Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2005Bürgertum mit Tunnelblick
Das Glück im Sucher: Anna Gavalda mißt den Daseinspuls
Anna Gavalda glaubt an die Abhärtung ihrer Leser. Sie beginnt mit der rauhen Wirklichkeit, um die durch sie Gestählten peu à peu ins Reich der Wunder zu entführen. Auf den ersten Blick hat ihr Roman nur allzu vertraute Verlierertypen zu bieten, eine hinfällige alte Frau, einen gestressten Koch, eine jugendliche Putzfrau und einen trotteligen Postkartenverkäufer.
Paulette wird nach ihrem jüngsten Sturz erst ins Krankenhaus und dann in ein desolates Altersheim befördert. Wie sie vegetieren auch die drei anderen dahin, ihr sich als Souchef in einem Gourmet-Restaurant verheizender Enkel Franck, die vor einer sadistischen Mutter in den Billiglohnbereich geflüchtete Camille und Philibert Marquet de La Durbellière, ein vom modernen Leben überforderter Adelssproß, der nie ohne Petschaft und Riechsalz ausgeht und bis zur Beilegung von Testamentsstreitigkeiten in der Pariser Wohnung seiner Großmutter die Festung hält. Als überzeugter Monarchist hat er staatliche Schulen nur zwangsweise besucht und würde nicht mal seinen ärgsten Feind in ein öffentliches Krankenhaus einliefern. Und doch hat es seine Richtigkeit, daß ausgerechnet er dem Motorradfreak Franck kostenlos Logis anbietet, denn hinter dessen groben Flüchen verbirgt sich ein ebenso ritterlicher Charakter wie hinter Philiberts Windmühlengefechten.
Vollends wachgeküßt werden die beiden Junggesellen, als Camille einzieht und jenen feenhaften, durch ihre Kaltschnäuzigkeit nur noch gesteigerten Zauber verbreitet, der alles in ihrem Radius zum Guten kehrt. Unter den afrikanischen Kolleginnen ihrer Putzkolonne bewegt sie sich wie ein Ethnologe, Drogensüchtigen und Tellerwäschern gegenüber entfaltet sie einen Mutter-Teresa-Instinkt, Philibert gewöhnt sie das Stottern ab, und Francks Großmutter holt sie in die Pariser Wohngemeinschaft, um sich wie eine approbierte Altenpflegerin um sie zu kümmern.
Anna Gavaldas Erzähler wacht mit liebevoller Ironie über seinen Geschöpfen, vertraut auf ihr gutes Herz, den weichen Kern unter der harten Schale, und ergötzt sich an ihren Vorspiegelungen modischer coolness. Häppchenweise erfahren wir, daß Camille das Putzen dem Antritt eines Erbes vorzieht, daß ihre zeichnerischen Talente ihr schon zu einer Karriere als Kunstfälscherin verholfen haben und ein berühmter Galerist es kaum erwarten kann, daß sie zu ihrem asiatischen Tuschfederkasten zurückkehrt. Das Ausmaß der Güte, mit der die jungen Leute das Leben angehen, schimmert als ungehobener Schatz durch den groben Ton ihrer Unterhaltungen, aus denen der voluminöse Roman zu großen Teilen besteht.
Anna Gavalda versteht sich auf einen Balanceakt der mündlichen Rede, der uns alle relevanten Informationen liefert, ohne die Frische der Umgangssprache einzubüßen. Erst nach und nach enthüllt die Handlung einen Wust biographischer Verletzungen, denen die Figuren durch stolze Einsilbigkeit zu trotzen versuchen. Die Sympathie des Lesers ist ihnen sicher, denn der leicht zu rührende Erzähler lädt zur wohlwollenden Lektüre ein. "Unser Bierkutscher war bereits in der Diele am Fluchen", heißt es mit zärtlicher Ironie von Franck, Camille ist "das kleine Persönchen da oben" und Philibert "ein komischer Kauz, aber ein vollkommenes Geschöpf".
