Produktdetails
- Verlag: J.B. Metzler
- Ersch. 1995/96.
- Abmessung: 250mm
- Gewicht: 6920g
- ISBN-13: 9783476013545
- Artikelnr.: 05952081
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.1997Alle Köstlichkeit der Kenntnis
Sechzehn Jahre und kein bißchen greise: Jürgen Mittelstraß beschließt seine philosophische Enzyklopädie
Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Nach einer langen Pause von sechzehn Jahren, nach einem Verlagswechsel und einer großen Kraftanstrengung, auf die der Herausgeber stolz sein kann, ist sie mit dem vierten Band endlich fertig geworden, die "Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie". Jürgen Mittelstraß präsentiert den gewerbsmäßigen Denkern und einem Publikum, dem nicht nur an den Wissenschaften, sondern auch an deren Grundlagen gelegen ist, ein erstklassiges Instrument.
Als 1980 der erste Band erschien, war der Boom der Wissenschaftstheorie schon abgeebbt. Die Wissenschaftstheorie mit ihren Wurzeln im "Wiener Kreis" Schlicks und Neuraths hatte sich nach und nach von dem Einheitsideal verabschiedet, das Ende der dreißiger Jahre galt: Was Wissenschaft war, lehrte damals ein Blick auf die Physik.
Noch war die Diagnose vom Auseinanderfallen der "Two cultures", von der Spaltung in eine Welt des Geistes und in eine der Naturwissenschaften, nicht ausgesprochen, da war die Therapie schon konzipiert: die Einheitswissenschaft des logischen Empirismus. Sie sollte auf zwei Säulen gegründet sein, auf der sinnlichen Erfahrung und ihrer Darstellung in widerspruchsfreien Zeichensystemen. Natürlich profitierte diese Wissenschaftsphilosophie vom Ansehen der Physik in einem Zeitalter, in dem der mit ihr verbundene technische Fortschritt noch etwas Gutes war. Am Ende galt sie selbst als hard science. Ihre Abhandlungen und Lehrbücher waren voll von den Formeln der symbolischen Logik.
Inzwischen ist der logische Empirismus selbst in den Vereinigten Staaten und in Skandinavien, wo er lange an der Regierung war, einer bunten Vielfalt von Schulen und Geistern gewichen. Bei der Frage, was das Subjekt der Erkenntnis sein konnte, hatte es eine Art Kurzschluß gegeben. Das Subjekt - also die Agentur, die das Geschäft der Erkenntnis betrieb - wiederum nur nach den Kriterien von Logizität und Sinnlichkeit zu betrachten lief auf einen erkenntnistheoretischen Zirkel hinaus.
Andere Formen von Wissenschaftstheorie traten auf: Poppers kritischer Rationalismus und in Deutschland die Erlanger/ Konstanzer Schule des Konstruktivismus. Sie bezogen das Subjekt mit ein, machten ihm aber zugleich strenge methodische Vorschriften. Zur konstruktivistischen Schule bekennt sich Jürgen Mittelstraß, der Herausgeber der "Enzyklopädie", ausdrücklich. Auch der Stab seiner Mitarbeiter, eine laut Verlagsangabe "kleine Gruppe mit allen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Wassern gewaschener Gelehrter neuen Typs" gehört mehrheitlich dazu.
Dieses offene Bekenntnis kommt einer Einladung gleich, nachzusehen, wieweit das Werk ein Instrument konstruktivistischer Ideenpolitik geworden ist. Das Ergebnis der Prüfung fällt günstig aus. Stallgeruch will sich nicht verbreiten. Die Artikel über die Häupter konkurrierender Schulen wie Heidegger oder Adorno fallen informativ und unpolemisch aus. Zwar ist die Terminologie einheitlich, aber das ist bei vielen Querverweisen gewiß ein Vorteil. In diese Querverweise haben Mittelstraß und seine Autoren besonderen systematischen Ehrgeiz investiert. So ist die zeitliche Lücke zwischen den ersten beiden und den letzten Bänden gut überbrückt worden.
