Nach etlichen Geburtswehen in der Folge des Ersten Weltkriegs wurde am 1. Mai 1920 das Land Thüringen gegründet. Es war ein Zusammenschluss der bisherigen Freistaaten Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen sowie des Volksstaates Reuß. Damit endete für die Region eine jahrhundertelange Ära starker territorialer Zersplitterung. Der Gründung voraus gingen zähe Verhandlungen über eine "große" oder eine "kleine" Lösung; letztlich kamen einige Territorien nicht zu dem neuen Land und blieben preußische Inseln in Thüringen. Dieser Band bietet eine umfassende und leicht lesbare Einführung in die Entstehungsprozesse des Landes vor 100 Jahren. Er ordnet das Geschehen in deutschlandweite Debatten zum Föderalismus ein, thematisiert konkurrierende Thüringenbilder und wesentliche Akteure wie die politischen Parteien und die Kirchen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.04.2020Als Weimar Hauptstadt wurde
Aus sieben Freistaaten entstand am 1. Mai 1920 das Land Thüringen. Ein Sammelband erhellt die Neugründung vor 100 Jahren
Schon im Kaiserreich war der „Thüringer Kleinstaatenjammer“, wie ein Sozialdemokrat es nannte, beklagt worden, aber territorialer Neuordnung standen die Interessen der Herrscher von Sachsen-Weimar-Eisenach, Schwarzburg-Rudolstadt, Sachsen-Coburg und Gotha und so weiter entgegen. Thüringen, das waren damals acht monarchische Kleinstaaten und einige zu Preußen gehörende Gebiete, etwa der Regierungsbezirk Erfurt. In keinem der Staaten lebten mehr als 500000 Menschen, die meisten zählten deutlich weniger Einwohner als etwa Charlottenburg, und so klagte der Macht gern vergötzende Historiker Heinrich von Treitschke: „Unsere Cultur verdankt ihnen unsäglich viel, unser Staat gar nichts“.
Aber erst im Augenblick des Neubeginns, nach dem verlorenen Krieg und den Revolutionen des Novembers 1918, setzten Politiker fast aller Parteien das Projekt Thüringen auf die Tagesordnung. Inmitten der tumultuösen Nachkriegsmonate einigten sie sich, organisierten Mehrheiten. Und am 23. April 1920 beschloss dann die noch junge Nationalversammlung, der in dieser Sache das letzte Wort zukam, mit Stimmen aus allen Parteien: „Die Länder Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Reuß, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Gotha (Sachsen-Koburg-Gotha ohne das Gebiet von Koburg), Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen werden mit Wirkung vom 1. Mai zu einem Lande vereinigt“.
In dieser Woche hätte Thüringen also Jubiläum gefeiert. Wenn auch alle Veranstaltungen abgesagt werden mussten, gibt es doch die interessante Webseite www.thueringen100.de, auf der Tag für Tag Dokumente aus dem Jahr 1920 veröffentlicht werden, und den faktenreichen Sammelband „Engere Heimat“ über die Gründung Thüringens und seine politische Kultur. Der Titel ist einer Rede des Reichspräsidenten Friedrich Ebert entlehnt. Im August 1919 beschwor er in Weimar den Wiederaufbau des Vaterlandes und hoffte, es werde sich der „Widerspruch zwischen Gesamtheit und Einzelstaat“ lösen, dann werde „die engere Heimat zur Quelle unserer Kraft und die weitere, die große Heimat, zum Ziel und Kern unserer Arbeit!“
Die Geschichte der Weimarer Republik begann, wie schon Zeitgenossen registrierten, mit „25 Einzelrevolutiönchen“. Fürst Günther Victor etwa dankte als letzter der deutschen Bundesfürsten erst am 23. November in Schwarzburg-Rudolstadt und zwei Tage später in Schwarzburg-Sonderhausen ab.
