Wir sind in einem Zeitalter angekommen, in dem der Mensch verschwinden könnte - und mit ihm die Welt, die er so gnadenlos ausbeutet. Denn was ist heute für uns nicht billig und schnell zu haben - auf Kosten der vielen Menschen, die weniger privilegiert sind als wir? Wir ruinieren unsere Erde, wenn wir nicht schleunigst kooperative Wege des Zusammenlebens und Wirtschaftens finden und den westlichen Raubtierkapitalismus bändigen. Das ist die Botschaft des Ökonomen Raj Patel und des Historikers Jason W. Moore. In sieben Kapiteln widmen sie sich jeweils einem Aspekt dieser Entwertung der Welt: Natur wird ebenso entwertet wie Geld, Arbeit, Pflege, Nahrung, Energie und Leben. So eindrücklich wie umfassend schildern sie, dass die Krisen unserer Zeit in Wirklichkeit eine einzige Krise sind und dass diese einen langen Vorlauf in der Geschichte hat. Wenn heute billige Arbeitskräfte billige Chlorhühnchen zu billigen Chickenwings verarbeiten, dann ist das, wie sie exemplarisch schildern, einzerstörerisches Wirtschaftsprinzip, das sich über Jahrhunderte herausgebildet hat.
Patel und Moore führen vor Augen, dass es an der Zeit ist, diese Entwicklung zu durchbrechen und unser Wirtschafts- und Sozialsystem anders zu denken, wenn wir unsere Welt verstehen und damit bewahren wollen.
Patel und Moore führen vor Augen, dass es an der Zeit ist, diese Entwicklung zu durchbrechen und unser Wirtschafts- und Sozialsystem anders zu denken, wenn wir unsere Welt verstehen und damit bewahren wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018In einer Welt, in der wir gut und gerne leben
So wird es der Mensch nicht mehr lange machen: Raj Patel und Jason W. Moore suchen Wege aus der Kapitalismusfalle.
Von Hannes Hintermeier
Wer nennt die Titel, die allein seit dem Bericht "Die Grenzen des Wachstums", 1972 vom Club of Rome vorgelegt, die überfällige Kehrtwende globalen Wirtschaftens gefordert haben? Wie viele Apfelbäumchen wurden nach Hoimar von Ditfurths Bestellers von 1985 gepflanzt? Wie viele Ökologie- und Globalisierungskritiken füllen Bibliotheken, und immer noch regiert "der alte Schlawiner", wie Peter Licht den Kapitalismus nennt? Für den Buchmarkt wie für andere Märkte auch ist das ein Segen, hält das Genre doch Nebeneinkünfte bereit, wie im vorliegenden Fall für die Amerikaner Raj Patel und Jason W. Moore.
Der eine ist Ökonom an der Universität von Texas, der andere unterrichtet Weltgeschichte, Soziologie und Ökologie an der Universität von Binghampton, einer staatlichen Hochschule im Bundesstaat New York. Beider Ausgangsbefund lautet: Wir befinden uns im Kapitalozän, und "für die meisten Menschen ist es einfacher, sich das Ende des Planeten vorzustellen als das Ende des Kapitalismus".
Die Autoren sammeln auf dem Weg der historischen Herleitung Argumente, um das zerstörerische Wirtschaftsprinzip, welches das sechste Massensterben in der Geschichte des Planeten mitverursacht habe und das in absehbarer Zeit diesen endgültig ruinieren werde, gegen eine neue Weltökologie auszuwechseln. Die im Titel angezeigte "Entwertung" bezieht sich aber keineswegs auf "Dinge". Wer glaubt, hier würden Massenprodukte und ihr Weg um den Globus als Fallbeispiele vorgeführt, irrt. Es geht nicht primär um T-Shirts oder das befruchtete Ei, aus dem unter Zugabe von vier Kilo Futter innerhalb von fünf Wochen ein Zwei-Kilo-Hähnchen wird, es geht um sieben "Gegenstände", die der Kapitalismus systematisch entwertet - Natur, Geld, Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie, Leben.
