Von Joachim Ritter (1903-1974) gingen entscheidende Beiträge zum philosophischen Diskurs der Bundesrepublik aus, etwa hinsichtlich der Rolle der Geisteswissenschaften in der modernen Industriegesellschaft, der Erneuerung der praktischen Philosophie oder des Sinns theoretischer Bildung. Darüber hinaus hat sein hochschul- und wissenschaftspolitischer Einsatz sowohl den Wiederaufbau universitärer Strukturen nach dem Krieg als auch ihre Reform im Laufe der folgenden Jahrzehnte maßgeblich mitgetragen und so auch die institutionelle Verfassung akademischer Forschung und Lehre nachhaltig geprägt. Viele seiner Schüler wurden bedeutende Gelehrte der Bundesrepublik und wirkten als Publizisten und Sachverständige, in politischen Ämtern und hochschulpolitischen Gremien, im Rechtswesen oder in kirchlichem Auftrag zum Teil weit über den akademischen Wissenschaftsbetrieb selbst hinaus. Mit dieser Arbeit liegt die erste systematische Gesamtdarstellung von Joachim Ritters Werk vor. Sie interpretiert seine Philosophie als eine philosophische Theorie der modernen Welt, die sowohl der weltgeschichtlichen Bedeutung der Moderne als auch ihrer inneren Problematik und Gefährdung gerecht zu werden sucht. Im Zuge dessen werden auch Ritters wegweisende Überlegungen zur praktischen Philosophie sowie seine Konzeption von Philosophie als Hermeneutik der geschichtlichen Wirklichkeit in den Blick genommen. Ein Ausblick zur Wirkung Joachim Ritters unter seinen Schülern Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann sowie zur Aktualität seines Denkens schließt den Band ab.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Claudio Steiger hat seine Einwände gegen Mark Schwedas Versuch, den Philosophen Joachim Ritter aus der Historisierung und in die Aktualität zu holen. Zwar schätzt er Schwedas Engagement als auch der Kritik am Neokonservativen Ritter offene Darstellung der ganzen Spannbreite seines Denkens, doch scheint ihm der Autor insgesamt allzu affirmativ vozugehen. Vor allem Ritters Bekenntnis zu Hitler und seine theoretische Orientierung im Dritten Reich hätte der Rezensent gern kritischer beleuchtet gesehen. In Schwedas Darstellung der späteren Nachkriegsjahre vermag er Ritter dann als großen Hegelianer und Essayisten zu erkennen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.07.2014Übungen in verzweiflungsfreier Affirmation
Mark Schweda will in den Schriften des Philosophen Joachim Ritter (1903-1974) eine Theorie der Moderne entdecken
Entweder regnet es in Münster, behauptet der westfälische Volksmund, oder die Glocken läuten. Ob Regenwetter der Philosophie nützt, ist unerforscht, der bedeutende Einfluss des Katholizismus auf ihre Geschichte gut belegt. Doch ist Joachim Ritter, der an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster von 1946 bis 1968 Philosophie gelehrt hat, kein Katholik gewesen, wie übrigens die meisten Philosophen deutscher Zunge. Er kommt 1903 als Sohn protestantischer Eltern in der Nähe von Hamburg zur Welt. Dort, in der Freien und Hansestadt, hat ihn sein Lehrer Ernst Cassirer im November 1925 mit einer Dissertation über Nikolaus von Kues promoviert. Sieben Jahre später legt Ritter eine gelehrte Studie zur Ontologie des Kirchenvaters Augustinus vor.
Die Habilitation seines Assistenten muss der Neukantianer Cassirer 1932 gegen den Widerstand der Fakultät durchsetzen. Zwar wird Ritters wissenschaftliche Qualifikation nicht bezweifelt, doch argwöhnt man, der 29-jährige Philosoph sei Marxist. Bei Mark Schweda, der eine sorgfältig recherchierte und argumentierende Monografie zu Ritters „philosophischer Theorie der modernen Welt“ verfasst hat, ist jetzt nachzulesen, dass es „keine Belege für eine Mitgliedschaft Ritters in der kommunistischen Partei“ gibt. Doch hat Alfred Sohn-Rethel, marxistischer Ökonom, dem jungen Ritter immerhin „Verbindungen zu sozialistischen illegalen Widerstandsgruppen in Hamburg“ bescheinigt.
