Auf tausend Wegen hat die Bibel unsere Kultur geprägt. Denker, Dichter und Künstler schöpften aus ihrem Reichtum. Nicht selten wurden politische Auseinandersetzungen als Streit um die richtige Auslegung der Bibel geführt. Henning Graf Reventlow bietet in diesem vierbändigen Werk einen ebenso kenntnisreichen wie prägnanten Überblick über die Geschichte der Bibelauslegung vom Alten Israel bis zum 20. Jahrhundert. Mit dem lange erwarteten 4. Band liegt das Werk nun vollständig vor. Ausgehend vom 16. Jahrhundert über Humanismus und Aufklärung bis in die neueste Zeit beschreibt Graf Reventlow die zentrale Rolle der Bibel in den geistigen und politischen Auseinandersetzungen im neuzeitlichen Europa. Anhand von Lebenslauf und Werk führender Theologen, Politiker und Philosophen entfaltet sich das Bild eines vom jeweiligen Geist der Zeit geprägten Bibelverständnisses. Ein Ausblick bis zur Gegenwart beschließt den Band.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2002Aufgeklärte Überzeugungstäter
Wie aus Jüngern Räuber wurden: Henning Graf Reventlow beschließt sein Projekt zur Bibelauslegung
Die Bibel ist keineswegs von Gott diktiert, sondern nichts weiter als "eine Sammlung alter Schriften, deren Urheber nach dem Maß ihrer Erkenntnis von Gott und göttlichen Dingen geschrieben" haben. Jesus ist "ein wahrer Mensch wie wir gewesen", sein Vater war Josef. Er nannte Gott seinen Vater, wie es alle Christen im Vaterunser tun, eben im übertragenen Sinn. Ein stellvertretender Sühnetod Jesu wäre überflüssig; hat uns doch Jesus gerade dadurch erlöst, daß er lehrte, gegen Gott könne man gar nicht sündigen. Auferstanden ist er nicht dem Fleisch nach, sondern dem Geist, wie es im ersten Petrusbrief steht. Der Jüngste Tag und sein Gericht beginnt da, wo ein Mensch anfängt, aus dem "Schlafe der bisherigen Irrtümer aufzustehen". Das ist, kurzgefaßt, das typische Glaubensbekenntnis eines Mannes, der sich aus der lutherischen Orthodoxie und dem Pietismus zur Aufklärung durchgekämpft hat: Johann Christian Edelmann. Er wurde durch seine Bücher wohlhabend. Ihre Inhalte waren aber so anstößig, daß sie auf Beschluß des kaiserlichen Bücher-Commisariats in Frankfurt 1750 feierlich verbrannt wurden. Bis zu seinem Tod mußte er für die Schublade schreiben.
Diese und mehr als dreißig andere Persönlichkeiten stellt Graf Reventlow im vierten Band seiner "Epochen der Bibelauslegung" vor, der die Aufklärungszeit bis heute umfaßt, jeweils mit kurzer Biographie und Angabe der Bedeutung für die Exegese. So entsteht ein Bild der ganzen Epoche. Geradezu emblematisch für sie ist der Bericht in Edelmanns Autobiographie, daß ihm aus der entscheidenden religiösen Krise eine exegetische Einsicht heraushalf. Edelmann entdeckte, daß der Logos des Prologs im Johannesevangelium identisch sei mit der Vernunft. Bereits der Engländer John Toland hatte kategorisch erklärt, über die Göttlichkeit der Bibel entscheide die gottgegebene Vernunft und nicht die Autorität der Kirche; für ihre Auslegung gebe es keine anderen Regeln als für alle anderen Bücher auch. Das blieb die Überzeugung aller aufklärerischen Bibeldeutung.
Der Kampf, der unter diesen Voraussetzungen begann und seither geführt wird, hat bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein nicht nur kirchliche Kreise in Atem gehalten, sondern die gesamte gebildete Welt. Nicht von ungefähr findet man unter den Persönlichkeiten, die Reventlow Revue passieren läßt, eine ganze Reihe von Namen, die sonst eher als Philosophen oder Literaten bekannt sind: Hobbes, Locke, Spinoza, Lessing, Herder. David Friedrich Strauß, der die Evangelien für "geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen" hielt, war im neunzehnten Jahrhundert jedem Gebildeten ein Begriff. Tatsächlich konzentrierte sich die ganze Auseinandersetzung um die neue Art des Bibelverständnisses stets auf die Gestalt und Verkündigung Jesu. Ihre Schärfe bekam sie jedoch dadurch, daß es dabei nicht um eine rein historische Frage ging: Wer war Jesus wirklich? Es ging vielmehr darum, Jesus der Kirche zu entreißen und damit sich selbst aus ihren Fesseln zu befreien. Letztlich war die Deutung der Person Jesu ein Mittel zum Zweck, und dieser Zweck war die Emanzipation aus kirchlicher und staatlicher Vormundschaft.
