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"Entfremdung" beherrschte als gesellschaftskritischer Begriff die von Marx inspirierten Diskussionen der Studentenbewegung, war zuletzt jedoch aus dem Repertoire kritischer Gesellschaftsanalyse verschwunden. Rahel Jaeggi eignet sich den Begriff zur Benennung
gegenwärtiger Lebensrealität neu an: Für sie bedeutet er Indifferenz und Entzweiung, Machtlosigkeit und Beziehungslosigkeit sich selbst und einer als gleichgültig und fremd erfahrenen Welt gegenüber. In anschaulichen Analysen macht sie den Begriff der Entfremdung wieder fruchtbar, um eine kollektive und individuelle Befindlichkeit zu…mehr

Produktbeschreibung
"Entfremdung" beherrschte als gesellschaftskritischer Begriff die von Marx inspirierten Diskussionen der Studentenbewegung, war zuletzt jedoch aus dem Repertoire kritischer Gesellschaftsanalyse verschwunden. Rahel Jaeggi eignet sich den Begriff zur Benennung

gegenwärtiger Lebensrealität neu an: Für sie bedeutet er Indifferenz und Entzweiung, Machtlosigkeit und Beziehungslosigkeit sich selbst und einer als gleichgültig und fremd erfahrenen Welt gegenüber. In anschaulichen Analysen macht sie den Begriff der Entfremdung wieder fruchtbar, um eine kollektive und individuelle Befindlichkeit zu beschreiben, nach der wir uns nicht als autonom gestaltende Subjekte unserer Existenz erfahren, sondern der Dynamik uns bestimmender Zwangsverhältnisse ausgeliefert sind.
Autorenporträt
Rahel Jaeggi, Dr. phil., ist Hochschulassistentin am Philosophischen Institut der Universität Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.2006

Steigt bloß nicht auf die Authentizitätswolke
Der Komplize, nicht der Rebell sei das Vorbild: Rahel Jaeggi sucht die Voraussetzungen guten Lebens

Wir schmieden weder unser Glück noch unser Unglück allein. Vieles hängt vom Zufall ab, noch mehr von den gesellschaftlichen Umständen. Dieser Bereich jenseits des Rechts und der Gerechtigkeit, diese Sphäre, in der sich ethische Selbstorganisation und gesellschaftliches Bedingen verschränken, ist die Domäne normativer Sozialphilosophie. Hier will Rahel Jaeggi den Voraussetzungen guten menschlichen Lebens und den Ursachen lebensethischen Mißlingens auf die Spur kommen.

Als Maßstab für Analyse, Deutung und Bewertung soll ihr dabei der ehemals berühmte Begriff der Entfremdung dienen. Daß eine Entfremdungstheorie heute sich über Phänomenanalysen das begriffliche Tableau erarbeiten muß, ist der Autorin klar. Sie weiß, daß eine Phänomenologie der Beziehungslosigkeit und sozialen Abstraktion noch nicht die theoretischen Grundlagen bereitstellt, um die Voraussetzungen guten menschlichen Lebens benennen und dadurch eine normative Sozialphilosophie von den Ratschlägen der Lebenskunst unterscheiden zu können. Entfremdungskritik, die sich von Geschichtsphilosophie und essentialistischer Anthropologie unabhängig machen möchte, muß sich als "immanente Kritik" verstehen, als Stimme innerhalb der Selbstverständigung der Moderne, die die Realitäten an ihren Werten mißt und die Antinomien, die Selbstwidersprüche moderner Lebensorganisation innerhalb kapitalistischer liberaler Gesellschaften aufzeigt.

Es sind vor allem die modernen Verheißungen der Freiheit und Selbstbestimmung, unsere Erwartung, ein Leben als Person führen zu können, die der Entfremdungskritik als Folie dienen, vor deren Hintergrund die Entfremdungswirkungen der Macht-, Sinn- und Identitätsverlusterfahrungen sichtbar werden. Daher dürfen sozialphilosophische Entfremdungsanalysen nicht die Geltungsreichweite beanspruchen, die möglicherweise menschenrechtsbegründeten Gerechtigkeitsprogrammen zukommt. Sie sind lebensformgebunden und reichen über den Horizont kultureller Selbstbesinnung nicht hinaus.

