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Während der 1970er und 1980er Jahre wuchsen die Ansprüche an demokratische Teilhabe erheblich. Viele Menschen mischten sich in die Politik ein, doch oft scheiterten ihre Hoffnungen, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Wie gingen die Engagierten damit um? Welche langfristigen Folgen zogen enttäuschte Erwartungen nach sich? Diese Studie untersucht die emotionale Verarbeitung von politischen Alltagserfahrungen in Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Sie analysiert Enttäuschung als Gegenwartsdeutung, als Beziehungsmarker und als Argument in politischen Deutungskämpfen. Sie…mehr

Produktbeschreibung
Während der 1970er und 1980er Jahre wuchsen die Ansprüche an demokratische Teilhabe erheblich. Viele Menschen mischten sich in die Politik ein, doch oft scheiterten ihre Hoffnungen, die Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Wie gingen die Engagierten damit um? Welche langfristigen Folgen zogen enttäuschte Erwartungen nach sich? Diese Studie untersucht die emotionale Verarbeitung von politischen Alltagserfahrungen in Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Sie analysiert Enttäuschung als Gegenwartsdeutung, als Beziehungsmarker und als Argument in politischen Deutungskämpfen. Sie zeigt, dass der demokratische Wettstreit um die Herzen nicht weniger intensiv geführt wurde als um die Hirne. Kollektive Gefühle werden so fassbar als Teil einer Erfahrungsgeschichte der Demokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Autorenporträt
Bernhard Gotto, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.04.2019

Das Übermaß der Erwartungen
Jetzt erst recht? Reaktionen auf politische Enttäuschungen in den siebziger und achtziger Jahren

Enttäuschung ist eine Grundbedingung menschlicher Existenz und nicht zu trennen von den Erwartungen, die ihr vorausgehen: Je mehr man erwartet, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man enttäuscht wird. Sigmund Freud meinte sogar, das Leben, das uns auferlegt ist, sei grundsätzlich zu schwer für uns, denn es bringe "zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben". Aber gilt das auch für die Politik? Und wenn ja, welche Folgerungen ergeben sich daraus, welche Schlüsse lassen sich ziehen?

Dies war das Thema der Leibniz Graduate School "Enttäuschung im 20. Jahrhundert. Utopieverlust - Verweigerung - Neuverhandlung", das zwischen 2012 und 2015 vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und dem Historischen Seminar der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität erforscht wurde.

Enttäuschung stellt demnach nicht nur eine Kategorie historischer Erfahrung dar, sondern bestimmte auch maßgeblich die politische Kultur des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt in Deutschland führte die Diskrepanz zwischen kollektiven Erwartungen und immer wieder eintretenden Enttäuschungen zu großen politischen Verwerfungen. Dies galt für die "unvollendete Demokratie" von Weimar ebenso wie für die Massenwirksamkeit "nationalistischer Phantasien und Utopien" im Nationalsozialismus, von denen Fritz Stern sagte, sie beruhten auf Enttäuschungserfahrungen, die weit in das 19. Jahrhundert zurückreichten. Und auch in der DDR wurde der "real existierende Sozialismus" den hohen Erwartungen nicht gerecht, die viele ursprünglich damit verbunden hatten.

In einem klugen und bemerkenswert unaufgeregten Buch über "Enttäuschung in der Demokratie" hat Bernhard Gotto - einer der Mitarbeiter des Münchner Forschungsverbundes - die Entwicklung in der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren untersucht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war das "Übermaß der Erwartungen" (Norbert Elias), das der "Machtwechsel" von 1969 und die Kanzlerschaft Willy Brandts auslösten. Die Reformeuphorie, die daraus erwuchs, war noch in der Ära Kohl, wenn auch unter den neuen Vorzeichen einer "geistig-moralischen Wende", spürbar. Anhand dreier Beispiele - der autonomen Frauenbewegung nach 1971, dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 und der Diskussion über die Steuerreform der christlich-liberalen Bundesregierung ab 1982 - schildert Gotto, wie in diesen beiden Jahrzehnten "kollektive Erwartungshorizonte" auf- und wieder abgebaut wurden und wie umgekehrt die Wahrnehmung und Artikulation kollektiver Enttäuschung die politische Kultur der Bundesrepublik prägte.

Zwar gelangten die Planungseuphorie und der Zukunftsoptimismus der frühen siebziger Jahre bereits vor dem Ölpreisschock 1973 an ein rasches Ende. Doch einen "Strukturbruch" oder gar das "Ende der Zuversicht" bedeutete diese Entwicklung nach Auffassung Gottos keineswegs. Vielmehr konstatiert er ein "komplexes Nebeneinander" von Aufbrüchen, Hoffnungen und Rücknahmen, bei dem Enttäuschungsäußerungen zugleich den "Appell zur Neuverhandlung" enthielten und damit die "Basis für einen neuen Konsens" bereiteten. So verfielen die Aktivistinnen der neuen Frauenbewegung keineswegs in Resignation, als die Fristenregelung bei der umstrittenen Reform des § 218 nach einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde der Opposition verworfen und durch ein Indikationsmodell ersetzt wurde. Vielmehr verarbeiteten sie ihre Enttäuschung, indem sie neue Projekte "mit ungebrochener Begeisterung" angingen. Gotto spricht sogar von einer "revitalisierenden Kraft", die den Strategien der Enttäuschungsverarbeitung innewohne.

