Eine globalisierte Welt schafft globalisierte Schicksale
Selma (49) ist zu ihrem Vater zurückgezogen. Die Wohnung riecht wie in der Kindheit, von der Mutter sind aber nur noch die Blumen da. Aus dieser Welt von vorgestern bricht Selma auf, um es noch einmal zu versuchen. Jeder Schritt führt in immer neuere und stärkere Sinneseindrücke. In einer solchen Verlorenheit ist das Fremde erträglicher als das Bekannte.
Marlene Streeruwitz hat eine heutige Odyssee geschrieben und ihr Projekt des Subjekts im Neoliberalen weitergedacht. In einem virtuos komponierten Kaleidoskop in 31 Abschnitten beleuchtet der Text jeden Augenblick des Abenteuers der Heldin. Die Sprache zeichnet die scharfen Umrisse der Suchenden gegen die Welt, die sie zu verschlingen droht.
Selma (49) ist zu ihrem Vater zurückgezogen. Die Wohnung riecht wie in der Kindheit, von der Mutter sind aber nur noch die Blumen da. Aus dieser Welt von vorgestern bricht Selma auf, um es noch einmal zu versuchen. Jeder Schritt führt in immer neuere und stärkere Sinneseindrücke. In einer solchen Verlorenheit ist das Fremde erträglicher als das Bekannte.
Marlene Streeruwitz hat eine heutige Odyssee geschrieben und ihr Projekt des Subjekts im Neoliberalen weitergedacht. In einem virtuos komponierten Kaleidoskop in 31 Abschnitten beleuchtet der Text jeden Augenblick des Abenteuers der Heldin. Die Sprache zeichnet die scharfen Umrisse der Suchenden gegen die Welt, die sie zu verschlingen droht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2006Entkommen
Marlene Streeruwitz im Frankfurter Literaturhaus
Für Marlene Streeruwitz war es an der Zeit, ein paar Dinge geradezurücken. Die "dumme Hamburger Angelegenheit" um Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Theaterstück "Ulrike Maria Stuart" am Hamburger Thalia Theater hat sie verletzt und verärgert. Kein Wunder. Stemann läßt in seiner Inszenierung eine Plüsch-Vagina als Marlene Streeruwitz auftreten und Ausschnitte aus einem Gespräch zitieren, daß Streeruwitz 1997 mit Jelinek in der "Emma" führte. Die Klage gegen das Thalia hat Streeruwitz vor allem eingericht, weil Stemanns Inszenierung ihr Schreiben als "kopfloses Sprechen aus dem weiblichen Sexualorgan" darstelle. Die Lesung aus ihrem Roman "Entfernung" nutzte Streeruwitz im Frankfurter Literaturhaus daher zur freimütigen Selbstauskunft und zur Rückeroberung der Deutungshoheit über ihr Schaffen.
Nach Hamburg, so Streeruwitz, stelle sich ihr die Frage feministischen Schreibens neu. Schmerz sieht sie heute, "in schräger Nachfolge Ingeborg Bachmanns", als "die einzige Möglichkeit, dem Leben eine Stimme zu verleihen". Ihre literarische Technik des "übergenauen Protokolls" und der "kalten Sprache", die sich jeglichen Vergleichs enthalte, diene daher nicht nur dem "vollkommenen Zerlegen der Wirklichkeit", sondern auch dazu, die Wirklichkeit "als Ganzes in der Sprache neu zu behausen". Dabei sieht sie noch immer viele weibliche "Zustände", die bislang keine Versprachlichung erfahren haben. Und heute, wo die Welt, so Streeruwitz, zu einer "großen Anzahl miteinander verflochtener Zustände" geworden sei, sieht Marlene Streeruwitz, die feministische Schriftstellerin, sich mit einiger Überraschung der Tatsache gegenüber, daß ihr eine Schreibtechnik zur Verfügung steht, die zur Versprachlichung der verworrenen Welt recht gut geeignet ist.