Nach 1933 tilgt Ritter etwaige Affinitäten zu marxistischen Positionen der Zwischenkriegszeit. Er passt sich den neuen Verhältnissen an, wird zum Wehrdienst eingezogen, erlebt das Kriegsende in englischer Kriegsgefangenschaft, nimmt, aus England zurückgekehrt, schließlich den Ruf auf den Münsteraner Lehrstuhl an. Dort wird er mehr als zwei Jahrzehnte lang wirken. Er ruft das Collegium Philosophicum ins Leben, wird zum Gründungsherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, womit er sich bedeutende Verdienste um die Erforschung der philosophischen Begriffsgeschichte erwirbt, an der Etablierung einer neuen Subdisziplin innerhalb der Geisteswissenschaft mitwirkt, und er steht der sogenannten Ritter-Schule vor. Sie wird bis auf den heutigen Tage durch exponierte Köpfe wie Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann repräsentiert, Philosophen, deren intellektuelle Profile allerdings derart unterschiedlich ausfallen, dass ein echter Schulzusammenhang mit Gründen bezweifelt werden darf.
Nachdem der politische Ideenhistoriker Jens Hacke in einer viel beachteten Studie den Beitrag der Ritter-Schule zur liberal-konservativen Neugründung der Bundesrepublik herausgearbeitet hatte, geht es dem Philosophen und Medizinethiker Mark Schweda mit seinem Buch „Entzweiung und Kompensation“ nun um den Versuch, Ritter sowohl gegen seine Kritiker wie auch gegen seine prominenten Schüler als einen systematischen Philosophen mit eigener Stimme lesbar zu machen. Ritter habe im Anschluss an die politische Theorie von Aristoteles wie an Hegels Rechtsphilosophie nicht nur die praktische Philosophie rehabilitiert, sondern eine geschlossene Theorie der „bürgerlichen industriellen Gesellschaft“ vorgelegt, die nicht zuletzt in ihren zeitdiagnostischen Erträgen ernst zu nehmen sei.
Schwedas Ansinnen ist kühn, hat Ritter doch außer seinen akademischen Qualifikationsarbeiten zeit seines Lebens keine einzige Abhandlung in Buchform publiziert, sondern sich primär in Aufsätzen geäußert, die nach Themenwahl und literarischer Gestalt Interpretationen klassischer Texte der Philosophiegeschichte waren. Die Theorie der Moderne, die Schweda Ritter zuschreibt, ist folglich aus Texten zu rekonstruieren, die andere Texte ausgelegt haben. Damit drängt sich die Frage auf, ob sich allein durch Textinterpretationen eine Analyse der Moderne erarbeiten lässt, die es mit den zerrissenen Wirklichkeiten dieser Epoche aufnehmen kann. Und selbst wenn klar wäre, was eine solche Theorie eigentlich thematisiert und in welcher Bedeutung sie als „philosophisch“ gelten kann, müsste gefragt werden, ob es überhaupt sinnvoll ist, von „der“ Moderne zu sprechen. Hat uns der jüngste Globalisierungsschub nicht gelehrt, dass sich unter dem Dach der Weltgesellschaft eine Vielzahl unterschiedlicher Modernitäten entwickelt haben? Lassen sich Schwellenländer wie Brasilien oder Indien, ein autokratisches Regime wie Russland unter Putin oder der durch eine korrupte Kommunistische Partei dirigierte chinesische Kapitalismus seriös als „bürgerlich industrielle“ Gesellschaften beschreiben?
Sachliche Bedenken dieses Typs irritieren den Exegeten Schweda genauso wenig wie die philologischen Einwände, die sich Ritters zum Teil eigenwillige Interpretation – ob sie nun mit Argumentationsfiguren aus der Philosophie des Aristoteles oder mit Hegelscher Begriffsarbeit befasst waren – eingehandelt haben. Immer neu und immer wieder nimmt Schweda seinen philosophischen Meister gegen eine Kritik in Schutz, die Ritter entweder Behauptungen unterstellt, die er nach Schwedas Verständnis nie aufgestellt hat, oder Details beckmesserisch aufbläst, die Ritters dialektische Argumentation in ihrem systematischen Zugriff nicht erschüttern können. Dabei dienen solche, gelegentlich durchaus subtil ausgeführten Abwehrgefechte stets der apologetischen Absicht, das analytische Leistungsvermögen von Ritters affirmativer Theorie der Moderne herauszustellen. Keine Windung seiner Gedanken bleibt unbeleuchtet.
