnee" · Von Thomas Steinfeld
In seinem Debütroman "Engel im Schnee" erzählt Stewart O'Nan eine Geschichte, die im Spätherbst 1974 in Butler, einer Kleinstadt im Westen Pennsylvanias, spielt. "Es gibt nicht viel zu sehen, das Geschäftsviertel, das sich dort konzentriert, wo die Route 8 zur Main Street wird, dann die Brücke, die Bahngleise, die sich am Connoquenessing entlangschlängeln, die blauen Blocks der Armco-Fabrik Straßen kreuzen und verbinden sich, Wälder teilen sich säuberlich, um die Überlandleitungen durchzulassen." In dieser Stadt geschieht ein Mord, und erst am Ende des Romans erfährt man, wer der Mörder ist. Geahnt hat man es längst. Denn diese amerikanische Provinz ist plan, und was immer dort passiert, scheint nach einem archaischen Muster einfach geradeaus und abwärts zu laufen. Es verbirgt sich in ihr kein Geheimnis des Banalen wie noch in David Lynchs "Twin Peaks". Dennoch erscheint sie ihren Bewohnern wie ein Rätsel. Aber das liegt daran, daß ihnen jede Distanz zu dem Schicksal fehlt, das ihnen widerfährt.
In der Geschichte steckt eine Seifenoper, wenn es denn noch Melodramen gäbe, die am Rand des Existenzminimums spielten. Da ist der langhaarige Arthur Parkinson, vierzehn Jahre alt, Posaunist in der Blaskapelle seiner High School. Seine Eltern lassen sich scheiden, weil der Vater den Seitensprung der Mutter nicht verzeihen will. Später will der Vater zur Familie zurück, aber jetzt will die Mutter nicht mehr. Da ist die hübsche Annie Marchand, die früher auf den kleinen Arthur aufgepaßt hat. Sie arbeitet als Serviererin im Country Club und ist mit Glenn verheiratet. Aber sie hat ihn verlassen, als er arbeitslos wurde und vor dem Fernseher in Dosenbier und Trübsal versank. Barb ist ihre Freundin, aber Annie betrügt sie mit ihrem Mann Brock. Und dann gibt es noch Tara, die kleine Tochter von Annie und Glenn. Sie ertrinkt, als sie, für eine halbe Stunde allein gelassen, auf den zugefrorenen Teich läuft. Erzählt werden diese Geschichten mit großer Akribie, die sich ganz auf das konzentriert, was man mit Augen und Ohren wahrnehmen kann. Es ist, als wolle der Autor hinter die Anfänge der Psychologie zurückkehren.
So fugenlos ist die amerikanische Provinz mit dem Unglück verbunden, daß Furcht und Mitleid keinen Halt finden. Nur Arthur, der kleine Posaunist, entkommt dem Schrecken, und aus seiner Perspektive ist einer großer Teil des Romans erzählt. Zu Beginn der Geschichte kehrt er, erwachsen geworden, nach Butler zurück, um das Weihnachtsfest bei seiner Mutter zu verbringen. Tatsächlich kommt hier keiner auf den Gedanken, die Stadt zu verlassen, um woanders sein Glück zu machen. Es ist Winter, der Schnee fällt auf die Stadt, auf der Schnellstraße dröhnen die Sattelschlepper vorbei, und Pittsburgh, zwanzig Meilen südlich gelegen, ist so weit entfernt, daß es ebensogut in New Mexico liegen könnte. Butler ist eine Insel. Um sie herum ist das Nichts, und die Romangestalten irren, in tausend Halbheiten verstrickt, darauf umher, als seien sie Figuren in einem Albtraum oder als habe ein Fluch sie an diesen Ort gebannt.
Dieser Fluch ist durch und durch amerikanisch. Amerikanisch ist auch die Angewohnheit, jedes Ding nur als eingetragenes Warenzeichen zu kennen. Aber auch wenn der deutsche Leser bei den vielen Mavericks, Furys, Chargers, Bonnevilles, Darts und Novas keine Vorstellung davon hat, ist ihm doch klar, daß sie in einem geschlossenen Universum herumfahren, in dem jedes Ding seinen Namen, seinen Platz und vor allem seinen Wert hat. Amerikanisch ist die Gewißheit, daß jeder sein Schicksal allein zu tragen hat. Wenn einer unter dieser Last zusammenbricht, heißt es "dumm gelaufen" - "it didn't work".
Wenn die alten Romane vom Aufstieg ihrer Helden erzählten, berichteten sie zugleich vom Untergang einer Klasse. Bei Balzac versank der Adel, und bei Faulkner verkamen die Gutsbesitzer des amerikanischen Südens. Viele Etagen tiefer und einige Generationen später, läßt Stewart O'Nan die Kleinbürger und Handwerker untergehen, und mit ihnen geht die Hoffnung. Die Söhne werden Gelegenheitsarbeiter, sie leeren die Bettpfannen im Altersheim, der alte Triumph, das Schmuckstück der Familie, wird verkauft, um die Zahnspangen für die Tochter zu bezahlen. Das klingt kitschig. Der Kitsch braucht nur einen Spalt, um darin seine Rostblüten zu züchten, und Stewart O'Nan verwendet sein ganzes Geschick darauf, die Oberfläche seiner Geschichte so zu schmirgeln wie einen alten Kotflügel, der neu lackiert werden muß: "Das ist nichts, worüber man nachdenken kann."