Auf ihrer Fahrt um den Globus folgen Patel und Moore als leitmotivischer Figur den Seewegen des Kolumbus, in welchem sie einen der schlimmsten Frühkapitalisten erkennen: Alles, worauf der Entdecker stieß - Menschen, Pflanzen, Bodenschätze -, habe er sogleich auf spätere Verwendungmöglichkeit taxiert. Getreu der Maxime des Kapitalismus, natürliche Ressourcen nicht zu vernichten, sondern für sich arbeiten zu lassen.
Gerissen ist seither die Einbindung des Menschen in das, was die Autoren "das weite Netz des Lebens" nennen, und das es wiederherzustellen gelte. Im Fall von Kolumbus und den Indigenen lief das so: Wer nicht mehr als Mensch zählt, wird der Natur zugerechnet, wie ein Ausgestoßener behandelt und also verbilligt - fertig ist der Sklave. Schlimm scheint den Autoren nicht nur zu sein, dass der Kapitalismus mit dieser Strategie seinen Fortbestand sichert, schlimm ist, dass die Menschheit diese Strategie mittlerweile so sehr internalisiert hat, dass sie nicht mehr darüber nachdenkt.
Soll der Mensch aber nicht hauptsächlich mit Nahrungsbeschaffung beschäftigt sein, braucht er billige Nahrung, damit er jeden Tag arbeiten kann. Dass wir heute den größten Teil unseres Einkommens für Wohnen und Mobilität ausgeben, sei historisch neu. Weniger als sieben Prozent vom Haushaltsnetto geben Nordamerikaner für Lebensmittelkonsum aus, die Deutschen immerhin noch mehr als vierzehn. Der angesichts des weit ausgreifenden Ansatzes recht kursorisch ausfallende Durchgang durch die Geschichte erinnert an den Untergang der Feudalgesellschaft, Wegfall der Allmende, die weltweite Abholzung, die mehr als zweihundert Jahre lang von Brasilien über die Molukken, Polen, Russland und England erfolgte; Berge, die von den Anden bis Schweden durchlöchert wurden, Feuchtgebiete, die trockengelegt wurden - alles, um billige Natur zu schaffen, dabei stets dem kartesischen Denken verpflichtet und in kompletter Zurückweisung indigenen Wissens.
Die Verflechtungen von Macht und Geld deklinieren die Autoren am Beispiel der Armeen- und Kriegsfinanzierung durch. Vor allem die Genueser Bankiers taten sich hier hervor. Den Spaniern folgten im siebzehnten Jahrhundert die Niederländer als Supermacht, indem sie billiges Kapital zur Finanzierung ihrer Expansion einsetzten. Und so geht es hin zum Kolonialismus, zur Erfindung der mechanischen Uhr, Agrarrevolution, industrieller Revolution, Fordismus. Eine hübsche Miniatur ist auf diesem Weg die Interpretation des Gemäldes "Mr. and Mrs. Andrews" von Thomas Gainsborough (um 1750), das die Autoren als noch heute aktuelle Folie dessen deuten, was sie die "Große Domestizierung" nennen - die Bündelung von Menschen in Haushalten, die durch Fürsorgearbeit geprägt sind.
Zur Untermauerung ihrer Thesen fahren Patel und Moore ein Literaturverzeichnis mit mehr als vierhundert Titeln und siebenhundert Fußnoten auf, mit Belegstellen aus vielen Wissensgebieten. Viele Wiederholungen gehen auf das Konto des amerikanischen Lektorats, schade, dass sie in der deutschen Ausgabe mit ihrem apathischen Cover stehengeblieben sind. Dass Deutschland als Hegemon in Europa in Sachen Sparpolitik varoufakishaft sein Fett wegbekommt, ist erwartbar, aber bitte nicht mit der törichten Zuschreibung, deutsche Touristen genössen in Griechenland "Landschaft und Meer zu Vorzugspreisen", während die Griechen - nach eigenen Angaben! - länger arbeiteten als die Teutonen und sich dennoch der Faulheit zeihen lassen müssten.