Ihren Reiz bezieht die Erzählung aus der Spannung, in der ein an Hindernissen reicher Parcours zur märchenhaften Gesamtanlage steht. Dabei schließt die seifenblasenhafte Leichtigkeit, mit der sich die Szenen aneinanderreihen, das Weltanschauliche nicht aus. Das Anliegen des Buches kommt zur Sprache, als Camille sich die nackte Paulette als Modell wählt: "Und du schämst dich nicht, mich jetzt zu malen?" wird sie gefragt und gibt zur Antwort: "Die Scham führt uns nirgendwo hin." Wie ihre Heldin geht auch Gavalda die peinlichen Details des Alltags an und führt vor, wie scheinbar erbarmungslose Direktheit Vertrauen schafft und von der Einsamkeit befreit.
Die Verachtung ihres Erzählers gilt dem Tunnelblick des Erfolgsbürgertums, der Nichteinmischungspolitik einer saturierten Schicht, die ihre Kinder zu gesellschaftlichen Blindgängern macht. Dabei scheut Gavalda das Floskelhafte nicht, wenn es darum geht, die Wiederbelebung sozialer Kompetenzen zu feiern: "Klick. Keiner bewegt sich. Den Moment festgehalten. Glück pur", heißt es, als sich ihre ungleichen Helden einen Abend mit Austern und Champagner gönnen. Häufig wird die Erzählung durch genuin filmisch aufgefaßte Momente formatiert.
Das ist kein Zufall, denn die Autorin vertraut den Zwischentönen der Sprache letztlich nicht allzu sehr, ihr Reich ist das der wortlosen Idylle, der kreatürlichen Evidenzen und naiven Träume, der Schmunzelwelt von Musical und Comic strip, in der die Menschen durchschaubar, gut oder böse sind. So sehnt sich Camille nach einem "Marsupilamis-Nest", sie und eine dicke Putzkollegin werden schmollend "Asterix und Obelix" gleich, und auf Philiberts Kopfkissen streiten Engel und Teufel "wie bei Tim und Struppi" miteinander. Kein Wunder, daß Franck "vieles an Werbespots" erinnert.
Ihrem situativen Witz und neckischen Absurditäten ist die Autorin oft erfolgreich, zuweilen aber auch angestrengt auf der Spur. "Es war milder geworden", beginnt ein Kapitel, das sich in die Anfangstotale von "Über den Dächern von Nizza" verirrt zu haben scheint: "Es lag etwas von Freude, von Leichtigkeit in der Luft, samsing in si air." Ein ländliches Schlachtefest bleibt klischeehaft, weil Gavalda die Schilderung durch griffige Phrasen entmachtet: "von der TV-Familie bis zum Pauschalreise-Katalog" sei alles zugegen gewesen: "Soviel zur Stimmung: Club Mediterranée auf dem Bauernhof ..." Ganz ohne Augenzwinkern in Richtung Fun-, Pop- und Medienkultur entfaltet sich hingegen Francks Arbeitsplatz vor unseren Augen: Die knappen Wortwechsel an der Durchreiche, die Bewunderung des Küchenjungen für den Gesellen, das schlagzeugerhafte Hantieren an heißen Töpfen, kurz, das ganze schweißtreibende Ballett der Profiküche ist wie gemacht für Gavaldas behende Feder. Camilles Verehrung des japanischen Naturmalers Hokusai darf man daher auf sie beziehen.
Daß "jeder Punkt, jede Linie ihr eigenes Leben haben", ist das Ziel dieser Prosa, die auf Abstraktionen weitgehend verzichtet, um dem Pulsschlag des Daseins in all seiner Banalität die Treue zu halten. Dabei kommt ein Kunstprodukt heraus, das die Akteure ganz gegen die menschliche Gewohnheit in den Augenblick bannt und so die verführerische Illusion erzeugt, der flüchtige Moment könnte zum Leben genug sein. Das ist fast schon eine Glücksformel, trügerisch und unkopierbar, aber als Lesesog zu genießen: "Klick. Keiner bewegt sich. Glück pur."