Der Schwerpunkt des Projekts liegt auf der Gegenwartsphilosophie. Dies gilt vor allem für die systematischen Artikel. Vergangene Zeitalter und Epochen des Denkens sind eher durch Personen repräsentiert. Zwar tauchen große Namen der Philosophiegeschichte auf, aber nicht alle. Heinrich Czolbe, ein Garnisonsarzt und sensualistischer Erkenntnistheoretiker, der 1873 zu Königsberg verstarb, wird uns vorgestellt, nicht aber Nikolaus von Kues, ein für die Geschichte der Wissenschaften - und nicht nur für diese - wahrlich wichtiger Name. Er taucht weder deutsch noch lateinisch (Cusanus) auf.
Überhaupt vertritt das Werk die mittelalterliche Philosophie nicht eben breit. Da wird der Suchende bei Ritter/Gründers "Historischem Wörterbuch der Philosophie" besser bedient. Dieses vielbändige Nachschlagewerk ist aber anders konzipiert. Es enthält zwar Philosophie, aber keine Philosophen. Mittelstraß füllt also mit seiner Enzyklopädie eine Marktlücke. Es leuchtet ein, wenn er bei der Erläuterung seines Konzepts argumentiert, daß Personenartikel in einem Lexikon es erlauben, systematisch Dinge in ihrem Entdeckungszusammenhang darzustellen. So können die historischen Teile in systematischen Artikeln kurz gehalten werden.
Ein Lexikon ist ein Nachschlagewerk und kein Lesebuch. Wenn wir nicht wissen, was "upaya" bedeutet oder "vasesika", dann können wir es nachschlagen. Wer aber kommt schon in die Lage, nicht zu wissen, was "upaya" und "vasesika" bedeuten? Bei der Frage, was wir wissen wollen sollen, hilft ein Lexikon im allgemeinen nicht. Im dritten und vierten Band, die in einem Zug entstanden sind, finden sich viele Exotica dieser Art: Eurozentrismus wird man diesen beiden Bänden gewiß nicht vorwerfen können.
Der multikulturell schweifende Geist wird vielmehr ordentlich bedient. Es gibt unter dem Stichwort "Philosophie" zwar keinen Artikel über christliche Philosophie, dafür aber viele Seiten über buddhistische, chinesische, die japanische, jüdische und islamische und neben der indischen im allgemeinen auch die jainistische Philosophie im besonderen. Daneben hat der Mitarbeiter Kuno Lorenz seine Asiatica noch einmal in einzelnen Artikeln über die beiden letzten Bände gut verteilt.
Man mag über diesen Tribut an den Geist der Zeit, der auf die Kommandos "global" und "multikulturell" hört, entzückt sein oder lächeln, insgesamt gibt es an dieser großen Gemeinschaftsarbeit wenig zu mäkeln. Daß das zeitgenössische französische Denken unterrepräsentiert ist, mag daran liegen, daß Derrida mit D beginnt und Lacan mit L, daß sie also das alphabetische Pech haben, in die beiden älteren Bände zu gehören. Damals waren sie der Ehre einer lexikalischen Erhebung noch nicht für würdig erachtet worden.
Doch wir verschmerzen leicht, was fehlt, angesichts dessen, was uns geboten wird. Die Artikel informieren gründlich, ohne weitschweifig zu werden. Die Vorworte der einzelnen Bände durchzieht ein feiner Humor, sonst ist die Tonart demonstrativ sachlich: Philosophie, wo sie an Ort und Stelle mit Furor und in prophetischen Tonarten vorgetragen wird, erscheint ausgedörrt auf ihr kognitives Skelett. Dies gilt natürlich besonders für alle Spielarten des Neomarxismus oder für Heidegger samt Gefolge. Wo die Wirkung einer Philosophie auf Wortmagie und dem Zauber ihres Jargons beruhte, wirkt das ernüchternd.
In einem Zeitalter, in dem eine geistespolitische Mode das Denken ubiquitär machen will und die Philosophie in der ganz großen Kulturwissenschaft schwimmen lernen soll, muß man den Abschluß eines Werks begrüßen, das die Philosophie an die Wissenschaften bindet, auch wenn es vornehmlich die Naturwissenschaften sind. Wissenschaftstheorie behält, nachdem ihre Konjunktur vorbei ist, eine regulative Funktion. Ihre terminologische Serviceleistung hilft überall, die Präzision des Ausdrucks zu steigern, und schärft so das Denken. Den Rezensenten erfreut es besonders, daß zwar nicht die "Kultur", aber das Stichwort "Kulturwissenschaft" fehlt. ECKHARD NORDHOFEN
Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): "Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie". Band 3: P-So und Band 4: Sp-Z. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart, Weimar 1997. 866 und 872 S., geb., bis 30. 6. 1997 je Band 198,- DM, danach 248,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sechzehn Jahre und kein bißchen greise: Jürgen Mittelstraß beschließt seine philosophische Enzyklopädie
Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Nach einer langen Pause von sechzehn Jahren, nach einem Verlagswechsel und einer großen Kraftanstrengung, auf die der Herausgeber stolz sein kann, ist sie mit dem vierten Band endlich fertig geworden, die "Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie". Jürgen Mittelstraß präsentiert den gewerbsmäßigen Denkern und einem Publikum, dem nicht nur an den Wissenschaften, sondern auch an deren Grundlagen gelegen ist, ein erstklassiges Instrument.