Prinzipiell teilt Schweda die normative Umwertung, mit der Ritters Verteidigung der Unkosten anhebt, die in der bürgerlichen Gesellschaft anfallen, weil sie ihren Bürgerinnen und Bürgern die „Freiheit des Seinkönnens“ ermöglicht. Diese Freiheit ist Ritter zufolge ohne „Entzweiung“ nicht zu haben. Also ist sie inklusiv aller Gegensätze zu bejahen, die zum Faktum erfahrbarer Entfremdung gehören. Hat die geschichtlich errungene Möglichkeit individueller Selbstverwirklichung das Auseinandertreten von Herkunft und Zukunft, von Tradition und Gegenwart, von „bourgeois“ und „citoyen“, von öffentlicher und privater Existenz, von Wirtschaft und Politik zur objektiven Voraussetzung, muss das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt ertragen werden – anders als es Hegels Rechtsphilosophie sah, die im Staat der konstitutionellen Monarchie das historische Individuum feiert, in dem sich zugleich die Allgemeinheit verkörpert.
Aus der Positivierung von Entzweiung zieht Ritter, wie Schwedas Rekonstruktion überzeugend nachzeichnet, die unumgehbare Konsequenz: Im Gegensatz zu Sören Kierkegaard, der meinte, ohne einen Sprung in den Glauben könne ein Individuum nur verzweifelt es selbst oder nicht es selbst sein wollen, traut Ritter dem die Entzweiung ertragenden und seine negative Freiheit genießenden Einzelnen die Kraft zu, zwischen der Subjektivität seiner Existenz und der Objektivität der gesellschaftlichen Verhältnisse zu vermitteln. Vermittlung heißt dann allerdings, die geschichtliche Kausalität, die Entzweiung aufnötigt, um Selbstseinkönnen zu ermöglichen, nicht nur für notwendig, sondern auch für vernünftig zu halten. Andernfalls wäre Freiheit ja nur das Geschenk eines Zufalls.
Ritters Theorie der Moderne wartet mit einer Zumutung auf. Die aufgeklärten Bürger müssten in der Wirklichkeit moderner Entzweiung die Manifestation einer Vernunft gutheißen, die in der Geschichte mit faustischem Elan waltet und doch der Grund ihrer Freiheit ist. Schon angesichts der Nachrichtenlage eines beliebigen Wochentags dürfte sich diese Übung in verzweiflungsfreier Affirmation als ziemlich anspruchsvoll erweisen. Nicht auszuschließen, dass Glockengeläut hilft . . . und gutes Wetter.
MARTIN BAUER
Mark Schweda: Entzweiung und Kompensation. Joachim Ritters philosophische Theorie der modernen Welt. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2014. 495 Seiten, 49 Euro.
Von sachlichen Einwänden
lässt sich der kühne Ritter-Exeget
nicht erschüttern
Der deutsche Philosoph Joachim Ritter (1903-1974).
Foto: ullstein/Fritz Eschen
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Mark Schweda will in den Schriften des Philosophen Joachim Ritter (1903-1974) eine Theorie der Moderne entdecken
Entweder regnet es in Münster, behauptet der westfälische Volksmund, oder die Glocken läuten. Ob Regenwetter der Philosophie nützt, ist unerforscht, der bedeutende Einfluss des Katholizismus auf ihre Geschichte gut belegt. Doch ist Joachim Ritter, der an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster von 1946 bis 1968 Philosophie gelehrt hat, kein Katholik gewesen, wie übrigens die meisten Philosophen deutscher Zunge. Er kommt 1903 als Sohn protestantischer Eltern in der Nähe von Hamburg zur Welt. Dort, in der Freien und Hansestadt, hat ihn sein Lehrer Ernst Cassirer im November 1925 mit einer Dissertation über Nikolaus von Kues promoviert. Sieben Jahre später legt Ritter eine gelehrte Studie zur Ontologie des Kirchenvaters Augustinus vor.