INGEBORG HARMS
Anna Gavalda: "Zusammen ist man weniger allein". Roman. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger. Hanser Verlag, München 2005. 551 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Glück im Sucher: Anna Gavalda mißt den Daseinspuls
Anna Gavalda glaubt an die Abhärtung ihrer Leser. Sie beginnt mit der rauhen Wirklichkeit, um die durch sie Gestählten peu à peu ins Reich der Wunder zu entführen. Auf den ersten Blick hat ihr Roman nur allzu vertraute Verlierertypen zu bieten, eine hinfällige alte Frau, einen gestressten Koch, eine jugendliche Putzfrau und einen trotteligen Postkartenverkäufer.
Paulette wird nach ihrem jüngsten Sturz erst ins Krankenhaus und dann in ein desolates Altersheim befördert. Wie sie vegetieren auch die drei anderen dahin, ihr sich als Souchef in einem Gourmet-Restaurant verheizender Enkel Franck, die vor einer sadistischen Mutter in den Billiglohnbereich geflüchtete Camille und Philibert Marquet de La Durbellière, ein vom modernen Leben überforderter Adelssproß, der nie ohne Petschaft und Riechsalz ausgeht und bis zur Beilegung von Testamentsstreitigkeiten in der Pariser Wohnung seiner Großmutter die Festung hält. Als überzeugter Monarchist hat er staatliche Schulen nur zwangsweise besucht und würde nicht mal seinen ärgsten Feind in ein öffentliches Krankenhaus einliefern. Und doch hat es seine Richtigkeit, daß ausgerechnet er dem Motorradfreak Franck kostenlos Logis anbietet, denn hinter dessen groben Flüchen verbirgt sich ein ebenso ritterlicher Charakter wie hinter Philiberts Windmühlengefechten.
Vollends wachgeküßt werden die beiden Junggesellen, als Camille einzieht und jenen feenhaften, durch ihre Kaltschnäuzigkeit nur noch gesteigerten Zauber verbreitet, der alles in ihrem Radius zum Guten kehrt. Unter den afrikanischen Kolleginnen ihrer Putzkolonne bewegt sie sich wie ein Ethnologe, Drogensüchtigen und Tellerwäschern gegenüber entfaltet sie einen Mutter-Teresa-Instinkt, Philibert gewöhnt sie das Stottern ab, und Francks Großmutter holt sie in die Pariser Wohngemeinschaft, um sich wie eine approbierte Altenpflegerin um sie zu kümmern.
Anna Gavaldas Erzähler wacht mit liebevoller Ironie über seinen Geschöpfen, vertraut auf ihr gutes Herz, den weichen Kern unter der harten Schale, und ergötzt sich an ihren Vorspiegelungen modischer coolness. Häppchenweise erfahren wir, daß Camille das Putzen dem Antritt eines Erbes vorzieht, daß ihre zeichnerischen Talente ihr schon zu einer Karriere als Kunstfälscherin verholfen haben und ein berühmter Galerist es kaum erwarten kann, daß sie zu ihrem asiatischen Tuschfederkasten zurückkehrt. Das Ausmaß der Güte, mit der die jungen Leute das Leben angehen, schimmert als ungehobener Schatz durch den groben Ton ihrer Unterhaltungen, aus denen der voluminöse Roman zu großen Teilen besteht.
Anna Gavalda versteht sich auf einen Balanceakt der mündlichen Rede, der uns alle relevanten Informationen liefert, ohne die Frische der Umgangssprache einzubüßen. Erst nach und nach enthüllt die Handlung einen Wust biographischer Verletzungen, denen die Figuren durch stolze Einsilbigkeit zu trotzen versuchen. Die Sympathie des Lesers ist ihnen sicher, denn der leicht zu rührende Erzähler lädt zur wohlwollenden Lektüre ein. "Unser Bierkutscher war bereits in der Diele am Fluchen", heißt es mit zärtlicher Ironie von Franck, Camille ist "das kleine Persönchen da oben" und Philibert "ein komischer Kauz, aber ein vollkommenes Geschöpf".