Das heißt auch: Wenn das Böse erst einmal da ist, verbreitet es sich überall. Aber noch irritierender als die Allgegenwart des Bösen ist die Abwesenheit des Guten. Jeder Fehltritt, jede Halbherzig- oder Nachlässigkeit ist noch lange sichtbar. Jede Abweichung ist wie eine Spur, die nicht verweht. Und kein gütiger Geist kommt und bringt die Welt wieder in Ordnung. Was hat Glenn getan, daß Annie ihn hinauswirft? Er war zu nett und zu traurig. Was hat Annie getan, als sie Glenn und ihre Freundin Barb betrog? Sie hat auf einer Party mit Brock im Badezimmer gestanden, weil das kalte Bier in der Wanne lag, und dann haben sie in fremden Körpern nach einem matten Abglanz des Glücks gesucht. Und was war der Anlaß für Taras Tod? Daß Annie erkältet war und auf dem Sofa einschlief. Wo der Mensch schwach wird, stellt das Böse sich ein. Und umgekehrt.
Die Logik des Mißlingens ist zu einem beliebten Thema geworden, und um sie darstellbar zu machen, muß man die weite Welt der Moral auf einen kleinen Punkt reduzieren. Vor kurzem lief der Film "Fargo" der Brüder Joel und Ethan Coen in den Kinos. Auch er spielt in einer gottverlassenen Landschaft, in der die Spuren im Schnee entsetzlich lange zu sehen sind, und auch dort kann jeder Fehltritt einen Tod nach sich ziehen. Der Film inszeniert das große Sterben wie Nummern aus einer Slapstick-Revue, während das Buch still und ernst ist. Aber beide Werke inszenieren ihre Welten, als gäbe es eine direkte Verbindung zwischen den Vereinigten Staaten und dem Alten Testament. Weit und breit ist kein Gerechter zu finden, und alle Verheißungen, seien es die der Religion oder die der Vernunft, erscheinen wie Verrat. "O laß der Gottlosen Bosheit ein Ende werden und fördere die Gerechten", murmelt Glenn am Ende. Und dann: "Ich habe diese Scheiße satt, und ich will, daß sie vorbei ist." Glenn wird zum Vollstrecker.
Aber wenn Glenn die biblischen Worte ausspricht, klingen sie fremd, und seine Umgebung versteht sie nicht. Überhaupt hat keine dieser Gestalten eine Sprache für das, was ihr widerfährt. In den Häusern läuft pausenlos der Fernseher, auch in den Motelzimmern beim Ehebruch. Die Zeit wird in den Intervallen gemessen, die durch "All My Children", "Chiller Theatre" oder "General Hospital" gesetzt werden. Aber das Fernsehen ist wie das weiße Rauschen, das schon Ewigkeiten währt. Es ist einfach da, und diese Serien, die doch in Millionen Haushalten gleichartige Erfahrungen schaffen, scheinen die einzelnen Menschen nicht zu erreichen. Man glaubt ja gerne, daß durch die Allgegenwart des Fernsehens auch ein uniformes Verhalten entstehe. Ganz unaufdringlich erzählt Stewart O'Nan, daß diese Vermutung falsch ist. Das Fernsehen mag zwar einen Bogen von Küste zu Küste spannen, man mag es sogar vermissen, wenn es einmal nicht läuft. Aber zwischen dem Medium, das alles umfaßt, und dem einzelnen, der nur für sich steht, gibt es keine Verbindungen mehr. Unter dem Netz, das durch die elektronische Öffentlichkeit geknüpft wird, wächst ein dunkler Raum, in dem sich die Welt nicht als Kontinuum wahrnehmen läßt.
Nur mit der Musik ist das anders. Dem Roman "Engel im Schnee" ist eine Tonspur unterlegt, und der Autor wird nicht müde, die Musiker beim Namen zu nennen, die Titel ihrer Lieder zu zitieren und sogar ganze Passagen anzuführen: Im Radio laufen Steely Dans "Reelin' in the years" oder "Ramblin' Man" von den Allman Brothers. Es sind immer dieselben Lieder, und mit ihnen ist man vertraut bis zum letzten Ton. Und wenn Glenn Auto fährt, hört er Cat Stevens: "Oooh baby baby it's a wild world. It's hard to get by just upon a smile". Das sind geborgte Weisheiten, aber sie werden nicht so empfunden. Ein jeder hat seine Lebensmelodie, sie wird auf der Grenze zwischen der Wirklichkeit und dem Tagtraum gespielt.
Es ist selten geworden, daß ein Roman so genau ist, so präzise beschreibt, daß er seinen Gegenstand zu ergreifen scheint, anstatt ihn zu erschaffen. Das verlangt vom Autor handwerkliches Geschick, einen Beobachter, der wie beiläufig hinschauen kann, und also sehr viel Bescheidenheit. Es dauert eine ganze Weile, bis der Leser bemerkt, daß Stewart O'Nan aus zwei Perspektiven erzählt. Die eine gehört Annie und Glenn, steht in der dritten Person und im Präsens, denn Annie und Glenn haben keine Vergangenheit und keine Zukunft. Die andere gehört Arthur. Er erinnert sich. Er benutzt das Präteritum, und als er das Ende seiner Geschichte erreicht, ist auch das große Sterben überwunden. Die Vergangenheitsform, die Erinnerung ist eine Befreiung. Das ist vielleicht das Ungewöhnlichste an diesem Roman, einem der wichtigsten der Saison, daß hier mit der Archaik des Schreckens auch dessen läuternde Kraft wiederkehrt.
Stewart O'Nan: "Engel im Schnee". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997. 256 S., geb., 38,- DM.
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Ein erschütternder Roman, nicht cool, sondern mit sehr viel Gefühl geschrieben. Er hat ein sehr wichtiges Element: er ist glaubwürdig. Marcel Reich-Ranicki