Dieser hermeneutische Zugriff prägt die Studie. Er rückt die Befindlichkeit der Individuen ins Zentrum, die Gesellschaft hingegen, in der dieses sich als Entfremdung erfahrende lebensethische Scheitern stattfindet, verschwindet im Hintergrund. Daher bleibt der gesellschaftstheoretische Unterbau der Jaeggischen Entfremdungsphänomenologie unbestimmt. Ihre Sozialphilosophie ist weder individualistisch noch universalistisch, weder der systemtheoretischen Rationalität noch der kommunikativen Vernunft verpflichtet. Sie steht in der Tradition Aristoteles', Hegels und der zeitgenössischen Kommunitaristen. Ihre Basistheorie ist eine intuitive, dem moralischen Common sense sofort verständliche Personenethik.

Moderne Individuen wollen ihr eigenes Leben führen. Oft genug kollidiert das personenethische Selbstverständnis mit einer Umwelt, werfen die Gegebenheiten sie aus ihrem eigenen Leben heraus. Von der Gesellschaft werden den Personen Anpassungsleistungen abverlangt, sie verlieren sich in ihren Rollen, ihre Handlungsauthentizität wird durch Strategie und Kalkül erstickt; sie kommen sich abhanden.

Von den Phänomenen der Beziehungslosigkeit, der gestörten Welt- und Selbstaneignung, des Sinnverlusts und des Machtverlusts berichtet die Autorin. Ihnen widmet sie Gefühls- und Erfahrungsanalysen, die den Leser davon überzeugen, daß die Freiheits-, Selbstbestimmungs- und Authentizitätsbestimmungen unseres modernen personenethischen Selbstverständnisses eine hinreichende Grundlage für eine entfremdungspathologische Betrachtung gesellschaftlichen Lebens ist.

Die Klassiker der Entfremdung verbanden den Krankheitsbefund mit einem Therapievorschlag. Platon schlug die philosophische Lebensform als Heilung vor und forderte, die weltlichen und körperlichen Dinge geringzuschätzen und bereits zu Lebzeiten das Sterben, den drastischen Rückzug aus der Welt der Dinge und Meinungen, zu üben. Nicht minder radikal die Medizin Rousseaus und Marxens: dort die Flucht aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit in die politische Utopie, den tugendrepublikanischen Traum des Contrat social, hier die Revolution, die aus den Halbmenschen des bürgerlichen Zeitalters einen Vollmenschen Da Vincischen Zuschnitts machen sollte.

Verständlicherweise ist die Autorin zurückhaltender, wenn es um die Frage einer Rezeptur geht. Daß das Heil nicht in einem forcierten Individualismus gefunden werden kann, dessen ist sie sich gewiß. Rortys Vorschlag, das Selbständigkeitsbedürfnis durch Imitation des Originalgeniegedankens aus den Anfängen des industriellen Zeitalters zu befriedigen, lehnt sie ab, und keinesfalls nur darum, weil in den Massengesellschaften der Moderne sicherlich nur wenige die materiellen und immateriellen Voraussetzungen dafür besitzen, wie ein romantischer Intellektueller auf der eigenen Authentizitätswolke zu leben. Ein Leben in Freiheit und Autonomie kann kein Leben gegen die Gesellschaft sein; Freiheit und Autonomie gewinnt man nicht, wenn man sich der Gesellschaft entzieht und wie Epikur im Garten der Privatheit versteckt. In der Nische gedeiht das Leben nicht, sondern da verkümmert es.

Die Autorin hält es mit Hegel und der Dialektik. Nicht die abstrakte Negation schützt vor der Entfremdung, sondern nur die Bereitschaft, sich selbst mit dem Andern der Gesellschaft zu vermitteln, an ihren Institutionen und Praktiken zu partizipieren. Der Komplize ist das Vorbild lebensethischen Gelingens, nicht der Rebell, nicht der Einsiedler.