Ihren Reiz bezieht die Erzählung aus der Spannung, in der ein an Hindernissen reicher Parcours zur märchenhaften Gesamtanlage steht. Dabei schließt die seifenblasenhafte Leichtigkeit, mit der sich die Szenen aneinanderreihen, das Weltanschauliche nicht aus. Das Anliegen des Buches kommt zur Sprache, als Camille sich die nackte Paulette als Modell wählt: "Und du schämst dich nicht, mich jetzt zu malen?" wird sie gefragt und gibt zur Antwort: "Die Scham führt uns nirgendwo hin." Wie ihre Heldin geht auch Gavalda die peinlichen Details des Alltags an und führt vor, wie scheinbar erbarmungslose Direktheit Vertrauen schafft und von der Einsamkeit befreit.
Die Verachtung ihres Erzählers gilt dem Tunnelblick des Erfolgsbürgertums, der Nichteinmischungspolitik einer saturierten Schicht, die ihre Kinder zu gesellschaftlichen Blindgängern macht. Dabei scheut Gavalda das Floskelhafte nicht, wenn es darum geht, die Wiederbelebung sozialer Kompetenzen zu feiern: "Klick. Keiner bewegt sich. Den Moment festgehalten. Glück pur", heißt es, als sich ihre ungleichen Helden einen Abend mit Austern und Champagner gönnen. Häufig wird die Erzählung durch genuin filmisch aufgefaßte Momente formatiert.
Das ist kein Zufall, denn die Autorin vertraut den Zwischentönen der Sprache letztlich nicht allzu sehr, ihr Reich ist das der wortlosen Idylle, der kreatürlichen Evidenzen und naiven Träume, der Schmunzelwelt von Musical und Comic strip, in der die Menschen durchschaubar, gut oder böse sind. So sehnt sich Camille nach einem "Marsupilamis-Nest", sie und eine dicke Putzkollegin werden schmollend "Asterix und Obelix" gleich, und auf Philiberts Kopfkissen streiten Engel und Teufel "wie bei Tim und Struppi" miteinander. Kein Wunder, daß Franck "vieles an Werbespots" erinnert.
Ihrem situativen Witz und neckischen Absurditäten ist die Autorin oft erfolgreich, zuweilen aber auch angestrengt auf der Spur. "Es war milder geworden", beginnt ein Kapitel, das sich in die Anfangstotale von "Über den Dächern von Nizza" verirrt zu haben scheint: "Es lag etwas von Freude, von Leichtigkeit in der Luft, samsing in si air." Ein ländliches Schlachtefest bleibt klischeehaft, weil Gavalda die Schilderung durch griffige Phrasen entmachtet: "von der TV-Familie bis zum Pauschalreise-Katalog" sei alles zugegen gewesen: "Soviel zur Stimmung: Club Mediterranée auf dem Bauernhof ..." Ganz ohne Augenzwinkern in Richtung Fun-, Pop- und Medienkultur entfaltet sich hingegen Francks Arbeitsplatz vor unseren Augen: Die knappen Wortwechsel an der Durchreiche, die Bewunderung des Küchenjungen für den Gesellen, das schlagzeugerhafte Hantieren an heißen Töpfen, kurz, das ganze schweißtreibende Ballett der Profiküche ist wie gemacht für Gavaldas behende Feder. Camilles Verehrung des japanischen Naturmalers Hokusai darf man daher auf sie beziehen.
Daß "jeder Punkt, jede Linie ihr eigenes Leben haben", ist das Ziel dieser Prosa, die auf Abstraktionen weitgehend verzichtet, um dem Pulsschlag des Daseins in all seiner Banalität die Treue zu halten. Dabei kommt ein Kunstprodukt heraus, das die Akteure ganz gegen die menschliche Gewohnheit in den Augenblick bannt und so die verführerische Illusion erzeugt, der flüchtige Moment könnte zum Leben genug sein. Das ist fast schon eine Glücksformel, trügerisch und unkopierbar, aber als Lesesog zu genießen: "Klick. Keiner bewegt sich. Glück pur."