Die Habilitation seines Assistenten muss der Neukantianer Cassirer 1932 gegen den Widerstand der Fakultät durchsetzen. Zwar wird Ritters wissenschaftliche Qualifikation nicht bezweifelt, doch argwöhnt man, der 29-jährige Philosoph sei Marxist. Bei Mark Schweda, der eine sorgfältig recherchierte und argumentierende Monografie zu Ritters „philosophischer Theorie der modernen Welt“ verfasst hat, ist jetzt nachzulesen, dass es „keine Belege für eine Mitgliedschaft Ritters in der kommunistischen Partei“ gibt. Doch hat Alfred Sohn-Rethel, marxistischer Ökonom, dem jungen Ritter immerhin „Verbindungen zu sozialistischen illegalen Widerstandsgruppen in Hamburg“ bescheinigt.
Nach 1933 tilgt Ritter etwaige Affinitäten zu marxistischen Positionen der Zwischenkriegszeit. Er passt sich den neuen Verhältnissen an, wird zum Wehrdienst eingezogen, erlebt das Kriegsende in englischer Kriegsgefangenschaft, nimmt, aus England zurückgekehrt, schließlich den Ruf auf den Münsteraner Lehrstuhl an. Dort wird er mehr als zwei Jahrzehnte lang wirken. Er ruft das Collegium Philosophicum ins Leben, wird zum Gründungsherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, womit er sich bedeutende Verdienste um die Erforschung der philosophischen Begriffsgeschichte erwirbt, an der Etablierung einer neuen Subdisziplin innerhalb der Geisteswissenschaft mitwirkt, und er steht der sogenannten Ritter-Schule vor. Sie wird bis auf den heutigen Tage durch exponierte Köpfe wie Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann repräsentiert, Philosophen, deren intellektuelle Profile allerdings derart unterschiedlich ausfallen, dass ein echter Schulzusammenhang mit Gründen bezweifelt werden darf.
Nachdem der politische Ideenhistoriker Jens Hacke in einer viel beachteten Studie den Beitrag der Ritter-Schule zur liberal-konservativen Neugründung der Bundesrepublik herausgearbeitet hatte, geht es dem Philosophen und Medizinethiker Mark Schweda mit seinem Buch „Entzweiung und Kompensation“ nun um den Versuch, Ritter sowohl gegen seine Kritiker wie auch gegen seine prominenten Schüler als einen systematischen Philosophen mit eigener Stimme lesbar zu machen. Ritter habe im Anschluss an die politische Theorie von Aristoteles wie an Hegels Rechtsphilosophie nicht nur die praktische Philosophie rehabilitiert, sondern eine geschlossene Theorie der „bürgerlichen industriellen Gesellschaft“ vorgelegt, die nicht zuletzt in ihren zeitdiagnostischen Erträgen ernst zu nehmen sei.
Schwedas Ansinnen ist kühn, hat Ritter doch außer seinen akademischen Qualifikationsarbeiten zeit seines Lebens keine einzige Abhandlung in Buchform publiziert, sondern sich primär in Aufsätzen geäußert, die nach Themenwahl und literarischer Gestalt Interpretationen klassischer Texte der Philosophiegeschichte waren. Die Theorie der Moderne, die Schweda Ritter zuschreibt, ist folglich aus Texten zu rekonstruieren, die andere Texte ausgelegt haben. Damit drängt sich die Frage auf, ob sich allein durch Textinterpretationen eine Analyse der Moderne erarbeiten lässt, die es mit den zerrissenen Wirklichkeiten dieser Epoche aufnehmen kann. Und selbst wenn klar wäre, was eine solche Theorie eigentlich thematisiert und in welcher Bedeutung sie als „philosophisch“ gelten kann, müsste gefragt werden, ob es überhaupt sinnvoll ist, von „der“ Moderne zu sprechen. Hat uns der jüngste Globalisierungsschub nicht gelehrt, dass sich unter dem Dach der Weltgesellschaft eine Vielzahl unterschiedlicher Modernitäten entwickelt haben? Lassen sich Schwellenländer wie Brasilien oder Indien, ein autokratisches Regime wie Russland unter Putin oder der durch eine korrupte Kommunistische Partei dirigierte chinesische Kapitalismus seriös als „bürgerlich industrielle“ Gesellschaften beschreiben?
