Die Englische Kulturgeschichte ist als 'Große Erzählung' angelegt. Die Darstellung gliedert sich über Epochenschwellen. Als Leitgesichtspunkte dienen ihr Zusammenhänge zwischen Mentalitäts- und Sozialgeschichte und kulturellen Erfindungen. Zugleich enthält sie eine Porträtgalerie britischer Kulturheroen. Der erste Band beschreibt unter dem Titel 'Die Frühe Neuzeit' die Epoche zwischen 1500 und 1760.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995England als Erzieher
Dietrich Schwanitz kennt die Insulaner / Von Franziska Augstein
Eine der mythischen Figuren der Geschichtswissenschaft ist die Mnemosyne, aus deren Schoß die Wasser des Erinnerns quellen. Dietrich Schwanitz spinnt den Mythos fort: Das Erinnern "kroch wie die Amphibien an Land", es wurde in Schrift und Kunst objektiviert. So wie die symbolischen Formen des Erinnerns Land und Meer umfassen, ist auch die englische Politikwissenschaft seit Thomas Hobbes mit der Idee von Land und Meer verbunden. Der Walfisch Leviathan symbolisiert die Macht des Staates, Hobbes' Landungeheuer Behemoth steht für Chaos und Tyrannei.
In seiner Studie "Land und Meer" beschrieb Carl Schmitt den Unterschied zwischen Seemächten und Landmächten mit den Figuren von Leviathan und Behemoth. Das regierende Prinzip der "Landtreter" (lies: Deutschland) war die Familie, das der (englischen) "Seeschäumer" hingegen war die Industrie. Das 1942 erschienene Buch zeugte davon, daß Schmitt am deutschen Endsieg zu zweifeln begonnen hatte. England wurde denn auch nicht versenkt, aber Deutschland fiel in Schutt und Asche.
Die Stunde Null bezeichnet Schwanitz' Ausgangspunkt - ein Rätsel: Warum, fragt Schwanitz, nehme sich die englische Geschichte so viel erfreulicher aus als die deutsche? Warum hätten die Engländer den Parlamentarismus und Monty Python hervorgebracht, wohingegen die Deutschen zwei Weltkriege anzettelten? Das Problem wurde oftmals gelöst, indem eine der beiden Traditionen für untypisch erklärt wurde. Als Anglist und bis über beide Ohren anglophil, sieht Dietrich Schwanitz das Besondere auf der englischen Seite. Halb ernst, halb ironisch bekennt er sich zur Philosophie der "Whig-eschichtsschreibung", einer Einstellung also, die heutzutage unter englischen Historikern passé ist, weil selbst die humorvollen Briten nicht mehr denken, daß der Weg von der Magna Charta bis zum Krieg gegen Hitler wirklich eine einzige Rutschpartie im Namen von Freiheit und Liberalismus war.
Schwanitz erklärt die britische Geschichte zu einer "Komödie". Wenn sie sich bei ihm so wundersam glückselig ausnimmt, so liegt's folglich nicht am Autor, sondern an der Geschichte selbst. Für Schwanitz sprudeln die Wasser der Mnemosyne hell und munter: Die Geschichte schließt das Genre ihrer Darstellung in sich selbst. Nachdem er sich auf der literaturhistorischen Metaebene eingerichtet hat, beginnt Schwanitz ohne selbstreferentielle Artistik zu erzählen, er tut es leichtfüßig und anschaulich. Seine Vignetten bedeutender Briten von Thomas Morus bis zu den Brontë-Schwestern bereiten Vergnügen. Seine Kurzporträts der großen Literatur sind brillant. Und den politischen Kontext flicht er so geschickt ein, daß seine Kulturgeschichte als anregende Einführung in die englische Geschichte gelesen werden kann. Nur eines muß man dabei wissen: Schwanitz schätzt das Stereotype; er liebt das Abbild, das die Geschichte in den Gesellschaftstheorien hinterlassen hat, mitunter mehr als die Geschichte selbst.
Anhand der Gedanken großer Gelehrter wie Max Weber, Norbert Elias, Eric Voegelin oder Niklas Luhmann schildert er die Epochenumbrüche in der englischen Kulturgeschichte. Man könnte auch sagen, daß Schwanitz am englischen Beispiel bedeutende Theorien über den Wandel der Gesellschaft darstellt - von der "Entzauberung der Welt", die den Tod der Dämonen mit sich brachte, bis zur "Ausdifferenzierung der semantischen Systeme" in den Bereichen des Geldes und des Rechts, der Wissenschaft und sogar der Liebe.
In der Wahl seiner Schwerpunkte ist Schwanitz ziemlich konservativ: Literatur steht ganz oben, gefolgt von den übrigen schönen Künsten und der Philosophie. Volkskultur interessiert ihn hingegen weniger, Theologie auch nicht sehr und Naturwissenschaft eigentlich nur so lange, wie ihre Vertreter Newton und Darwin heißen. Aber auch so ist Schwanitz' Bühne enorm. Von der Renaissance bis zur Moderne sich spannend, ist sie von einer stupenden Zahl von Akteuren bevölkert.