INGEBORG HARMS
Anna Gavalda: "Zusammen ist man weniger allein". Roman. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger. Hanser Verlag, München 2005. 551 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.06.2005Die fabelhafte Welt des Philibert
Luftige Mansardenkost aus Paris: Anna Gavaldas neuer Roman „Zusammen ist man weniger allein”
Früher, als politisch unkorrekte Sottisen über den Nationalcharakter noch erlaubt waren, hätte man gesagt: Die Franzosen sind ein kurioses Völkchen. Gnadenlos futuristisch und betonverliebt einerseits, hüten sie andererseits hingebungsvoll die Biotope ihrer Alltagstraditionen. Von kühler Ratio bis ins Mark durchdrungen, zeigen sie doch immer wieder hohe Kompetenz für Gefühlswerte, die generationen- und schichtenübergreifend die Herzen erwärmen. Was man humanistische Kleinkunst nennen könnte, ist eine französische Spezialität wie Camembert und Calvados, sei es im Film, im Comic, in der populären Musik oder in der Literatur. Auf letzterem Gebiet hat sich Anna Gavalda in wenigen Jahren als Markenzeichen etabliert, jedenfalls bei ihren Landsleuten. Ihr jüngster und dickster Roman hat auch in deutsche Bestsellerlisten eingeschlagen und nistet dort irgendwo zwischen Dan Brown und Paolo Coelho, also in einem ökonomisch fruchtbaren, aber für die Literaturkritik eher anrüchigen Umfeld.
Was wiederum zu einem Buch zu passen scheint, das seine Botschaft schon im Titel so aufdringlich ausposaunt: „Zusammen ist man weniger allein” - das erinnert an die klebrigen Platitüden deutscher Schlagertexte, während man das Original „Ensemble, cest tout” immerhin noch mit dem Ton jener Chansons assoziieren kann, von denen sich auch der Intellektuelle gern mal in beschwingt-sentimentale Ferienlaune versetzen lässt. Die Übertragung von Chansontexten ins Deutsche hat so gut wie nie funktioniert, die Synchronisation französischer Unterhaltungsfilme ist meist unerträglich, und so darf man davon ausgehen, dass auch leichtgewichtige Literatur auf Deutsch stets mit wuchtigerem Schritt und erhöhtem Fettgehalt daherkommt, was nicht die Schuld der Übersetzer ist, sondern ein Transferproblem zwischen zwei Sprachen und Mentalitäten, das sich bei Erzeugnissen von luftiger Substanz besonders bemerkbar macht.
Noch komplizierter wird es, wenn das Leichte, Luftige dazu dienen soll, eine ernst gemeinte Vision menschlichen Miteinanders zu transportieren. Wovon deutschsprachige Autoren vernünftigerweise die Finger lassen, um sie sich nicht zu verbrennen, das hat die Gallierin Gavalda mit heiterem Elan ganz einfach versucht, und über weite Strecken ist es ihr sehr charmant gelungen. Die Geschichte von vier Außenseitern, die in einem heruntergekommenen Pariser Mietshaus zu einer Lebensgemeinschaft der besonderen Art zusammenfinden, ist zwar märchenhaft, aber nicht verlogen, und wäre sie nicht an manchen Stellen überflüssigerweise zum Traktat mutiert, könnte man sie guten Gewissens als Läuterungslektüre für Misanthropen empfehlen.