Auch beim Mitbestimmungsgesetz von 1976 bildete die Enttäuschung über den Abschied von Emanzipations- und Reformversprechungen den "zentralen Referenzpunkt" für neue Erwartungshaltungen und kommunikative Strategien der Akteure. Nachdem der Arbeitnehmerflügel der SPD und die Gewerkschaften sich mit ihrer Forderung nach "voller Parität" nicht hatten durchsetzen können, entfalteten sie bald neue Energien, die sich in den Mitbestimmungsdebatten der achtziger Jahre niederschlugen und ihren Höhepunkt in der großangelegten Mitbestimmungskampagne des DGB 1984 erreichten. Die intensiv geführte Diskussion über eine Steuerreform, die ebenfalls 1984 begann, zeigte schließlich, dass das Reformpotential in der Bundesrepublik nach dem Ende der sozialliberalen Koalition keineswegs erschöpft war, sondern dass auch unter der Regierung Kohl weiterhin Vertrauen in die Gestaltungsmöglichkeiten der Politik bestanden - nur dass die Reformvorschläge jetzt, anders als unter den Vorgängerregierungen, mit konservativen Vorzeichen versehen waren. Statt um mehr Partizipation und Gleichberechtigung ging es nun um größere individuelle Autonomie und Leistungsgerechtigkeit.

Die Studie von Bernhard Gotto verdient vor allem deshalb Beachtung, weil sie nüchtern die hohen Ansprüche bilanziert, die der Staat nach 1969 an sich selbst stellte - und an denen er sich dann auch messen lassen musste. Die Enttäuschungen, die daraus bei den engagierten Reformern resultierten, so Gotto, hätten jedoch zu keinem Zeitpunkt die Stabilität der Demokratie in der Bundesrepublik ernsthaft gefährdet. Vielmehr hätten sich "Aushandlungsmodi und Bewältigungsformen" stets im Rahmen demokratischer akzeptierter Verfahren bewegt. Vor diesem Hintergrund warnt Gotto davor, ohne ausreichende Distanz zum Gegenstand vorschnell Zäsuren und Umbrüche auszumachen und von Zeitenwenden zu sprechen, die es, sobald die Hintergründe näher ausgeleuchtet werden, gar nicht gibt. Enttäuschung allein, so sein Resümee, "taugt nicht als Epochenlabel".

MANFRED GÖRTEMAKER

Bernhard Gotto: Enttäuschung in der Demokratie. Erfahrung und Deutung von politischem Engagement in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er und 1980er Jahre. De Gruyter Oldenbourg Verlag, München 2018. 402 S., 59,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als "klug und bemerkenswert unaufgeregt" charakterisiert der emeritierte Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker dieses Buch, das eine Tour d'horizon über Aufbruchshoffnungen und den damit verbundenen Enttäuschungen in der Bundesrepublik nach 1945 biete. Drei Fallstudien nennt er: Die für ein Abtreibungsrecht kämpfende Frauenbewegung Anfang der Siebziger, das Mitbestimmungsgesetz etwas später und die Steuerreform der christlich-liberalen Koalition in den Achtzigern. Natürlich hätten all diese Reformen nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt. Aber es sei in der Bundesrepublik gelungen, die Enttäuschung als geradezu "revitalisierende Kraft" einzusetzen. Nie sei das "Vertrauen in die Gestaltungsmöglichkeit" verloren gegangen. Ob es in dem Band eine Reflexion über die Gegenwart oder eine Entgegensetzung zwischen damals und heute gibt, erwähnt der Rezensent nicht, der sich nur den Erkenntnissen des Bandes anschließt und davor warnt, voreilig Epochenbrüche zu diagnostizieren.

© Perlentaucher Medien GmbH
Ein kluges und bemerkenswert unaufgeregtes Buch.
Manfred Görtemaker in: FAZ 84 (09.04.2019), 6

"Analytisch auf hohem Niveau und auf breiter Quellenbasis dicht beschreibend, belegt Bernhard Gottos Studie, dass keine simple Kausalkette von politischen Enttäuschungserfahrungen zur Abwendung von der Demokratie führt. Sie vermittelt dabei erhellende Einblicke in das Emotionsmanagement der verschiedenen Akteursgruppen und besonders auch in die relevanten Rückkopplungsschleifen zwischen Politik und Medien. Damit ergänzt sie die Forschung zu den behandelten Themenfeldern um eine anregende emotions- wie auch mediengeschichtliche Perspektive."
Maik Tändler in: H-Soz-Kult, 26.08.2019, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27896 Abgerufen am 20.09.2019