Trotzdem fällt ihr das Schreiben über Zustände nicht leicht: "Die Anstrengung ist, 500 Seiten zusammenzuhalten und sich nicht in die Splitter zu verteilen, die die Welt ist." Was sie an der Welt, mit der sie es zu tun hat, bestürzt, ist "dieses Morphing, wie wir uns anpassen müssen". Sie freut sich noch immer darüber, daß es ihr gelungen ist, sich vom "katholischen Mädchen mit dem bösen Körper" durch "Bildung" zu einer wohltemperierten "dreistufigen Person" zu verwandeln, "mit Über-Ich, Es und hoffentlich ordentlich viel Ich". Aber sie fürchtet, dieser, wie sie glaube, sehr christliche Punkt, "an dem wir das werden, was wir sein wollen", existiere heute gar nicht mehr. Sie sieht uns "umgeben von den Gegenwelten der Unterhaltung und des Sports", in denen der erfolgsuchende Mensch sich endlos verwandeln und seine Zeit in Aufgaben einteilen müsse. Dieser Hintergrund ist es, vor dem sie den Schmerz als das einzige empfindet, "was gegen diese Zurichtungen noch Auskunft geben kann".
Der Schmerz, den man aushält und mit sich nimmt, wenn man sich von den Zumutungen anderer entfernt. So macht es Selma, die Heldin von "Entfernung", die nach beruflichen Mißerfolgen orientierungslos in London landet und dort einen Terroranschlag auf die U-Bahn übersteht. Streeruwitz, die das Londoner Leben liebt, wo man zwischen Zugfahrten hier und da "wie ein Erdhörnchen" an die Erdoberfläche zurückkehren kann, schätzt Henry Moores "Shelter Sketches" aus der Zeit der deutschen Luftangriffe auf die britische Hauptstadt. Den Schutz, den die U-Bahn-Tunnel den Menschen damals boten, haben die Londoner U-Bahn-Bomben für die Schriftstellerin unwiederbringlich "zerrissen". Ihrem "Einspruch gegen die Attentate" stellt sie im Roman Selmas Schmerz-Einspruch gegen die Situationen, die andere ihr zumuten, gegenüber. Leicht verletzt, doch schwer erschüttert entkommt diese zunächst der privaten, dann der öffentlichen Katastrophe. Den Schmerz wird sie nicht los, aber sie entfernt sich vom Schlachtfeld und geht ihren eigenen Weg. Wie Marlene Streeruwitz.
FLORIAN BALKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marlene Streeruwitz im Frankfurter Literaturhaus
Für Marlene Streeruwitz war es an der Zeit, ein paar Dinge geradezurücken. Die "dumme Hamburger Angelegenheit" um Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Theaterstück "Ulrike Maria Stuart" am Hamburger Thalia Theater hat sie verletzt und verärgert. Kein Wunder. Stemann läßt in seiner Inszenierung eine Plüsch-Vagina als Marlene Streeruwitz auftreten und Ausschnitte aus einem Gespräch zitieren, daß Streeruwitz 1997 mit Jelinek in der "Emma" führte. Die Klage gegen das Thalia hat Streeruwitz vor allem eingericht, weil Stemanns Inszenierung ihr Schreiben als "kopfloses Sprechen aus dem weiblichen Sexualorgan" darstelle. Die Lesung aus ihrem Roman "Entfernung" nutzte Streeruwitz im Frankfurter Literaturhaus daher zur freimütigen Selbstauskunft und zur Rückeroberung der Deutungshoheit über ihr Schaffen.
Nach Hamburg, so Streeruwitz, stelle sich ihr die Frage feministischen Schreibens neu. Schmerz sieht sie heute, "in schräger Nachfolge Ingeborg Bachmanns", als "die einzige Möglichkeit, dem Leben eine Stimme zu verleihen". Ihre literarische Technik des "übergenauen Protokolls" und der "kalten Sprache", die sich jeglichen Vergleichs enthalte, diene daher nicht nur dem "vollkommenen Zerlegen der Wirklichkeit", sondern auch dazu, die Wirklichkeit "als Ganzes in der Sprache neu zu behausen". Dabei sieht sie noch immer viele weibliche "Zustände", die bislang keine Versprachlichung erfahren haben. Und heute, wo die Welt, so Streeruwitz, zu einer "großen Anzahl miteinander verflochtener Zustände" geworden sei, sieht Marlene Streeruwitz, die feministische Schriftstellerin, sich mit einiger Überraschung der Tatsache gegenüber, daß ihr eine Schreibtechnik zur Verfügung steht, die zur Versprachlichung der verworrenen Welt recht gut geeignet ist.