Als 1980 der erste Band erschien, war der Boom der Wissenschaftstheorie schon abgeebbt. Die Wissenschaftstheorie mit ihren Wurzeln im "Wiener Kreis" Schlicks und Neuraths hatte sich nach und nach von dem Einheitsideal verabschiedet, das Ende der dreißiger Jahre galt: Was Wissenschaft war, lehrte damals ein Blick auf die Physik.
Noch war die Diagnose vom Auseinanderfallen der "Two cultures", von der Spaltung in eine Welt des Geistes und in eine der Naturwissenschaften, nicht ausgesprochen, da war die Therapie schon konzipiert: die Einheitswissenschaft des logischen Empirismus. Sie sollte auf zwei Säulen gegründet sein, auf der sinnlichen Erfahrung und ihrer Darstellung in widerspruchsfreien Zeichensystemen. Natürlich profitierte diese Wissenschaftsphilosophie vom Ansehen der Physik in einem Zeitalter, in dem der mit ihr verbundene technische Fortschritt noch etwas Gutes war. Am Ende galt sie selbst als hard science. Ihre Abhandlungen und Lehrbücher waren voll von den Formeln der symbolischen Logik.
Inzwischen ist der logische Empirismus selbst in den Vereinigten Staaten und in Skandinavien, wo er lange an der Regierung war, einer bunten Vielfalt von Schulen und Geistern gewichen. Bei der Frage, was das Subjekt der Erkenntnis sein konnte, hatte es eine Art Kurzschluß gegeben. Das Subjekt - also die Agentur, die das Geschäft der Erkenntnis betrieb - wiederum nur nach den Kriterien von Logizität und Sinnlichkeit zu betrachten lief auf einen erkenntnistheoretischen Zirkel hinaus.
Andere Formen von Wissenschaftstheorie traten auf: Poppers kritischer Rationalismus und in Deutschland die Erlanger/ Konstanzer Schule des Konstruktivismus. Sie bezogen das Subjekt mit ein, machten ihm aber zugleich strenge methodische Vorschriften. Zur konstruktivistischen Schule bekennt sich Jürgen Mittelstraß, der Herausgeber der "Enzyklopädie", ausdrücklich. Auch der Stab seiner Mitarbeiter, eine laut Verlagsangabe "kleine Gruppe mit allen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Wassern gewaschener Gelehrter neuen Typs" gehört mehrheitlich dazu.
Dieses offene Bekenntnis kommt einer Einladung gleich, nachzusehen, wieweit das Werk ein Instrument konstruktivistischer Ideenpolitik geworden ist. Das Ergebnis der Prüfung fällt günstig aus. Stallgeruch will sich nicht verbreiten. Die Artikel über die Häupter konkurrierender Schulen wie Heidegger oder Adorno fallen informativ und unpolemisch aus. Zwar ist die Terminologie einheitlich, aber das ist bei vielen Querverweisen gewiß ein Vorteil. In diese Querverweise haben Mittelstraß und seine Autoren besonderen systematischen Ehrgeiz investiert. So ist die zeitliche Lücke zwischen den ersten beiden und den letzten Bänden gut überbrückt worden.
Der Schwerpunkt des Projekts liegt auf der Gegenwartsphilosophie. Dies gilt vor allem für die systematischen Artikel. Vergangene Zeitalter und Epochen des Denkens sind eher durch Personen repräsentiert. Zwar tauchen große Namen der Philosophiegeschichte auf, aber nicht alle. Heinrich Czolbe, ein Garnisonsarzt und sensualistischer Erkenntnistheoretiker, der 1873 zu Königsberg verstarb, wird uns vorgestellt, nicht aber Nikolaus von Kues, ein für die Geschichte der Wissenschaften - und nicht nur für diese - wahrlich wichtiger Name. Er taucht weder deutsch noch lateinisch (Cusanus) auf.