So kommt es, daß der Anglist im Hinblick auf die Fakten manchmal einbricht. Daß das britische Empire "in einem Anfall von Geistesabwesenheit" erworben wurde, war kein Ausspruch von Winston Churchill, sondern von dem Geohistoriker John Seeley. Darwin hatte durchaus studiert, und zwar Geologie in Cambridge. Der Nachname des Arztes John Addington Symons lautet in Wahrheit Symonds. Der Theologe William Paley verglich in der Tat die göttliche Schöpfung mit einem Uhrwerk, aber er tat das nicht in seinem Buch "Evidences of Christianity", sondern in "Natural Theology". Und der schottische Aufklärungsphilosoph John Millar hatte ganz sicher nicht das Konzept des "Klassenkampfes" im Sinn, als er sich über die Ursprünge sozialer Schichtung Gedanken machte.
Bisweilen tut Schwanitz' Vorliebe für große Theorien der Geschichte eindeutig unrecht. In seiner Darstellung des Bürgerkrieges im siebzehnten Jahrhundert geht er offensichtlich von mittlerweile überholten marxistischen Interpretationen aus, die versuchten, den Bürgerkrieg als Klassenkampf zwischen der landbesitzenden, königstreuen Aristokratie und den "bourgeoisen", antiroyalistischen Puritanern darzustellen. Auch ist es zweifelhaft, ob die "New Model Army" des Parlamentes den Krieg wirklich wegen ihrer "puritanischen Disziplin" gewann, die dem "romantischen Individualismus der royalistischen Kavaliere" überlegen gewesen sein soll. Die Disziplin mochte ihren Grund einfach darin haben, daß die Parlamentstruppen - anders als ihre Gegner - regelmäßig ihren Sold bekamen.
Schwanitz denkt sich seine Kulturgeschichte als eine "Therapie" gegen den deutschen Anti-Patriotismus. Um diese Macke, die ja nicht von ungefähr kommt, kümmern sich aber schon viele Ärzte. Die "Englische Kulturgeschichte" möchte man lieber aus anderen Gründen empfehlen: wegen ihrer geistreichen Eleganz, ihrer sprachlichen Klarheit und weil der Leser Freude an der Lektüre hat. Allein der Verzicht auf jegliche Literaturhinweise und die Beschränkung des Indexes auf Eigennamen sind wirklich bedauerlich.
Dietrich Schwanitz: "Englische Kulturgeschichte". 2 Bände. Francke Verlag, Tübingen 1995. 296 u. 324 S., br., je Bd. 29,80 DM.
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Dietrich Schwanitz kennt die Insulaner / Von Franziska Augstein
Eine der mythischen Figuren der Geschichtswissenschaft ist die Mnemosyne, aus deren Schoß die Wasser des Erinnerns quellen. Dietrich Schwanitz spinnt den Mythos fort: Das Erinnern "kroch wie die Amphibien an Land", es wurde in Schrift und Kunst objektiviert. So wie die symbolischen Formen des Erinnerns Land und Meer umfassen, ist auch die englische Politikwissenschaft seit Thomas Hobbes mit der Idee von Land und Meer verbunden. Der Walfisch Leviathan symbolisiert die Macht des Staates, Hobbes' Landungeheuer Behemoth steht für Chaos und Tyrannei.
In seiner Studie "Land und Meer" beschrieb Carl Schmitt den Unterschied zwischen Seemächten und Landmächten mit den Figuren von Leviathan und Behemoth. Das regierende Prinzip der "Landtreter" (lies: Deutschland) war die Familie, das der (englischen) "Seeschäumer" hingegen war die Industrie. Das 1942 erschienene Buch zeugte davon, daß Schmitt am deutschen Endsieg zu zweifeln begonnen hatte. England wurde denn auch nicht versenkt, aber Deutschland fiel in Schutt und Asche.
Die Stunde Null bezeichnet Schwanitz' Ausgangspunkt - ein Rätsel: Warum, fragt Schwanitz, nehme sich die englische Geschichte so viel erfreulicher aus als die deutsche? Warum hätten die Engländer den Parlamentarismus und Monty Python hervorgebracht, wohingegen die Deutschen zwei Weltkriege anzettelten? Das Problem wurde oftmals gelöst, indem eine der beiden Traditionen für untypisch erklärt wurde. Als Anglist und bis über beide Ohren anglophil, sieht Dietrich Schwanitz das Besondere auf der englischen Seite. Halb ernst, halb ironisch bekennt er sich zur Philosophie der "Whig-eschichtsschreibung", einer Einstellung also, die heutzutage unter englischen Historikern passé ist, weil selbst die humorvollen Briten nicht mehr denken, daß der Weg von der Magna Charta bis zum Krieg gegen Hitler wirklich eine einzige Rutschpartie im Namen von Freiheit und Liberalismus war.
