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Epochenbilder und Künstlertypologien sind als Teil der Erinnerungskultur das Ergebnis komplexer historischer Prozesse. Die Kanonisierung kultureller Leitvorstellungen bildet entsprechende Traditionen als verpflichtendes Erbe mit identitätsstiftendem Charakter aus. Traditionsentwürfe zeichnen ganz allgemein Bilder der Vergangenheit für die Gegenwart mit Blick auf die Zukunft. Die Reflexion über Tradition schließt auch die Phänomene Traditionsbruch und Traditionsnegation ein, die wiederum die Macht eines vorherrschenden Kanons herausfordern. Formen und Strukturen von Traditionsentwürfen dieser…mehr

Produktbeschreibung
Epochenbilder und Künstlertypologien sind als Teil der Erinnerungskultur das Ergebnis komplexer historischer Prozesse. Die Kanonisierung kultureller Leitvorstellungen bildet entsprechende Traditionen als verpflichtendes Erbe mit identitätsstiftendem Charakter aus. Traditionsentwürfe zeichnen ganz allgemein Bilder der Vergangenheit für die Gegenwart mit Blick auf die Zukunft. Die Reflexion über Tradition schließt auch die Phänomene Traditionsbruch und Traditionsnegation ein, die wiederum die Macht eines vorherrschenden Kanons herausfordern. Formen und Strukturen von Traditionsentwürfen dieser Art gilt das Interesse der Studie, die sich der vielschichtigen literarischen, ästhetischen, kunstphilosophischen, wissenschaftlichen und bildungsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit der kulturhistorischen Bedeutung von Antike, Mittelalter und Renaissance im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert widmet. Zu den behandelten Autoren zählen u.a. Jacob Burckhardt, Johan Huizinga, Georg Simmel, Aby Warburg, Ernst Robert Curtius, August Julius Langbehn, Ludwig Geiger, Richard Benz, Walther Rehm, E.M. Butler, Joris-Karl Huysmans, John Ruskin, Walter Pater, Oscar Wilde, Hugo von Hofmannsthal, Stefan George, Rainer Maria Rilke sowie Heinrich und Thomas Mann.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.01.2006

Nein, wie bunt ist dieses Beet
Peter Philipp Riedl hat ein 800-Seiten-Labyrinth kulturgeschichtlicher und literarischer Traditionsbildung errichtet
Wenn eine spezialisierte Fachstudie, hier eine literaturwissenschaftliche, sich in einer achtzigseitigen Einleitung zum „kulturwissenschaftlichen Fokus” bekennt, ahnt der Leser, mit welchem Rüstzeug die Reise beginnt. Foucaults Diskursanalyse, Assmanns soziales Gedächtnis, Aby Warburgs Ikonologie. Das ist inzwischen Kanon, und man wird unsere Epoche einmal nach der Erkenntnisleistung dieser Kanonbildung befragen.
Der Reiz von Peter Philipp Riedls Regensburger Habilitationsschrift liegt darin, dass er genau das historisiert. Er befragt die Kulturwissenschaftler und Literaten der Jahrzehnte um 1900, wie sie vergangene Epochen begrenzt und bewertet, wie sie deren Künstlergestalten typisierend beurteilt und wie sie Traditionslinien gezogen haben, in denen sich ihr eigenes Zeitalter aufwerten konnte. Aufwertung und Abwertung des Mittelalters, der Gegensatz von Renaissance und Reformation, die Verklärung der Goethezeit, der gotische und der nordische Mensch, Savonarolas Melancholie, Hamletcharaktere und der Rembrandtdeutsche - aus diesem Stoff sind die insgesamt neun Kapitel dieses achthundert Seiten starken Buches gewebt. Wer mit solchen Markierungen arbeitet, so die Grundüberlegung, erbaut den Gedächtnisspeicher seiner eigenen modernen Welt und bestückt ihn mit politischem Mobiliar, zukunftsfroh oder kulturpessimistisch.
Versprechen und Blüten
In einer derart ambitionierten Fragestellung liegen Chancen und Gefahren. Die Untersuchungsperiode zwischen 1860 und 1930 gilt wissenschaftsgeschichtlich als die kleine Achsenzeit neuer historischer Kulturforschung und literarisch als die Epoche der klassischen Moderne. Beides zu vergleichen, darin liegen die Chancen, und das umfangreiche Buch ist dazu in zwei Hälften geteilt: die Epochenbilder und Künstlertypologien in Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, und das gleiche noch einmal in der Literatur.