Anfangs gab es auch in Berlin sehr vernünftig klingende Pläne, das gewaltige Preußen, das zwei Drittel der Fläche und der Bevölkerung des Reiches umfasste, neu zu ordnen, es in Länder überschaubarer Größe aufzuteilen. Aber es wurde nichts daraus. Für Mitteldeutschland hieß dies, dass Erfurt und einige andere Gebietsteile, die man umworben hatte, preußisch blieben, während im nahen Weimar August Baudert, der Staatskommissar der Übergangsregierung von Sachsen-Weimar-Eisenach, und der Liberale Arnold Paulssen die Vereinigung der Kleinstaaten vorantrieben. In Coburg, seit 1826 in Union mit dem Herzogtum Sachsen-Gotha, wurden die Bürger, alle Männer und Frauen, die das 20. Lebensjahr vollendet hatten, befragt, ob sie sich dem Gemeinschaftsvertrag der thüringischen Länder anschließen wollten. 88 Prozent stimmten am 30. November 1919 dagegen. Es schien verlockender, sich dem „7-Millionenvolk“ der Bayern anzuschließen. Dass in der jungen Republik Gotha die recht radikalen Linken der USPD die absolute Mehrheit errungen hatten, dürfte die Absage an die Thüringer befördert haben.
Sehr detailliert beschreiben die Aufsätze des ersten Teils die Verhältnisse in den thüringischen Staaten und Gebieten, aber ohne solche Aufmerksamkeit auf das Kleinteilige, Zersplitterte ist deutsche Geschichte kaum angemessen zu verstehen. Es folgen interessante Überlegungen zur wesentlich von Eduard Rosenthal erarbeiteten Verfassung des neuen Landes und zur politischen Kultur in Thüringen wie der Weimarer Republik insgesamt. Man mag es beklagen, dass Preußen der dominierende Einzelstaat blieb, doch war er unter dem Sozialdemokraten Otto Braun bis zum Staatsstreich vom 20. Juli 1932 die demokratische Bastion der Republik. Dort bekämpfte man die NSDAP noch, als der später in Nürnberg verurteilte Wilhelm Frick bereits Staatsminister für Inneres und Volksbildung war.
Wenige Woche vor der Landesgründung stellten sich Reichswehroffiziere in Thüringen auf die Seite der Berliner Putschisten unter Kapp und Lüttwitz. Der Befehlshaber in Weimar setzte die linken thüringischen Regierungen ab. Dagegen wurde zum Generalstreik aufgerufen, Aktionsausschüsse aus Kommunisten und unabhängigen Sozialdemokraten setzten ihn vielerorts durch und gingen gern auch einen Schritt weiter in Richtung Räterepublik. Die Auseinandersetzungen forderten besonders viele Opfer, als nach dem Scheitern des Putsches, der erfolgreichen Verteidigung der Demokratie, Truppen und paramilitärische Verbände gegen die Arbeiter vorgingen und ihren Terror mit Beschwörung der „roten Gefahr“ rechtfertigten. Eine angemessene juristische Aufarbeitung der Morde und Übergriffe fand nicht statt.
Als die Abgeordneten des Landtags von Sachsen-Weimar-Eisenach am 26. März 1920 sich zum Gedenken an die Opfer der Gegenrevolution erhoben, blieben zwei Deutschnationale sitzen. Es sei ein Missverständnis gewesen, erklärten sie anschließend.
Das politische Klima litt auch darunter, dass im neuen Land die liberale DDP nur eine geringe, und die überwiegend katholische Zentrumspartei keine Rolle spielte. Sie waren es, die im Reich zwischen den Lagern vermittelten. In Thüringen fehlten die Kräfte zwischen den Blöcken oder waren zu schwach. Das „engere Vaterland“, so fassen Ronny Noak und Sebastian Elsbach ihre Betrachtung der politischen Landschaft zusammen, entpuppte sich als ein „Land der Extreme“.
JENS BISKY
Christian Faludi/Marc Bartuschka (Hrsg.): „Engere Heimat“. Die Gründung des Landes Thüringen 1920. Weimarer Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 2020. 408 Seiten, 18 Euro.
