In Buffalo, in einem im Blizzard stehen gelassenen Auto, findet sich ein mysteriöses Notizbuch. In ihm verzweigen sich eine Fülle von Geschichten, die wie ein Schneekristall um eine Achse wachsen: Vor den Augen des Lesers entsteht eine suggestive Erzählung über das Heranwachsen, über die Einsamkeit in der Dämmerung der Vorstädte, über eine verlorene Kindheit und die erste Liebe. Mit "Enzyklopädie vom Schnee" gelang Sarah Emily Miano eine kunstvolle Rhapsodie über die Reinheit und Schönheit des frostigen Kristalls und eine Hommage an W.G. Sebald.
Begeisternd und ungewöhnlich, das vielleicht klügste und verrückteste Debüt nach Jonathan Safran Foer. The Observer
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.11.2004Das Alphabet der Kälte
Blaue Gestalten in der Dämmerung, weiß aufleuchtend: Sarah Emily Mianos „Enzyklopädie vom Schnee”
In einem Auto, das nach einem sommerlichen Schneesturm in Buffalo verlassen aufgefunden wird, entdecken die Polizeibeamten ein Notizbuch mit tagebuchartigen Aufzeichnungen, Geschichten, Gedichten, Briefen und Zitaten aus literarischen wie aus wissenschaftlichen Werken. Das Konvolut ist alphabetisch nach Stichworten geordnet, die nur insofern zusammenhängen, als Schnee, Eis, Kälte und winterliche Finsternis das geheimnisvolle Zentrum des Textuniversums darstellen.
Von der jüdischen Bibel bis zum Zauberberg, von Petrarca über T. S. Eliot bis hin zu einer gewissen Sarah Emily Miano, die das Lemma „Rodeln” bearbeitet, reicht das Spektrum der Fragmente, welche die längeren Erzählstücke des Buches flankieren. Diese bilden gleichsam das Rückgrat dieses unförmig gehaltenen Textkörpers - und beweisen, dass die in London lebende amerikanische Debütantin es nicht nur versteht, aus dem weißen Rauschen der Tradition höchst hörenswerte (wenn wohl bisweilen auch fingierte) Stimmen herauszufiltern, sondern auch selbst in bester angelsächsischer Manier zu erzählen.
Unter dem Stichwort „Doppelportal” etwa findet sich die glänzend vorgetragene Geschichte einer - im tiefsten Winter stattfindenden - Hochzeit in den italoamerikanischen Kreisen Buffalos. Der rauschende Tag, sinnlich und witzig aus der Perspektive eines halbwüchsigen Mädchens erzählt, endet auf tragische Weise mit dem Herztod des Großvaters, wodurch „die Luft aus der Rettungsweste unserer Familie gelassen” ist. Die Geschichte des magersüchtigen Teenagers Libby und dessen Marsch durch die klinischen Institutionen, unter dem Lemma „frigid” nachzulesen, handelt wiederum von innerfamiliären Kältezuständen, ausgelöst nicht zuletzt durch die nymphomanisch veranlagte Mutter, die auch Libbys Freund nicht unangetastet lässt.
Die frostigen Beziehungen, die Sarah E. Miano zwischen den einzelnen Bestandteilen ihres Konvoluts herstellt, sind leise und womöglich für den unbefangenen Leser nicht überall nachvollziehbar. Wo bei W. G. Sebald, dem der Roman zugeeignet ist und der großen Anteil am entstehenden Manuskript genommen haben soll, die verschiedenen Stimmen im erzählenden Ich zu einer dichten rhythmischen Einheit zusammentreten, ist die „Enzyklopädie vom Schnee” ein Buch der Brüche, das auf die Kraft des Fragments baut, sich selbst zu ergänzen und zu erhellen im Gefüge der anderen Fragmente. Allenfalls als „weißes Aufleuchten in der Menge, als blaue Gestalt in der Dämmerung”, tritt uns der Urheber und Besitzer des rätselhaften, „im Keim ein Lebenswerk” enthaltenden Notizbuches entgegen.
Diesen Keim zu entwickeln, ist die Aufgabe des geneigten Publikums. Es ist ein mitunter irritierendes, aber dennoch kurzweiliges und lohnendes Geschäft - allerdings wohl nur für solche Leser, die nicht ausgerechnet in der Literatur die klaren Verhältnisse fordern, nach denen man in der Wirklichkeit vergeblich sucht.
KLAUS BÖLDL
SARAH EMILY MIANO: Enzyklopädie vom Schnee. Roman. Aus dem Englischen von Uta Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 271 Seiten, 19,90 Euro.