Zentrale Kapitel sind Hermann Samuel Reimarus und Gotthold Ephraim Lessing gewidmet. Reimarus schrieb in aller Heimlichkeit an einem großen kritischen Werk über die Bibel. Für die Veröffentlichung wollte er aufgeklärtere Zeiten abwarten. Die letzte Reinschrift des Werkes übergab sein Sohn 1814 der Hamburger Stadtbibliothek mit der Bitte, sie zunächst nur "geeigneten Männern" mitzuteilen. "Sollte sich aber eine Gelegenheit ereignen, und besonders wenn Schwärmer die Menschheit wieder in den Katholizismus zu stürzen drohen sollten, so möchte es wohl nützlich sein, sich ihnen mit einem solchen Panier der Freiheit entgegenzustellen."
Das Manuskript wurde 1972 vollständig veröffentlicht, hatte aber nur noch historisches Interesse. Das war ganz anders, als Lessing seinerzeit Ausschnitte aus einer früheren Fassung des Werkes ohne Nennung des Autors publizierte. Es gab einen Skandal. Denn da wurde ein rein menschlicher Jesus vorgestellt, ein frommer Jude, der als Reformator der jüdischen Religion auftrat, Gottes- und Nächstenliebe predigte, aber daneben ein politisches Ziel verfolgte: die Römer aus dem Land zu treiben und sich auf den Thron zu bringen. Die Sache ging schief, aber damit wollten sich seine Jünger nicht zufriedengeben. Sie stahlen den Leichnam, interpretierten seinen Tod als Sühne und verbreiteten das Märchen von Auferstehung und baldiger Wiederkunft.
Es kam, wie es kommen mußte: Der Herzog ließ die Schriften schließlich beschlagnahmen, Lessing mußte sein Manuskript abliefern und bekam in dieser Angelegenheit Publikationsverbot. Bemerkenswert ist die Stellungnahme Johann Gottfried Herders, die Reventlow leider nicht zitiert. Dem Weimarer Oberhofprediger und Generalsuperintendenten war nämlich vieles an der Sicht des Reimarus durchaus sympathisch; aber er konnte sich die Apostel nicht als "kalte Betrüger eines nicht-auferstandenen Christus" vorstellen.
Heute können wir nur noch die Schultern zucken über die Phantastik von Reimarus' Hypothesen. Mit historischer Methode hat das wenig zu tun. Die Hypothese des Jüngerbetrugs vertrat schon der heidnische Gegner des Christentums Celsus im zweiten Jahrhundert. Die Argumente, die Origenes dagegen ins Feld führt, hätte man auch Reimarus entgegenhalten können: die psychologische Unwahrscheinlichkeit und die Unvereinbarkeit mit Fakten.
Der Fall zeigt deutlich, was für die ganze Tradition gilt, in der er steht und die von ihm ausgeht: Hier steht nicht Wahrheit gegen Dogmatik, historische Aufklärung gegen klerikale Verdunkelungstaktik, hier steht vielmehr Glaube gegen Glaube und Dogmatik gegen Dogmatik. Diese Aufklärer hatten ihre klaren dogmatischen Axiome: Es gibt keinen persönlichen Gott, und wenn doch, dann ist er reine Liebe, mit der jede Vorstellung von Gericht und Hölle unvereinbar ist; Vernunft ist der alleinige Maßstab aller Dinge; die Natur ist eine lückenlose Kette von Ursachen und Wirkungen, folglich gibt es nichts Übernatürliches. Damit war das Urteil über sämtliche Wundergeschichten der Bibel und über Jungfrauengeburt und Auferstehung Jesu gefällt. Mit Singularitäten und Ausnahmen waren diese Denker nicht bereit zu rechnen.