Schwanitz erklärt die britische Geschichte zu einer "Komödie". Wenn sie sich bei ihm so wundersam glückselig ausnimmt, so liegt's folglich nicht am Autor, sondern an der Geschichte selbst. Für Schwanitz sprudeln die Wasser der Mnemosyne hell und munter: Die Geschichte schließt das Genre ihrer Darstellung in sich selbst. Nachdem er sich auf der literaturhistorischen Metaebene eingerichtet hat, beginnt Schwanitz ohne selbstreferentielle Artistik zu erzählen, er tut es leichtfüßig und anschaulich. Seine Vignetten bedeutender Briten von Thomas Morus bis zu den Brontë-Schwestern bereiten Vergnügen. Seine Kurzporträts der großen Literatur sind brillant. Und den politischen Kontext flicht er so geschickt ein, daß seine Kulturgeschichte als anregende Einführung in die englische Geschichte gelesen werden kann. Nur eines muß man dabei wissen: Schwanitz schätzt das Stereotype; er liebt das Abbild, das die Geschichte in den Gesellschaftstheorien hinterlassen hat, mitunter mehr als die Geschichte selbst.
Anhand der Gedanken großer Gelehrter wie Max Weber, Norbert Elias, Eric Voegelin oder Niklas Luhmann schildert er die Epochenumbrüche in der englischen Kulturgeschichte. Man könnte auch sagen, daß Schwanitz am englischen Beispiel bedeutende Theorien über den Wandel der Gesellschaft darstellt - von der "Entzauberung der Welt", die den Tod der Dämonen mit sich brachte, bis zur "Ausdifferenzierung der semantischen Systeme" in den Bereichen des Geldes und des Rechts, der Wissenschaft und sogar der Liebe.
In der Wahl seiner Schwerpunkte ist Schwanitz ziemlich konservativ: Literatur steht ganz oben, gefolgt von den übrigen schönen Künsten und der Philosophie. Volkskultur interessiert ihn hingegen weniger, Theologie auch nicht sehr und Naturwissenschaft eigentlich nur so lange, wie ihre Vertreter Newton und Darwin heißen. Aber auch so ist Schwanitz' Bühne enorm. Von der Renaissance bis zur Moderne sich spannend, ist sie von einer stupenden Zahl von Akteuren bevölkert.
So kommt es, daß der Anglist im Hinblick auf die Fakten manchmal einbricht. Daß das britische Empire "in einem Anfall von Geistesabwesenheit" erworben wurde, war kein Ausspruch von Winston Churchill, sondern von dem Geohistoriker John Seeley. Darwin hatte durchaus studiert, und zwar Geologie in Cambridge. Der Nachname des Arztes John Addington Symons lautet in Wahrheit Symonds. Der Theologe William Paley verglich in der Tat die göttliche Schöpfung mit einem Uhrwerk, aber er tat das nicht in seinem Buch "Evidences of Christianity", sondern in "Natural Theology". Und der schottische Aufklärungsphilosoph John Millar hatte ganz sicher nicht das Konzept des "Klassenkampfes" im Sinn, als er sich über die Ursprünge sozialer Schichtung Gedanken machte.
Bisweilen tut Schwanitz' Vorliebe für große Theorien der Geschichte eindeutig unrecht. In seiner Darstellung des Bürgerkrieges im siebzehnten Jahrhundert geht er offensichtlich von mittlerweile überholten marxistischen Interpretationen aus, die versuchten, den Bürgerkrieg als Klassenkampf zwischen der landbesitzenden, königstreuen Aristokratie und den "bourgeoisen", antiroyalistischen Puritanern darzustellen. Auch ist es zweifelhaft, ob die "New Model Army" des Parlamentes den Krieg wirklich wegen ihrer "puritanischen Disziplin" gewann, die dem "romantischen Individualismus der royalistischen Kavaliere" überlegen gewesen sein soll. Die Disziplin mochte ihren Grund einfach darin haben, daß die Parlamentstruppen - anders als ihre Gegner - regelmäßig ihren Sold bekamen.
Schwanitz denkt sich seine Kulturgeschichte als eine "Therapie" gegen den deutschen Anti-Patriotismus. Um diese Macke, die ja nicht von ungefähr kommt, kümmern sich aber schon viele Ärzte. Die "Englische Kulturgeschichte" möchte man lieber aus anderen Gründen empfehlen: wegen ihrer geistreichen Eleganz, ihrer sprachlichen Klarheit und weil der Leser Freude an der Lektüre hat. Allein der Verzicht auf jegliche Literaturhinweise und die Beschränkung des Indexes auf Eigennamen sind wirklich bedauerlich.
Dietrich Schwanitz: "Englische Kulturgeschichte". 2 Bände. Francke Verlag, Tübingen 1995. 296 u. 324 S., br., je Bd. 29,80 DM.
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