Ohne die Aufmerksamkeit auf das
Zersplitterte ist die deutsche
Geschichte kaum zu verstehen
Wahlwerbung der Mehrheits-Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (MSPD), 1919. Rechts: Otto Geithner, damals USPD, auf dem Hauptmarkt in Gotha am 1. Mai 1919.
Foto: Bundesarchiv/Verein für Stadtgeschichte Gotha/Abb. aus dem bespr. Band
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Aus sieben Freistaaten entstand am 1. Mai 1920 das Land Thüringen. Ein Sammelband erhellt die Neugründung vor 100 Jahren
Schon im Kaiserreich war der „Thüringer Kleinstaatenjammer“, wie ein Sozialdemokrat es nannte, beklagt worden, aber territorialer Neuordnung standen die Interessen der Herrscher von Sachsen-Weimar-Eisenach, Schwarzburg-Rudolstadt, Sachsen-Coburg und Gotha und so weiter entgegen. Thüringen, das waren damals acht monarchische Kleinstaaten und einige zu Preußen gehörende Gebiete, etwa der Regierungsbezirk Erfurt. In keinem der Staaten lebten mehr als 500000 Menschen, die meisten zählten deutlich weniger Einwohner als etwa Charlottenburg, und so klagte der Macht gern vergötzende Historiker Heinrich von Treitschke: „Unsere Cultur verdankt ihnen unsäglich viel, unser Staat gar nichts“.
Aber erst im Augenblick des Neubeginns, nach dem verlorenen Krieg und den Revolutionen des Novembers 1918, setzten Politiker fast aller Parteien das Projekt Thüringen auf die Tagesordnung. Inmitten der tumultuösen Nachkriegsmonate einigten sie sich, organisierten Mehrheiten. Und am 23. April 1920 beschloss dann die noch junge Nationalversammlung, der in dieser Sache das letzte Wort zukam, mit Stimmen aus allen Parteien: „Die Länder Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Reuß, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Gotha (Sachsen-Koburg-Gotha ohne das Gebiet von Koburg), Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen werden mit Wirkung vom 1. Mai zu einem Lande vereinigt“.
In dieser Woche hätte Thüringen also Jubiläum gefeiert. Wenn auch alle Veranstaltungen abgesagt werden mussten, gibt es doch die interessante Webseite www.thueringen100.de, auf der Tag für Tag Dokumente aus dem Jahr 1920 veröffentlicht werden, und den faktenreichen Sammelband „Engere Heimat“ über die Gründung Thüringens und seine politische Kultur. Der Titel ist einer Rede des Reichspräsidenten Friedrich Ebert entlehnt. Im August 1919 beschwor er in Weimar den Wiederaufbau des Vaterlandes und hoffte, es werde sich der „Widerspruch zwischen Gesamtheit und Einzelstaat“ lösen, dann werde „die engere Heimat zur Quelle unserer Kraft und die weitere, die große Heimat, zum Ziel und Kern unserer Arbeit!“
Die Geschichte der Weimarer Republik begann, wie schon Zeitgenossen registrierten, mit „25 Einzelrevolutiönchen“. Fürst Günther Victor etwa dankte als letzter der deutschen Bundesfürsten erst am 23. November in Schwarzburg-Rudolstadt und zwei Tage später in Schwarzburg-Sonderhausen ab.
Anfangs gab es auch in Berlin sehr vernünftig klingende Pläne, das gewaltige Preußen, das zwei Drittel der Fläche und der Bevölkerung des Reiches umfasste, neu zu ordnen, es in Länder überschaubarer Größe aufzuteilen. Aber es wurde nichts daraus. Für Mitteldeutschland hieß dies, dass Erfurt und einige andere Gebietsteile, die man umworben hatte, preußisch blieben, während im nahen Weimar August Baudert, der Staatskommissar der Übergangsregierung von Sachsen-Weimar-Eisenach, und der Liberale Arnold Paulssen die Vereinigung der Kleinstaaten vorantrieben. In Coburg, seit 1826 in Union mit dem Herzogtum Sachsen-Gotha, wurden die Bürger, alle Männer und Frauen, die das 20. Lebensjahr vollendet hatten, befragt, ob sie sich dem Gemeinschaftsvertrag der thüringischen Länder anschließen wollten. 88 Prozent stimmten am 30. November 1919 dagegen. Es schien verlockender, sich dem „7-Millionenvolk“ der Bayern anzuschließen. Dass in der jungen Republik Gotha die recht radikalen Linken der USPD die absolute Mehrheit errungen hatten, dürfte die Absage an die Thüringer befördert haben.