Erstaunlich ist aus heutiger Sicht, mit welcher Sicherheit Gelehrte zu wissen glaubten, was nicht so gewesen sein könne, wie es die Evangelien oder die Apostelgeschichte schildert, und wie es in Wirklichkeit gewesen sein müsse. Woher wußten die Aufklärer zum Beispiel, daß Jesus nur Tugend, Vernunft und Toleranz verkündete und nichts über das Jüngste Gericht? Aus den Quellen sicher nicht. So hat die ganze Geschichte etwas Tragisches an sich: Die Aufklärer stritten und litten vielfach für vermeintliche Wahrheiten, die nur neue Hypothesen waren, während die kirchlichen und staatlichen Stellen zu den ungeeignetsten Mitteln griffen, um ihre Wahrheiten - oft nichts anderes als alte Hypothesen - zu verteidigen: Verbot und Unterdrückung. Im Rückblick hat keine Seite Grund zum Triumphieren, aber es wäre an der Zeit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Reventlows Auswahl der vorgestellten Persönlichkeiten ist insgesamt gut getroffen. Sie zeigt, daß Katholiken an dieser Forschungs- und Leidensgeschichte nur einen verhältnismäßig geringen Anteil hatten. Das hat sicher viele Gründe und nicht einfach den, daß die katholische Exegese "lange durch dogmatische Schranken gehemmt war", wie Reventlow im Vorwort meint. Die lutherische Orthodoxie setzte nicht weniger "dogmatische Schranken" als Rom, aber diese wirkten offenbar weniger hemmend. Wichtiger dürfte der Grund sein, daß für die katholische Kirche die Bibel als Buch nicht der Fels ist, der ihr ganzes Gebäude tragen muß. Dieses Buch ist nach katholischer Auffassung nur ein notwendiges Moment der Tradition, in der sie gründet. Und da sich der sogenannte "kritische" Zugang zur Bibel tatsächlich mehr und mehr als der Versuch entpuppt, Hamlet ohne den Prinzen von Dänemark zu spielen, steht es uns frei, kritischer als die Historisch-Kritischen zu werden, wie es Karl Barth schon 1920 gefordert hat.
MARIUS REISER
Henning Graf Reventlow: "Epochen der Bibelauslegung". Band IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 2001. 448 S., geb., 44,99 [Euro].
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Wie aus Jüngern Räuber wurden: Henning Graf Reventlow beschließt sein Projekt zur Bibelauslegung
Die Bibel ist keineswegs von Gott diktiert, sondern nichts weiter als "eine Sammlung alter Schriften, deren Urheber nach dem Maß ihrer Erkenntnis von Gott und göttlichen Dingen geschrieben" haben. Jesus ist "ein wahrer Mensch wie wir gewesen", sein Vater war Josef. Er nannte Gott seinen Vater, wie es alle Christen im Vaterunser tun, eben im übertragenen Sinn. Ein stellvertretender Sühnetod Jesu wäre überflüssig; hat uns doch Jesus gerade dadurch erlöst, daß er lehrte, gegen Gott könne man gar nicht sündigen. Auferstanden ist er nicht dem Fleisch nach, sondern dem Geist, wie es im ersten Petrusbrief steht. Der Jüngste Tag und sein Gericht beginnt da, wo ein Mensch anfängt, aus dem "Schlafe der bisherigen Irrtümer aufzustehen". Das ist, kurzgefaßt, das typische Glaubensbekenntnis eines Mannes, der sich aus der lutherischen Orthodoxie und dem Pietismus zur Aufklärung durchgekämpft hat: Johann Christian Edelmann. Er wurde durch seine Bücher wohlhabend. Ihre Inhalte waren aber so anstößig, daß sie auf Beschluß des kaiserlichen Bücher-Commisariats in Frankfurt 1750 feierlich verbrannt wurden. Bis zu seinem Tod mußte er für die Schublade schreiben.
Diese und mehr als dreißig andere Persönlichkeiten stellt Graf Reventlow im vierten Band seiner "Epochen der Bibelauslegung" vor, der die Aufklärungszeit bis heute umfaßt, jeweils mit kurzer Biographie und Angabe der Bedeutung für die Exegese. So entsteht ein Bild der ganzen Epoche. Geradezu emblematisch für sie ist der Bericht in Edelmanns Autobiographie, daß ihm aus der entscheidenden religiösen Krise eine exegetische Einsicht heraushalf. Edelmann entdeckte, daß der Logos des Prologs im Johannesevangelium identisch sei mit der Vernunft. Bereits der Engländer John Toland hatte kategorisch erklärt, über die Göttlichkeit der Bibel entscheide die gottgegebene Vernunft und nicht die Autorität der Kirche; für ihre Auslegung gebe es keine anderen Regeln als für alle anderen Bücher auch. Das blieb die Überzeugung aller aufklärerischen Bibeldeutung.