Trotzdem fällt ihr das Schreiben über Zustände nicht leicht: "Die Anstrengung ist, 500 Seiten zusammenzuhalten und sich nicht in die Splitter zu verteilen, die die Welt ist." Was sie an der Welt, mit der sie es zu tun hat, bestürzt, ist "dieses Morphing, wie wir uns anpassen müssen". Sie freut sich noch immer darüber, daß es ihr gelungen ist, sich vom "katholischen Mädchen mit dem bösen Körper" durch "Bildung" zu einer wohltemperierten "dreistufigen Person" zu verwandeln, "mit Über-Ich, Es und hoffentlich ordentlich viel Ich". Aber sie fürchtet, dieser, wie sie glaube, sehr christliche Punkt, "an dem wir das werden, was wir sein wollen", existiere heute gar nicht mehr. Sie sieht uns "umgeben von den Gegenwelten der Unterhaltung und des Sports", in denen der erfolgsuchende Mensch sich endlos verwandeln und seine Zeit in Aufgaben einteilen müsse. Dieser Hintergrund ist es, vor dem sie den Schmerz als das einzige empfindet, "was gegen diese Zurichtungen noch Auskunft geben kann".
Der Schmerz, den man aushält und mit sich nimmt, wenn man sich von den Zumutungen anderer entfernt. So macht es Selma, die Heldin von "Entfernung", die nach beruflichen Mißerfolgen orientierungslos in London landet und dort einen Terroranschlag auf die U-Bahn übersteht. Streeruwitz, die das Londoner Leben liebt, wo man zwischen Zugfahrten hier und da "wie ein Erdhörnchen" an die Erdoberfläche zurückkehren kann, schätzt Henry Moores "Shelter Sketches" aus der Zeit der deutschen Luftangriffe auf die britische Hauptstadt. Den Schutz, den die U-Bahn-Tunnel den Menschen damals boten, haben die Londoner U-Bahn-Bomben für die Schriftstellerin unwiederbringlich "zerrissen". Ihrem "Einspruch gegen die Attentate" stellt sie im Roman Selmas Schmerz-Einspruch gegen die Situationen, die andere ihr zumuten, gegenüber. Leicht verletzt, doch schwer erschüttert entkommt diese zunächst der privaten, dann der öffentlichen Katastrophe. Den Schmerz wird sie nicht los, aber sie entfernt sich vom Schlachtfeld und geht ihren eigenen Weg. Wie Marlene Streeruwitz.
FLORIAN BALKE
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ina Hartwig ist vom jüngsten Roman von Marlene Streeruwitz begeistert. Literarisch dem Nouveau Roman nahe stehend, dürfe man die Geschichte der Job und Ehemann gleichermaßen verlustig gegangenen Selma keinesfalls als pure feministische Klage lesen, betont die Rezensentin. Die frisch gefeuerte Chefdramaturgin reist in der Hoffnung auf eine neue Aufgabe nach London, gerät in die Bombenattentate vom Juli 2005 und irrt verwirrt durch die Stadt, erklärt Hartwig, die Selmas Beobachtungen ihrer Umgebung und ihrer selbst trotz der extremen Kleinteiligkeit und Akribie erstaunlich fesselnd findet. Die Rezensentin preist das Geschick der österreichischen Autorin, mit dem sie den politischen Hintergrund in ihren Roman einarbeitet, ohne auf billige Effekte zu zielen. Am Ende hat sich die Heldin gewandelt, vielleicht winkt sogar "Erlösung", spekuliert Hartwig, die angesichts der Virtuosität, mit der dieser Roman konstruiert sei, geradezu ins Schwärmen gerät.
© Perlentaucher Medien GmbH
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