Wer also soll es am Ende richten? Die von den Autoren erhoffte "Wiedergutmachungsökologie"? Gewerkschaften, Klima- und Nahrungsaktivisten, Occupy, BlackLivesMatter, radikale Ökologen, Bewegungen wie "La Via Campesina", "Movement for Black Lives", "Idle No More", "Pan y Rosas" oder "Reclaim the Streets"? Die aufgezeigten Auswege sind noch sehr zarte Pflänzchen, zumal selbst die Autoren Zweifel am Umstiegswillen einer planetarischen Mehrheit plagen. Immerhin wird über die Möglichkeit einer restorative justice nachgedacht, die als Alternative zur Inhaftierung darauf zielt, den Status quo wiederherzustellen. Der alte Schlawiner ist schrecklich zäh.
Raj Patel und Jason W. Moore: "Entwertung". Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen.
Aus dem Englischen von Albrecht Schreiber. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018. 349 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So wird es der Mensch nicht mehr lange machen: Raj Patel und Jason W. Moore suchen Wege aus der Kapitalismusfalle.
Von Hannes Hintermeier
Wer nennt die Titel, die allein seit dem Bericht "Die Grenzen des Wachstums", 1972 vom Club of Rome vorgelegt, die überfällige Kehrtwende globalen Wirtschaftens gefordert haben? Wie viele Apfelbäumchen wurden nach Hoimar von Ditfurths Bestellers von 1985 gepflanzt? Wie viele Ökologie- und Globalisierungskritiken füllen Bibliotheken, und immer noch regiert "der alte Schlawiner", wie Peter Licht den Kapitalismus nennt? Für den Buchmarkt wie für andere Märkte auch ist das ein Segen, hält das Genre doch Nebeneinkünfte bereit, wie im vorliegenden Fall für die Amerikaner Raj Patel und Jason W. Moore.
Der eine ist Ökonom an der Universität von Texas, der andere unterrichtet Weltgeschichte, Soziologie und Ökologie an der Universität von Binghampton, einer staatlichen Hochschule im Bundesstaat New York. Beider Ausgangsbefund lautet: Wir befinden uns im Kapitalozän, und "für die meisten Menschen ist es einfacher, sich das Ende des Planeten vorzustellen als das Ende des Kapitalismus".
Die Autoren sammeln auf dem Weg der historischen Herleitung Argumente, um das zerstörerische Wirtschaftsprinzip, welches das sechste Massensterben in der Geschichte des Planeten mitverursacht habe und das in absehbarer Zeit diesen endgültig ruinieren werde, gegen eine neue Weltökologie auszuwechseln. Die im Titel angezeigte "Entwertung" bezieht sich aber keineswegs auf "Dinge". Wer glaubt, hier würden Massenprodukte und ihr Weg um den Globus als Fallbeispiele vorgeführt, irrt. Es geht nicht primär um T-Shirts oder das befruchtete Ei, aus dem unter Zugabe von vier Kilo Futter innerhalb von fünf Wochen ein Zwei-Kilo-Hähnchen wird, es geht um sieben "Gegenstände", die der Kapitalismus systematisch entwertet - Natur, Geld, Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie, Leben.
Auf ihrer Fahrt um den Globus folgen Patel und Moore als leitmotivischer Figur den Seewegen des Kolumbus, in welchem sie einen der schlimmsten Frühkapitalisten erkennen: Alles, worauf der Entdecker stieß - Menschen, Pflanzen, Bodenschätze -, habe er sogleich auf spätere Verwendungmöglichkeit taxiert. Getreu der Maxime des Kapitalismus, natürliche Ressourcen nicht zu vernichten, sondern für sich arbeiten zu lassen.
Gerissen ist seither die Einbindung des Menschen in das, was die Autoren "das weite Netz des Lebens" nennen, und das es wiederherzustellen gelte. Im Fall von Kolumbus und den Indigenen lief das so: Wer nicht mehr als Mensch zählt, wird der Natur zugerechnet, wie ein Ausgestoßener behandelt und also verbilligt - fertig ist der Sklave. Schlimm scheint den Autoren nicht nur zu sein, dass der Kapitalismus mit dieser Strategie seinen Fortbestand sichert, schlimm ist, dass die Menschheit diese Strategie mittlerweile so sehr internalisiert hat, dass sie nicht mehr darüber nachdenkt.