Sachliche Bedenken dieses Typs irritieren den Exegeten Schweda genauso wenig wie die philologischen Einwände, die sich Ritters zum Teil eigenwillige Interpretation – ob sie nun mit Argumentationsfiguren aus der Philosophie des Aristoteles oder mit Hegelscher Begriffsarbeit befasst waren – eingehandelt haben. Immer neu und immer wieder nimmt Schweda seinen philosophischen Meister gegen eine Kritik in Schutz, die Ritter entweder Behauptungen unterstellt, die er nach Schwedas Verständnis nie aufgestellt hat, oder Details beckmesserisch aufbläst, die Ritters dialektische Argumentation in ihrem systematischen Zugriff nicht erschüttern können. Dabei dienen solche, gelegentlich durchaus subtil ausgeführten Abwehrgefechte stets der apologetischen Absicht, das analytische Leistungsvermögen von Ritters affirmativer Theorie der Moderne herauszustellen. Keine Windung seiner Gedanken bleibt unbeleuchtet.
Prinzipiell teilt Schweda die normative Umwertung, mit der Ritters Verteidigung der Unkosten anhebt, die in der bürgerlichen Gesellschaft anfallen, weil sie ihren Bürgerinnen und Bürgern die „Freiheit des Seinkönnens“ ermöglicht. Diese Freiheit ist Ritter zufolge ohne „Entzweiung“ nicht zu haben. Also ist sie inklusiv aller Gegensätze zu bejahen, die zum Faktum erfahrbarer Entfremdung gehören. Hat die geschichtlich errungene Möglichkeit individueller Selbstverwirklichung das Auseinandertreten von Herkunft und Zukunft, von Tradition und Gegenwart, von „bourgeois“ und „citoyen“, von öffentlicher und privater Existenz, von Wirtschaft und Politik zur objektiven Voraussetzung, muss das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt ertragen werden – anders als es Hegels Rechtsphilosophie sah, die im Staat der konstitutionellen Monarchie das historische Individuum feiert, in dem sich zugleich die Allgemeinheit verkörpert.
Aus der Positivierung von Entzweiung zieht Ritter, wie Schwedas Rekonstruktion überzeugend nachzeichnet, die unumgehbare Konsequenz: Im Gegensatz zu Sören Kierkegaard, der meinte, ohne einen Sprung in den Glauben könne ein Individuum nur verzweifelt es selbst oder nicht es selbst sein wollen, traut Ritter dem die Entzweiung ertragenden und seine negative Freiheit genießenden Einzelnen die Kraft zu, zwischen der Subjektivität seiner Existenz und der Objektivität der gesellschaftlichen Verhältnisse zu vermitteln. Vermittlung heißt dann allerdings, die geschichtliche Kausalität, die Entzweiung aufnötigt, um Selbstseinkönnen zu ermöglichen, nicht nur für notwendig, sondern auch für vernünftig zu halten. Andernfalls wäre Freiheit ja nur das Geschenk eines Zufalls.
Ritters Theorie der Moderne wartet mit einer Zumutung auf. Die aufgeklärten Bürger müssten in der Wirklichkeit moderner Entzweiung die Manifestation einer Vernunft gutheißen, die in der Geschichte mit faustischem Elan waltet und doch der Grund ihrer Freiheit ist. Schon angesichts der Nachrichtenlage eines beliebigen Wochentags dürfte sich diese Übung in verzweiflungsfreier Affirmation als ziemlich anspruchsvoll erweisen. Nicht auszuschließen, dass Glockengeläut hilft . . . und gutes Wetter.
MARTIN BAUER
Mark Schweda: Entzweiung und Kompensation. Joachim Ritters philosophische Theorie der modernen Welt. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2014. 495 Seiten, 49 Euro.
Von sachlichen Einwänden
lässt sich der kühne Ritter-Exeget
nicht erschüttern
Der deutsche Philosoph Joachim Ritter (1903-1974).
Foto: ullstein/Fritz Eschen
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