Spätestens jetzt erinnert sich der Leser an den bekannten Akkommodationsvorwurf, mit dem der Hegelschen Sozialphilosophie der Garaus gemacht wurde. Man wird der Entfremdungsgefahr nicht dadurch Herr, daß man die Institutionen unterschiedslos umarmt und als in die Geschichte getretenen Ausdruck der eigenen Vernunft und der eigenen Freiheit anzuerkennen sich überredet.

Es ist also notwendig - die Autorin gibt das auch zu -, personenethisch zuträgliche Institutionen und Praktiken von personenethisch unzuträglichen zu unterscheiden. Dann kann man beanspruchen, die Voraussetzungen guten menschlichen Lebens geklärt zu haben. Diese Komplettierung der sozialphilosophischen Entfremdungstheorie durch die Nennung von plausiblen Kriterien, mit denen die Institutionen, die wahrhaft Freiheit verkörpern, identifiziert werden können, steht noch aus.

Das schmälert nicht den Verdienst dieser Arbeit, deren Befunde eindrucksvoll gezeigt haben, daß der gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurs eine personenethische Mitte besitzt, deren Normativität durch die Begrifflichkeit des kargen Rechts- und Moraluniversalismus nicht erfaßt zu werden vermag.

WOLFGANG KERSTING

Rahel Jaeggi: "Entfremdung". Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2005. 267 S., br., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit großer Zustimmung hat Wolfgang Kersting diese sozialphilosophische Studie über die Voraussetzungen guten Lebens unter dem Blickpunkt des Phänomens der Entfremdung gelesen, die Rahel Jaeggi vorgelegt hat. Ihre Analysen von Phänomenen der Beziehungslosigkeit, der gestörten Welt- und Selbstaneignung, des Sinnverlusts und des Machtverlusts haben Kersting auch methodisch überzeugt. Er unterstreicht die von Jaeggie aufgezeigten Widersprüche zwischen den Ansprüchen von Personen auf ein selbstbestimmtes Leben und den Anpassungsleistungen, die ihnen die Gesellschaft abverlangt, mit der Folge, dass sie sich in ihren Rollen verlieren, ihre Handlungsauthentizität durch Strategie und Kalkül einbüßen, sich abhanden kommen. Der Ansicht der Autorin, Schutz vor Entfremdung biete nicht abstrakte Negation, sondern nur die Bereitschaft, "sich selbst mit dem Andern der Gesellschaft zu vermitteln, an ihren Institutionen und Praktiken zu partizipieren", kann er nur beipflichten. Dass Jaeggi dabei keine Kriterien für die Zuträglichkeit von Institutionen für Personen nennt, schmälert für Kersting das grundsätzliche Verdienst dieser Arbeit nicht.

© Perlentaucher Medien GmbH
Steigt bloß nicht auf die Authentizitätswolke
"Die Befunde dieser Arbeit haben eindrucksvoll gezeigt, dass der gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurs eine personenethische Mitte besitzt, deren Normativität durch die Begrifflichkeit des kargen Rechts- und Moraluniversalismus nicht erfasst zu werden vermag." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.03.2006)

Ich will mein Leben zurück
"Das Entfremdungstheorem, zuletzt arg ramponiert, wird von der Sozialphilosophin Rahel Jaeggi auf furiose Weise renoviert ... Die Autorin spielt die theoretischen Widersprüche des Entfremdungskonzepts souverän durch, und dass ihr das streckenweise in der warmherzigen Sprache der Lebensführungsliteratur gelingt, ist ein kleines Kunststück." (die tageszeitung, 13.03.2006)

Mir ist so mies
"Dieses Buch belegt, eine wie gute Idee es ist, Entfremdung und Vergesellschaft wieder zusammen zu denken." (Frankfurter Rundschau, 05.07.2006)

Verlorenes Verhältnis zu sich selbst
"Jaeggis erstes Buch wurde von der Kritik als 'furios', 'warmherzig' und 'spannend' bezeichnet: ungewöhnlich für ein philosophisches Traktat. Es heißt 'Entfremdung' und beleuchtet diesen Begriff neu, der jahrzehntelang sehr populär war und dann, zumindest im philosophischen Diskurs, als überholt galt." (Der Spiegel, 24.09.2007)