Falls das Ganze, in seiner fast durchgängig szenischen Anlage und seiner von allen sprachkünstlerischen Ambitionen freien Dialoglastigkeit, nicht ohnehin als Filmdrehbuch gedacht ist. Man sieht sie als Leinwandfiguren direkt vor sich: die magersüchtige, androgyn feenhafte Camille, den verhaltensgestörten, aber hochkultivierten Adelsspross Philibert, die ebenso widerspenstige wie hilfsbedürftige Seniorin Paulette und ihren Enkel Franck, dessen Motorradkluft samt großkotzigem Auftreten eine empfindsame Seele kaschiert.
Philibert, der eine spätfeudal verstaubte Prachtwohnung für die Dauer familiärer Testaments-Querelen hütet, rettet Camille aus ihrer ungeheizten Mansarde. Camille, die aus psychischer Verkrampfung ihr geerbtes Vermögen und ihr Zeichentalent ruhen lässt, um als Putzfrau zu arbeiten, rettet Paulette vor dem Altersheim. Franck, der als Gourmetkoch schuftet und ebenfalls ein Familientrauma zu verarbeiten hat, rettet Philibert vor der finalen Verkauzung und Camille vor dem Verweigerungswahn und wird seinerseits durch die Liebe vor Workaholismus und Oberflächlichkeit gerettet. So retten sich alle gegenseitig, und man versteht, warum ein französischer Kritiker vom „umgekehrten Dominoeffekt” fabulierte.
Die Duschkabine in der Beletage
Natürlich geht die Chose nicht ohne Spannungen und Reibereien ab, doch insgesamt haben wir es hier mit einer Personenkonstellation zu tun, die man analog zum „Trio infernal” als „Quatuor céleste” bezeichnen könnte, ein himmlisches Quartett. Und wenn das Idyll auch schamlos konstruiert ist, so ist es doch reizend ausgemalt, ähnlich wie - ja, man kommt um den Vergleich nicht herum, „Die fabelhafte Welt der Amélie”. Gut hat uns gefallen, dass das kostbare antike Badezimmer der Beletage in letzter Minute noch vor dem Einbau einer Duschkabine gerettet wird - Denkmalschutz vor Seniorenfreundlichkeit; Paulette lässt sich ohnehin lieber im Sitzen waschen. Wenn Camille dann aber noch einen obdachlosen Junkie inklusive Hund rettet und in ihrer Ex-Mansarde unterbringt, ist die Rettungsspirale schon um einen Tick überdreht. Vollends unerträglich wird es, wenn besagter Junkie, der Vincent heißt, durch ein zufällig herumliegendes Exemplar von Van Goghs Briefen an seinen Bruder den Weg aus der Sucht respektive in die Entziehungskur findet: „Ich will nicht verrecken. Aus Freundschaft zu ihm, aus Brüderlichkeit will ich nicht verrecken. Ich nicht.” Um solches Pathos noch goutieren zu können, muss man vielleicht doch Franzose sein und vor mehr als zweihundert Jahren die Vernunft erfunden haben.
Monologe, in denen Biographien im Zeitraffer erzählt werden, zählen zu den Schwachstellen des Romans, und Gavaldas Neigung, ihre Leser mit Bildungsgut und Kunstverständnis zu missionieren, dürfte nicht nur Leuten vom Schlage des ungehobelten Franck auf die Nerven gehen. Camilles Erkenntnis, dass die Welt zweigeteilt sei „in diejenigen, die Sempés Zeichnungen verstanden und jene, die sie nicht verstanden, ist liebenswert und nachvollziehbar, aber ihr Glaubensbekenntnis („Ich glaube an Vivaldi. An Vivaldi, an Bach, an Händel oder an Fra Angelico”) sowie ein paar andere Tiraden der Tochter aus gutem Hause hätte sie uns ersparen sollen.