Sehr detailliert beschreiben die Aufsätze des ersten Teils die Verhältnisse in den thüringischen Staaten und Gebieten, aber ohne solche Aufmerksamkeit auf das Kleinteilige, Zersplitterte ist deutsche Geschichte kaum angemessen zu verstehen. Es folgen interessante Überlegungen zur wesentlich von Eduard Rosenthal erarbeiteten Verfassung des neuen Landes und zur politischen Kultur in Thüringen wie der Weimarer Republik insgesamt. Man mag es beklagen, dass Preußen der dominierende Einzelstaat blieb, doch war er unter dem Sozialdemokraten Otto Braun bis zum Staatsstreich vom 20. Juli 1932 die demokratische Bastion der Republik. Dort bekämpfte man die NSDAP noch, als der später in Nürnberg verurteilte Wilhelm Frick bereits Staatsminister für Inneres und Volksbildung war.
Wenige Woche vor der Landesgründung stellten sich Reichswehroffiziere in Thüringen auf die Seite der Berliner Putschisten unter Kapp und Lüttwitz. Der Befehlshaber in Weimar setzte die linken thüringischen Regierungen ab. Dagegen wurde zum Generalstreik aufgerufen, Aktionsausschüsse aus Kommunisten und unabhängigen Sozialdemokraten setzten ihn vielerorts durch und gingen gern auch einen Schritt weiter in Richtung Räterepublik. Die Auseinandersetzungen forderten besonders viele Opfer, als nach dem Scheitern des Putsches, der erfolgreichen Verteidigung der Demokratie, Truppen und paramilitärische Verbände gegen die Arbeiter vorgingen und ihren Terror mit Beschwörung der „roten Gefahr“ rechtfertigten. Eine angemessene juristische Aufarbeitung der Morde und Übergriffe fand nicht statt.
Als die Abgeordneten des Landtags von Sachsen-Weimar-Eisenach am 26. März 1920 sich zum Gedenken an die Opfer der Gegenrevolution erhoben, blieben zwei Deutschnationale sitzen. Es sei ein Missverständnis gewesen, erklärten sie anschließend.
Das politische Klima litt auch darunter, dass im neuen Land die liberale DDP nur eine geringe, und die überwiegend katholische Zentrumspartei keine Rolle spielte. Sie waren es, die im Reich zwischen den Lagern vermittelten. In Thüringen fehlten die Kräfte zwischen den Blöcken oder waren zu schwach. Das „engere Vaterland“, so fassen Ronny Noak und Sebastian Elsbach ihre Betrachtung der politischen Landschaft zusammen, entpuppte sich als ein „Land der Extreme“.
JENS BISKY
Christian Faludi/Marc Bartuschka (Hrsg.): „Engere Heimat“. Die Gründung des Landes Thüringen 1920. Weimarer Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 2020. 408 Seiten, 18 Euro.
Ohne die Aufmerksamkeit auf das
Zersplitterte ist die deutsche
Geschichte kaum zu verstehen
Wahlwerbung der Mehrheits-Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (MSPD), 1919. Rechts: Otto Geithner, damals USPD, auf dem Hauptmarkt in Gotha am 1. Mai 1919.
Foto: Bundesarchiv/Verein für Stadtgeschichte Gotha/Abb. aus dem bespr. Band
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"Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!" - Goethes Faust Jedem, der sich kompakt, im großen und ganzen aktuell und zugleich durchweg solide über die Gründung des Landes Thüringen 1920 sowie ihre Kontexte informieren will, ist der - auch buchkulturell ansprechende - Band uneingeschränkt zu empfehlen. Zeitschrift für Thüringische Geschichte