Überhaupt vertritt das Werk die mittelalterliche Philosophie nicht eben breit. Da wird der Suchende bei Ritter/Gründers "Historischem Wörterbuch der Philosophie" besser bedient. Dieses vielbändige Nachschlagewerk ist aber anders konzipiert. Es enthält zwar Philosophie, aber keine Philosophen. Mittelstraß füllt also mit seiner Enzyklopädie eine Marktlücke. Es leuchtet ein, wenn er bei der Erläuterung seines Konzepts argumentiert, daß Personenartikel in einem Lexikon es erlauben, systematisch Dinge in ihrem Entdeckungszusammenhang darzustellen. So können die historischen Teile in systematischen Artikeln kurz gehalten werden.
Ein Lexikon ist ein Nachschlagewerk und kein Lesebuch. Wenn wir nicht wissen, was "upaya" bedeutet oder "vasesika", dann können wir es nachschlagen. Wer aber kommt schon in die Lage, nicht zu wissen, was "upaya" und "vasesika" bedeuten? Bei der Frage, was wir wissen wollen sollen, hilft ein Lexikon im allgemeinen nicht. Im dritten und vierten Band, die in einem Zug entstanden sind, finden sich viele Exotica dieser Art: Eurozentrismus wird man diesen beiden Bänden gewiß nicht vorwerfen können.
Der multikulturell schweifende Geist wird vielmehr ordentlich bedient. Es gibt unter dem Stichwort "Philosophie" zwar keinen Artikel über christliche Philosophie, dafür aber viele Seiten über buddhistische, chinesische, die japanische, jüdische und islamische und neben der indischen im allgemeinen auch die jainistische Philosophie im besonderen. Daneben hat der Mitarbeiter Kuno Lorenz seine Asiatica noch einmal in einzelnen Artikeln über die beiden letzten Bände gut verteilt.
Man mag über diesen Tribut an den Geist der Zeit, der auf die Kommandos "global" und "multikulturell" hört, entzückt sein oder lächeln, insgesamt gibt es an dieser großen Gemeinschaftsarbeit wenig zu mäkeln. Daß das zeitgenössische französische Denken unterrepräsentiert ist, mag daran liegen, daß Derrida mit D beginnt und Lacan mit L, daß sie also das alphabetische Pech haben, in die beiden älteren Bände zu gehören. Damals waren sie der Ehre einer lexikalischen Erhebung noch nicht für würdig erachtet worden.
Doch wir verschmerzen leicht, was fehlt, angesichts dessen, was uns geboten wird. Die Artikel informieren gründlich, ohne weitschweifig zu werden. Die Vorworte der einzelnen Bände durchzieht ein feiner Humor, sonst ist die Tonart demonstrativ sachlich: Philosophie, wo sie an Ort und Stelle mit Furor und in prophetischen Tonarten vorgetragen wird, erscheint ausgedörrt auf ihr kognitives Skelett. Dies gilt natürlich besonders für alle Spielarten des Neomarxismus oder für Heidegger samt Gefolge. Wo die Wirkung einer Philosophie auf Wortmagie und dem Zauber ihres Jargons beruhte, wirkt das ernüchternd.
In einem Zeitalter, in dem eine geistespolitische Mode das Denken ubiquitär machen will und die Philosophie in der ganz großen Kulturwissenschaft schwimmen lernen soll, muß man den Abschluß eines Werks begrüßen, das die Philosophie an die Wissenschaften bindet, auch wenn es vornehmlich die Naturwissenschaften sind. Wissenschaftstheorie behält, nachdem ihre Konjunktur vorbei ist, eine regulative Funktion. Ihre terminologische Serviceleistung hilft überall, die Präzision des Ausdrucks zu steigern, und schärft so das Denken. Den Rezensenten erfreut es besonders, daß zwar nicht die "Kultur", aber das Stichwort "Kulturwissenschaft" fehlt. ECKHARD NORDHOFEN
Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): "Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie". Band 3: P-So und Band 4: Sp-Z. J. B. Metzler Verlag, Stuttgart, Weimar 1997. 866 und 872 S., geb., bis 30. 6. 1997 je Band 198,- DM, danach 248,- DM.
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