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Blaue Gestalten in der Dämmerung, weiß aufleuchtend: Sarah Emily Mianos „Enzyklopädie vom Schnee”
In einem Auto, das nach einem sommerlichen Schneesturm in Buffalo verlassen aufgefunden wird, entdecken die Polizeibeamten ein Notizbuch mit tagebuchartigen Aufzeichnungen, Geschichten, Gedichten, Briefen und Zitaten aus literarischen wie aus wissenschaftlichen Werken. Das Konvolut ist alphabetisch nach Stichworten geordnet, die nur insofern zusammenhängen, als Schnee, Eis, Kälte und winterliche Finsternis das geheimnisvolle Zentrum des Textuniversums darstellen.
Von der jüdischen Bibel bis zum Zauberberg, von Petrarca über T. S. Eliot bis hin zu einer gewissen Sarah Emily Miano, die das Lemma „Rodeln” bearbeitet, reicht das Spektrum der Fragmente, welche die längeren Erzählstücke des Buches flankieren. Diese bilden gleichsam das Rückgrat dieses unförmig gehaltenen Textkörpers - und beweisen, dass die in London lebende amerikanische Debütantin es nicht nur versteht, aus dem weißen Rauschen der Tradition höchst hörenswerte (wenn wohl bisweilen auch fingierte) Stimmen herauszufiltern, sondern auch selbst in bester angelsächsischer Manier zu erzählen.
Unter dem Stichwort „Doppelportal” etwa findet sich die glänzend vorgetragene Geschichte einer - im tiefsten Winter stattfindenden - Hochzeit in den italoamerikanischen Kreisen Buffalos. Der rauschende Tag, sinnlich und witzig aus der Perspektive eines halbwüchsigen Mädchens erzählt, endet auf tragische Weise mit dem Herztod des Großvaters, wodurch „die Luft aus der Rettungsweste unserer Familie gelassen” ist. Die Geschichte des magersüchtigen Teenagers Libby und dessen Marsch durch die klinischen Institutionen, unter dem Lemma „frigid” nachzulesen, handelt wiederum von innerfamiliären Kältezuständen, ausgelöst nicht zuletzt durch die nymphomanisch veranlagte Mutter, die auch Libbys Freund nicht unangetastet lässt.
Die frostigen Beziehungen, die Sarah E. Miano zwischen den einzelnen Bestandteilen ihres Konvoluts herstellt, sind leise und womöglich für den unbefangenen Leser nicht überall nachvollziehbar. Wo bei W. G. Sebald, dem der Roman zugeeignet ist und der großen Anteil am entstehenden Manuskript genommen haben soll, die verschiedenen Stimmen im erzählenden Ich zu einer dichten rhythmischen Einheit zusammentreten, ist die „Enzyklopädie vom Schnee” ein Buch der Brüche, das auf die Kraft des Fragments baut, sich selbst zu ergänzen und zu erhellen im Gefüge der anderen Fragmente. Allenfalls als „weißes Aufleuchten in der Menge, als blaue Gestalt in der Dämmerung”, tritt uns der Urheber und Besitzer des rätselhaften, „im Keim ein Lebenswerk” enthaltenden Notizbuches entgegen.
Diesen Keim zu entwickeln, ist die Aufgabe des geneigten Publikums. Es ist ein mitunter irritierendes, aber dennoch kurzweiliges und lohnendes Geschäft - allerdings wohl nur für solche Leser, die nicht ausgerechnet in der Literatur die klaren Verhältnisse fordern, nach denen man in der Wirklichkeit vergeblich sucht.
KLAUS BÖLDL
SARAH EMILY MIANO: Enzyklopädie vom Schnee. Roman. Aus dem Englischen von Uta Strätling. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004. 271 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
" Sarah Emily Miano verlangt ihren Lesernmit diesem Roman durchaus einiges ab, stellt Klaus Böldl fest.Das Buch setzt sich nämlich aus von "Fragmentenflankierten" erzählerischen Passagen zusammen, wobei dasKorsett des Textes sich aus einem Konvolut aus alphabetischgeordneten Aufzeichnungen, Zitaten, Geschichten und Notizen zuStichworte ergibt, die sich allesamt um den Themenkomplex Schnee, Eisund Kälte drehen, erklärt der Rezensent. Dabei demonstrieredie in England lebende amerikanische Autorin, dass sie neben dem"Rauschen der Tradition", welches sie in den vielstimmigenZitaten eingefangen hat, auch "selbst in bester angelsächsischerManier" zu erzählen imstande ist. Nicht immer sind dieBezüge der verschiedenen Fragmente ohne weiteresnachvollziehbar, räumt der Rezensent ein. Vielmehr handele essich bei dem Roman um ein "Buch der Brüche", dasmitunter geradezu irritierend wirke insgesamt aber zweifellos eine"kurzweilige und lohnenswerte" Lektüre darstelle, wieBöldl versichert.
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