Der Kampf, der unter diesen Voraussetzungen begann und seither geführt wird, hat bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein nicht nur kirchliche Kreise in Atem gehalten, sondern die gesamte gebildete Welt. Nicht von ungefähr findet man unter den Persönlichkeiten, die Reventlow Revue passieren läßt, eine ganze Reihe von Namen, die sonst eher als Philosophen oder Literaten bekannt sind: Hobbes, Locke, Spinoza, Lessing, Herder. David Friedrich Strauß, der die Evangelien für "geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen" hielt, war im neunzehnten Jahrhundert jedem Gebildeten ein Begriff. Tatsächlich konzentrierte sich die ganze Auseinandersetzung um die neue Art des Bibelverständnisses stets auf die Gestalt und Verkündigung Jesu. Ihre Schärfe bekam sie jedoch dadurch, daß es dabei nicht um eine rein historische Frage ging: Wer war Jesus wirklich? Es ging vielmehr darum, Jesus der Kirche zu entreißen und damit sich selbst aus ihren Fesseln zu befreien. Letztlich war die Deutung der Person Jesu ein Mittel zum Zweck, und dieser Zweck war die Emanzipation aus kirchlicher und staatlicher Vormundschaft.
Zentrale Kapitel sind Hermann Samuel Reimarus und Gotthold Ephraim Lessing gewidmet. Reimarus schrieb in aller Heimlichkeit an einem großen kritischen Werk über die Bibel. Für die Veröffentlichung wollte er aufgeklärtere Zeiten abwarten. Die letzte Reinschrift des Werkes übergab sein Sohn 1814 der Hamburger Stadtbibliothek mit der Bitte, sie zunächst nur "geeigneten Männern" mitzuteilen. "Sollte sich aber eine Gelegenheit ereignen, und besonders wenn Schwärmer die Menschheit wieder in den Katholizismus zu stürzen drohen sollten, so möchte es wohl nützlich sein, sich ihnen mit einem solchen Panier der Freiheit entgegenzustellen."
Das Manuskript wurde 1972 vollständig veröffentlicht, hatte aber nur noch historisches Interesse. Das war ganz anders, als Lessing seinerzeit Ausschnitte aus einer früheren Fassung des Werkes ohne Nennung des Autors publizierte. Es gab einen Skandal. Denn da wurde ein rein menschlicher Jesus vorgestellt, ein frommer Jude, der als Reformator der jüdischen Religion auftrat, Gottes- und Nächstenliebe predigte, aber daneben ein politisches Ziel verfolgte: die Römer aus dem Land zu treiben und sich auf den Thron zu bringen. Die Sache ging schief, aber damit wollten sich seine Jünger nicht zufriedengeben. Sie stahlen den Leichnam, interpretierten seinen Tod als Sühne und verbreiteten das Märchen von Auferstehung und baldiger Wiederkunft.
Es kam, wie es kommen mußte: Der Herzog ließ die Schriften schließlich beschlagnahmen, Lessing mußte sein Manuskript abliefern und bekam in dieser Angelegenheit Publikationsverbot. Bemerkenswert ist die Stellungnahme Johann Gottfried Herders, die Reventlow leider nicht zitiert. Dem Weimarer Oberhofprediger und Generalsuperintendenten war nämlich vieles an der Sicht des Reimarus durchaus sympathisch; aber er konnte sich die Apostel nicht als "kalte Betrüger eines nicht-auferstandenen Christus" vorstellen.
Heute können wir nur noch die Schultern zucken über die Phantastik von Reimarus' Hypothesen. Mit historischer Methode hat das wenig zu tun. Die Hypothese des Jüngerbetrugs vertrat schon der heidnische Gegner des Christentums Celsus im zweiten Jahrhundert. Die Argumente, die Origenes dagegen ins Feld führt, hätte man auch Reimarus entgegenhalten können: die psychologische Unwahrscheinlichkeit und die Unvereinbarkeit mit Fakten.