Im Film allerdings würde das viel weniger auffallen - man denke nur an das Zeug, das die geschwätzigen Filmfiguren eines Eric Rohmer von sich geben, ohne dass man ihnen deshalb böse wäre. Hoffen wir also, dass das Kino sich dieses hübschen Stoffes annimmt, und bleiben wir frankophil: Mal ehrlich, auch der „Kleine Prinz” ist ja kuschelig bis zur Schmerzgrenze, und trotzdem ist er unsterblich geworden.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
ANNA GAVALDA: Zusammen ist man weniger allein. Roman. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger. Carl Hanser Verlag, München 2005. 551 Seiten, 24,90.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Luftige Mansardenkost aus Paris: Anna Gavaldas neuer Roman „Zusammen ist man weniger allein”
Früher, als politisch unkorrekte Sottisen über den Nationalcharakter noch erlaubt waren, hätte man gesagt: Die Franzosen sind ein kurioses Völkchen. Gnadenlos futuristisch und betonverliebt einerseits, hüten sie andererseits hingebungsvoll die Biotope ihrer Alltagstraditionen. Von kühler Ratio bis ins Mark durchdrungen, zeigen sie doch immer wieder hohe Kompetenz für Gefühlswerte, die generationen- und schichtenübergreifend die Herzen erwärmen. Was man humanistische Kleinkunst nennen könnte, ist eine französische Spezialität wie Camembert und Calvados, sei es im Film, im Comic, in der populären Musik oder in der Literatur. Auf letzterem Gebiet hat sich Anna Gavalda in wenigen Jahren als Markenzeichen etabliert, jedenfalls bei ihren Landsleuten. Ihr jüngster und dickster Roman hat auch in deutsche Bestsellerlisten eingeschlagen und nistet dort irgendwo zwischen Dan Brown und Paolo Coelho, also in einem ökonomisch fruchtbaren, aber für die Literaturkritik eher anrüchigen Umfeld.
Was wiederum zu einem Buch zu passen scheint, das seine Botschaft schon im Titel so aufdringlich ausposaunt: „Zusammen ist man weniger allein” - das erinnert an die klebrigen Platitüden deutscher Schlagertexte, während man das Original „Ensemble, cest tout” immerhin noch mit dem Ton jener Chansons assoziieren kann, von denen sich auch der Intellektuelle gern mal in beschwingt-sentimentale Ferienlaune versetzen lässt. Die Übertragung von Chansontexten ins Deutsche hat so gut wie nie funktioniert, die Synchronisation französischer Unterhaltungsfilme ist meist unerträglich, und so darf man davon ausgehen, dass auch leichtgewichtige Literatur auf Deutsch stets mit wuchtigerem Schritt und erhöhtem Fettgehalt daherkommt, was nicht die Schuld der Übersetzer ist, sondern ein Transferproblem zwischen zwei Sprachen und Mentalitäten, das sich bei Erzeugnissen von luftiger Substanz besonders bemerkbar macht.
Noch komplizierter wird es, wenn das Leichte, Luftige dazu dienen soll, eine ernst gemeinte Vision menschlichen Miteinanders zu transportieren. Wovon deutschsprachige Autoren vernünftigerweise die Finger lassen, um sie sich nicht zu verbrennen, das hat die Gallierin Gavalda mit heiterem Elan ganz einfach versucht, und über weite Strecken ist es ihr sehr charmant gelungen. Die Geschichte von vier Außenseitern, die in einem heruntergekommenen Pariser Mietshaus zu einer Lebensgemeinschaft der besonderen Art zusammenfinden, ist zwar märchenhaft, aber nicht verlogen, und wäre sie nicht an manchen Stellen überflüssigerweise zum Traktat mutiert, könnte man sie guten Gewissens als Läuterungslektüre für Misanthropen empfehlen.
Falls das Ganze, in seiner fast durchgängig szenischen Anlage und seiner von allen sprachkünstlerischen Ambitionen freien Dialoglastigkeit, nicht ohnehin als Filmdrehbuch gedacht ist. Man sieht sie als Leinwandfiguren direkt vor sich: die magersüchtige, androgyn feenhafte Camille, den verhaltensgestörten, aber hochkultivierten Adelsspross Philibert, die ebenso widerspenstige wie hilfsbedürftige Seniorin Paulette und ihren Enkel Franck, dessen Motorradkluft samt großkotzigem Auftreten eine empfindsame Seele kaschiert.