Soll der Mensch aber nicht hauptsächlich mit Nahrungsbeschaffung beschäftigt sein, braucht er billige Nahrung, damit er jeden Tag arbeiten kann. Dass wir heute den größten Teil unseres Einkommens für Wohnen und Mobilität ausgeben, sei historisch neu. Weniger als sieben Prozent vom Haushaltsnetto geben Nordamerikaner für Lebensmittelkonsum aus, die Deutschen immerhin noch mehr als vierzehn. Der angesichts des weit ausgreifenden Ansatzes recht kursorisch ausfallende Durchgang durch die Geschichte erinnert an den Untergang der Feudalgesellschaft, Wegfall der Allmende, die weltweite Abholzung, die mehr als zweihundert Jahre lang von Brasilien über die Molukken, Polen, Russland und England erfolgte; Berge, die von den Anden bis Schweden durchlöchert wurden, Feuchtgebiete, die trockengelegt wurden - alles, um billige Natur zu schaffen, dabei stets dem kartesischen Denken verpflichtet und in kompletter Zurückweisung indigenen Wissens.
Die Verflechtungen von Macht und Geld deklinieren die Autoren am Beispiel der Armeen- und Kriegsfinanzierung durch. Vor allem die Genueser Bankiers taten sich hier hervor. Den Spaniern folgten im siebzehnten Jahrhundert die Niederländer als Supermacht, indem sie billiges Kapital zur Finanzierung ihrer Expansion einsetzten. Und so geht es hin zum Kolonialismus, zur Erfindung der mechanischen Uhr, Agrarrevolution, industrieller Revolution, Fordismus. Eine hübsche Miniatur ist auf diesem Weg die Interpretation des Gemäldes "Mr. and Mrs. Andrews" von Thomas Gainsborough (um 1750), das die Autoren als noch heute aktuelle Folie dessen deuten, was sie die "Große Domestizierung" nennen - die Bündelung von Menschen in Haushalten, die durch Fürsorgearbeit geprägt sind.
Zur Untermauerung ihrer Thesen fahren Patel und Moore ein Literaturverzeichnis mit mehr als vierhundert Titeln und siebenhundert Fußnoten auf, mit Belegstellen aus vielen Wissensgebieten. Viele Wiederholungen gehen auf das Konto des amerikanischen Lektorats, schade, dass sie in der deutschen Ausgabe mit ihrem apathischen Cover stehengeblieben sind. Dass Deutschland als Hegemon in Europa in Sachen Sparpolitik varoufakishaft sein Fett wegbekommt, ist erwartbar, aber bitte nicht mit der törichten Zuschreibung, deutsche Touristen genössen in Griechenland "Landschaft und Meer zu Vorzugspreisen", während die Griechen - nach eigenen Angaben! - länger arbeiteten als die Teutonen und sich dennoch der Faulheit zeihen lassen müssten.
Wer also soll es am Ende richten? Die von den Autoren erhoffte "Wiedergutmachungsökologie"? Gewerkschaften, Klima- und Nahrungsaktivisten, Occupy, BlackLivesMatter, radikale Ökologen, Bewegungen wie "La Via Campesina", "Movement for Black Lives", "Idle No More", "Pan y Rosas" oder "Reclaim the Streets"? Die aufgezeigten Auswege sind noch sehr zarte Pflänzchen, zumal selbst die Autoren Zweifel am Umstiegswillen einer planetarischen Mehrheit plagen. Immerhin wird über die Möglichkeit einer restorative justice nachgedacht, die als Alternative zur Inhaftierung darauf zielt, den Status quo wiederherzustellen. Der alte Schlawiner ist schrecklich zäh.
Raj Patel und Jason W. Moore: "Entwertung". Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen.
Aus dem Englischen von Albrecht Schreiber. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018. 349 S., geb., 24,- [Euro].
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Patel und Moore haben mit Entwertung einen brillanten und originellen Zugang gewählt, der es uns erlaubt, die drängendsten Krisen unserer Zeit zu verstehen. Naomi Klein