Der Fall zeigt deutlich, was für die ganze Tradition gilt, in der er steht und die von ihm ausgeht: Hier steht nicht Wahrheit gegen Dogmatik, historische Aufklärung gegen klerikale Verdunkelungstaktik, hier steht vielmehr Glaube gegen Glaube und Dogmatik gegen Dogmatik. Diese Aufklärer hatten ihre klaren dogmatischen Axiome: Es gibt keinen persönlichen Gott, und wenn doch, dann ist er reine Liebe, mit der jede Vorstellung von Gericht und Hölle unvereinbar ist; Vernunft ist der alleinige Maßstab aller Dinge; die Natur ist eine lückenlose Kette von Ursachen und Wirkungen, folglich gibt es nichts Übernatürliches. Damit war das Urteil über sämtliche Wundergeschichten der Bibel und über Jungfrauengeburt und Auferstehung Jesu gefällt. Mit Singularitäten und Ausnahmen waren diese Denker nicht bereit zu rechnen.
Erstaunlich ist aus heutiger Sicht, mit welcher Sicherheit Gelehrte zu wissen glaubten, was nicht so gewesen sein könne, wie es die Evangelien oder die Apostelgeschichte schildert, und wie es in Wirklichkeit gewesen sein müsse. Woher wußten die Aufklärer zum Beispiel, daß Jesus nur Tugend, Vernunft und Toleranz verkündete und nichts über das Jüngste Gericht? Aus den Quellen sicher nicht. So hat die ganze Geschichte etwas Tragisches an sich: Die Aufklärer stritten und litten vielfach für vermeintliche Wahrheiten, die nur neue Hypothesen waren, während die kirchlichen und staatlichen Stellen zu den ungeeignetsten Mitteln griffen, um ihre Wahrheiten - oft nichts anderes als alte Hypothesen - zu verteidigen: Verbot und Unterdrückung. Im Rückblick hat keine Seite Grund zum Triumphieren, aber es wäre an der Zeit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Reventlows Auswahl der vorgestellten Persönlichkeiten ist insgesamt gut getroffen. Sie zeigt, daß Katholiken an dieser Forschungs- und Leidensgeschichte nur einen verhältnismäßig geringen Anteil hatten. Das hat sicher viele Gründe und nicht einfach den, daß die katholische Exegese "lange durch dogmatische Schranken gehemmt war", wie Reventlow im Vorwort meint. Die lutherische Orthodoxie setzte nicht weniger "dogmatische Schranken" als Rom, aber diese wirkten offenbar weniger hemmend. Wichtiger dürfte der Grund sein, daß für die katholische Kirche die Bibel als Buch nicht der Fels ist, der ihr ganzes Gebäude tragen muß. Dieses Buch ist nach katholischer Auffassung nur ein notwendiges Moment der Tradition, in der sie gründet. Und da sich der sogenannte "kritische" Zugang zur Bibel tatsächlich mehr und mehr als der Versuch entpuppt, Hamlet ohne den Prinzen von Dänemark zu spielen, steht es uns frei, kritischer als die Historisch-Kritischen zu werden, wie es Karl Barth schon 1920 gefordert hat.
MARIUS REISER
Henning Graf Reventlow: "Epochen der Bibelauslegung". Band IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 2001. 448 S., geb., 44,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Bochumer Bibelforscher hat ein Mammutprojekt zum Abschluss gebracht. Vier Bände der "Epochen der Bibelauslegung", der erste erschien 1990, liegen nun vor, der Autor darf sich voller Genugtuung zurücklehnen, schreibt Kurt Nowak. Doch ist der Rezensent mit dem Ergebnis nicht ganz einverstanden. Henning Graf Reventlow, in der Wissenschaft als kundiger Kenner des Alten Testaments hoch geschätzt, hat zwar viel durchleuchtet, doch auch vieles aus methodischen Gründen kaum oder gar nicht berücksichtigt, beschwert sich der Rezensent. In den letzten zwanzig bis dreißig Jahren habe die Forschung einige historisch-philologische und hermeneutische Revolutionen erlebt, die den Autor anscheinend recht unbeeindruckt ließen, jedenfalls deute er sie allenfalls als Turbulenzen, ärgert sich Nowak. Und so erfährt der Leser zwar detailreich viel über etablierte Exegese, aber nichts über die kulturgeschichtliche Rezeption der Bibel, bedauert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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