Philibert, der eine spätfeudal verstaubte Prachtwohnung für die Dauer familiärer Testaments-Querelen hütet, rettet Camille aus ihrer ungeheizten Mansarde. Camille, die aus psychischer Verkrampfung ihr geerbtes Vermögen und ihr Zeichentalent ruhen lässt, um als Putzfrau zu arbeiten, rettet Paulette vor dem Altersheim. Franck, der als Gourmetkoch schuftet und ebenfalls ein Familientrauma zu verarbeiten hat, rettet Philibert vor der finalen Verkauzung und Camille vor dem Verweigerungswahn und wird seinerseits durch die Liebe vor Workaholismus und Oberflächlichkeit gerettet. So retten sich alle gegenseitig, und man versteht, warum ein französischer Kritiker vom „umgekehrten Dominoeffekt” fabulierte.
Die Duschkabine in der Beletage
Natürlich geht die Chose nicht ohne Spannungen und Reibereien ab, doch insgesamt haben wir es hier mit einer Personenkonstellation zu tun, die man analog zum „Trio infernal” als „Quatuor céleste” bezeichnen könnte, ein himmlisches Quartett. Und wenn das Idyll auch schamlos konstruiert ist, so ist es doch reizend ausgemalt, ähnlich wie - ja, man kommt um den Vergleich nicht herum, „Die fabelhafte Welt der Amélie”. Gut hat uns gefallen, dass das kostbare antike Badezimmer der Beletage in letzter Minute noch vor dem Einbau einer Duschkabine gerettet wird - Denkmalschutz vor Seniorenfreundlichkeit; Paulette lässt sich ohnehin lieber im Sitzen waschen. Wenn Camille dann aber noch einen obdachlosen Junkie inklusive Hund rettet und in ihrer Ex-Mansarde unterbringt, ist die Rettungsspirale schon um einen Tick überdreht. Vollends unerträglich wird es, wenn besagter Junkie, der Vincent heißt, durch ein zufällig herumliegendes Exemplar von Van Goghs Briefen an seinen Bruder den Weg aus der Sucht respektive in die Entziehungskur findet: „Ich will nicht verrecken. Aus Freundschaft zu ihm, aus Brüderlichkeit will ich nicht verrecken. Ich nicht.” Um solches Pathos noch goutieren zu können, muss man vielleicht doch Franzose sein und vor mehr als zweihundert Jahren die Vernunft erfunden haben.
Monologe, in denen Biographien im Zeitraffer erzählt werden, zählen zu den Schwachstellen des Romans, und Gavaldas Neigung, ihre Leser mit Bildungsgut und Kunstverständnis zu missionieren, dürfte nicht nur Leuten vom Schlage des ungehobelten Franck auf die Nerven gehen. Camilles Erkenntnis, dass die Welt zweigeteilt sei „in diejenigen, die Sempés Zeichnungen verstanden und jene, die sie nicht verstanden, ist liebenswert und nachvollziehbar, aber ihr Glaubensbekenntnis („Ich glaube an Vivaldi. An Vivaldi, an Bach, an Händel oder an Fra Angelico”) sowie ein paar andere Tiraden der Tochter aus gutem Hause hätte sie uns ersparen sollen.
Im Film allerdings würde das viel weniger auffallen - man denke nur an das Zeug, das die geschwätzigen Filmfiguren eines Eric Rohmer von sich geben, ohne dass man ihnen deshalb böse wäre. Hoffen wir also, dass das Kino sich dieses hübschen Stoffes annimmt, und bleiben wir frankophil: Mal ehrlich, auch der „Kleine Prinz” ist ja kuschelig bis zur Schmerzgrenze, und trotzdem ist er unsterblich geworden.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
ANNA GAVALDA: Zusammen ist man weniger allein. Roman. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger. Carl Hanser Verlag, München 2005. 551 Seiten, 24,90.
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