Eine Chance liegt ebenfalls darin, die vier am Ende der Einleitung genannten Perspektiven beziehungsweise Hypothesen zu gehaltvollen Konstellationsanalysen zu verbinden. Dies sind: Erstens, Kulturgeschichte baut sich über polare Spannungen der Kunststile auf, Renaissance, Aufklärung, Klassizismus treten an gegen Mittelalter, Barock, Romantik. Solche Kodierungen reduzieren zweitens komplexe Epochen auf Stereotypen und erleichtern die Identifikation mit Traditionen. Durch die normativen Bildungsdiskurse und den publizistischen Massenmarkt des Kaiserreichs und der Weimarer Republik werden die Traditionsbestände drittens zu kulturellen Gedächtnisorten gefiltert. Polarisierte und selektierte Traditionsaneignung ist immer eingebunden in den politischen Kampf um Weltanschauungen, insofern versteht Riedl seine Studie viertens als deutsche Ideologiegeschichte zwischen Reichsgründung und Nationalsozialismus. Versprochen wird, nicht nur Textdeutung von Werner Weisbach bis Richard Benz und Rainer Maria Rilke bis Anna Seghers zu betreiben, sondern die Texte in Bezug zu den allgemeinen Fragen der Gelehrtenkultur, zu akademischen und nichtakademischen Institutionen zu setzen und politisch zu kontextualisieren. Im Ergebnis soll die Kanonbildung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sichtbar werden.
In diesem Versprechen liegen aber die Gefahren. Der Autor erkennt sie und benennt sie freimütig. Seine Hypothesen stecken ein literarisches Feld mit Pfählen ab, „zwischen denen ein buntes Beet der kulturellen Diskurse blüht”. Aber das Betrachten der schönen Blüten verleitet dazu, die ursprünglichen Perspektiven zu vergessen. Das zeigt bereits die Auseinandersetzung mit der dominanten wissenschaftlichen Weltanschauung des 19. Jahrhunderts, dem Historismus. Um die Kritik am Historismus, der vermeintlich sterilen Epoche, in der alle schöpferischen Kräfte erlahmen, zu ermitteln, hechtet Riedl von Nietzsches unzeitgemäßen Betrachtungen zu Thomas Manns Doktor Faustus und wieder zurück zu Döblins Alexanderplatz.
So geht es fortwährend querbeet. Man kann kaum den Textsprüngen folgen, findet andererseits aber die bildungs- oder ideologiegeschichtlichen Niederschläge kaum, die Spannungen zwischen Kulturindustrie und Avantgarden, die Tendenzen bürgerlicher und antibürgerlicher Vergesellschaftung, die Herstellung einer intellektuellen Öffentlichkeit.
Gibt es einen Pfad durch das bunte Diskursbeet? Es gibt ihn, und der Pfadfinder heißt Jacob Burckhardt. An Burckhardts 1860 erschienener „Kultur der Renaissance in Italien” haben sich alle abgearbeitet, sei es in Modifikationen wie Johan Huizinga mit dem „Herbst des Mittelalters” oder in strikter kulturgeschichtlicher Opposition wie Richard Benz in seinem Lebenswerk. Diese polarisierte Burckhardt-Rezeption verfolgt man bis in die kulturanthropologischen Fundamente bei Riedl mit großem Gewinn.
Nur, welchen Wert hat in diesem Zusammenhang ein Abschnitt „Renaissance oder Reformation: Ernst Troeltsch und Fritz Strich”? Wenn schon Troeltsch, dann auch richtig gelesen. Renaissance und Reformation zählen für Troeltsch beide zum mittelalterlichen Herbst. Erst die Aufklärungsepoche liefert ihm die Grundlagen der modernen europäischen Kultur. Und wozu der Vergleich mit Fritz Strich? Nichts gegen den Literaturwissenschaftler Strich, aber der damalige Gegner im Diskursfeld hieß Eberhard Gothein.
Gothein lehrte in Heidelberg Nationalökonomie und arbeitete zugleich an einer Innovation der Kulturgeschichte im Sinne Burckhardts. Als Troeltsch mit seinem Vortrag „Renaissance und Reformation” im Dezember 1912 vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften in strukturelle Opposition zu Burckhardt ging, erregte sich Gothein über die „schiefen Vorstellungen”. Ein „Anti-Troeltsch” sei nötig, aber man streite sich nicht innerhalb einer Gelehrtenakademie. Das ist nur ein Beispiel für die kommunikativen Dimensionen im Traditionsdiskurs. Riedl versprach sie bis in die ideologischen Wirkungsweisen zu erschließen; de facto gelangt er nicht bis zum institutionellen Kontext seiner Schlüsseltexte.
Die Epochenbilder haben immerhin ihren Bezugspunkt in Jacob Burckhardt. Bei den Künstlertypologien muss sich der Leser oft fragen, wer typisiert zu welcher Zeit eigentlich wen? Das nicht leicht zu verfolgen. Kanonbildung war das Thema. Kanon heißt Auslese und Verengung. Riedl setzt dagegen ganz auf Breite. Damit liefert er fraglos ein eindrucksvolles Panorama, mit welchen literarischen Mitteln eine industriell beschleunigte Gesellschaft ihre Anstrengungen vervielfachte, sich ihrer Traditionen zu versichern. Das Kapitel „Der Renaissancemensch im nervösen Zeitalter” vergleicht im Frühwerk der Brüder Heinrich und Thomas Mann subtil die der Renaissance entnommenen Protagonisten zu Schönheitskult, sexuellem Begehren und Todesverfallenheit.
Aber bevor die Signalwirkung für das nervös auf große Männer schauende Kaiserreich so recht zum Ausdruck kommt, springt die Argumentation zurück zur deutschen Klassik. Goethes Beschäftigung mit einem Kraftmenschen und maßlosen Individualisten der Renaissance, mit Benvenuto Cellini, wird in anthropologischer Absicht behandelt. Von dort wird über Nietzsche der Bogen zur Weimarer Republik geschlagen, zur Ästhetisierung des charismatischen Führertums in Friedrich Gundolfs „Cäsar”. Und zum Gedankenfreund im Georgekreis, zu Ernst Kantorowicz mit seinem Erfolgsbuch „Kaiser Friedrich der Zweite”.
Die Geschichte vom „geheimen Deutschland” der konservativen Revolutionäre gegen den demokratischen Zeitgeist läuft wieder darauf zu, dass das Friedrichbuch bei Heinrich Himmler auf dem Nachttisch gelegen haben soll. Vermutlich ist das als Ausweis der ideologiekritischen Anlage der Arbeit gedacht. Fairerweise muss gesagt werden: Es ist nicht das letzte Wort. Das hat Thomas Mann. Das Schlusskapitel ist ganz allein seinem „Zauberberg” gewidmet. Naphta und Settembrini, die sind in der Tat Gemeingut aller Gebildeten geworden.
Erstarrung, rückblickend
Was wurde in der klassischen Moderne zum Kanon, was wurde ausgeschieden? Welche wissenschaftlichen und ästhetischen Avantgarden haben sich im demokratischen Massenzeitalter mit ihren Maßstäben durchgesetzt? Und vor allem, welche Institutionen und welche Medien haben dazu beigetragen, dem Kanon soziale Geltung zu verleihen? Man weiß es am Ende immer noch nicht so recht - auch wenn die „vier Perspektiven” der Einleitung, in der diese Fragen formuliert sind, sich im Epilog zu „sechs Perspektiven” erweitert haben. Um „Ethik und Ästhetik” und „Inspiration und Erstarrung” wurde das Untersuchungsfeld rückblickend ergänzt.
Jacob Burckhardt ist anders vorgegangen. Er wählte drei Potenzen und sechs Bedingtheiten, um die Universalgeschichte zu strukturieren. Etwas Strukturierungshilfe hätten sich die Beiträge zu den Traditionsentwürfen der Moderne bei Burckhardt borgen dürfen. Das bunte Beet der Epochendiskurse hätte eine ordnende Hand gut vertragen.
GANGOLF HÜBINGER
PETER PHILIPP RIEDL: Epochenbilder - Künstlertypologien. Beiträge zu Traditionsentwürfen in Literatur und Wissenschaft 1860 bis 1930. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2005. 803 Seiten, 109 Euro .
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Chancen" und "Gefahren" birgt das Unternehmen Peter Philipp Riedls, der in seiner 800-seitigen Habilitationsschrift die "kulturgeschichtliche und literarische Traditionsbildung" zwischen 1860 und 1930 untersucht, konstatiert Gangolf Hübinger in seiner eingehenden Kritik. Die Vorzüge sieht der Rezensent vor allem darin, dass der Autor bei seiner Typisierung und Einordnung vergangener Epochen durch die Kulturwissenschaftler und Schriftsteller um 1900 die "Kultur- und Wissenschaftsgeschichte" der Literatur vergleichend gegenüber stellt. Mit "großem Gewinn" hat er auch die Ausführungen zu Jakob Burckhardt gelesen, den Riedel als "Pfadfinder" durch das "bunte Diskursfeld" auffasst und dessen Rezeption er "bis in die kulturanthropologischen Fundamente" verfolgt, wie der Rezensent lobt. Wenn der Autor allerdings verspreche, die "Kanonbildung" der Zeit auch in ihrem politischen Kontext sichtbar zu machen, läuft er Gefahr, sich zu verzetteln, merkt Hübinger an. Denn der Autor gehe "fortwährend querbeet", ziehe eine Fülle von literarischen Texten heran und setze auf die "Breite", wo ein Kanon ja eigentlich zu Eingrenzung und Auswahl führen soll, so der Rezensent kritisch. Was um die Jahrhundertwende zum kultur- und literaturwissenschaftlichen Kanon wurde und wie diese "Maßstäbe" durchgesetzt wurden, ist einem nach der Lektüre immer noch nicht recht klar, moniert der Rezensent, der sich insgesamt mehr "Strukturierungshilfe" und eine "ordnende Hand" bei den Ausführungen gewünscht hätte.

© Perlentaucher Medien GmbH
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