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Ole Reuter, alt gewordener Stratege, Humorist und Melancholiker, nimmt sich einen Monat Auszeit: Er reist erneut mit einer Netzkarte der Bahn durch die nun weiter gewordene Republik, um zum früheren Lebensgefühl zurückzufinden. Aber diesmal begleitet ihn auf Schritt und Tritt ein kühl analysierendes Alter ego, und mit der Trägheit ist es schnell vorbei.

Produktbeschreibung
Ole Reuter, alt gewordener Stratege, Humorist und Melancholiker, nimmt sich einen Monat Auszeit: Er reist erneut mit einer Netzkarte der Bahn durch die nun weiter gewordene Republik, um zum früheren Lebensgefühl zurückzufinden. Aber diesmal begleitet ihn auf Schritt und Tritt ein kühl analysierendes Alter ego, und mit der Trägheit ist es schnell vorbei.
Autorenporträt
Sten Nadolny, geboren 1942 in Zehdenick an der Havel, lebt in Berlin. Ingeborg-Bachmann-Preis 1980, Hans-Fallada-Preis 1985, Premio Vallombrosa 1986, Ernst-Hoferichter-Preis 1995.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999

Die Entdeckung der Langsamkeit im Abteil
Sten Nadolny setzt seinen betagten Helden in den Zug und schickt ihn zu sich selbst hinab / Von Eberhard Rathgeb

Wer Bahn fährt, der kann allerhand machen, zum Beispiel aus dem Fenster schauen oder Wein trinken oder schreiben. In der modernen Welt der Fortbewegung ist das Bahnfahren eine recht verantwortungslose Tätigkeit. Denn man muss nicht nach rechts, nicht nach links schauen wie beim Autofahren. Man rollt kopflos dahin, wenn man nicht selbst das Steuer hält. Einen solchen Zustand erträgt man nicht lange. Man muss sich mit etwas beschäftigen, die Zeit entweder stundenweise erdrosseln, indem man liest oder plaudert, oder sie von einer Minute auf die andere totschlagen, indem man eine Flasche Rotwein kippt oder sich einige Biere genehmigt. Wer offenen, nicht vom Alkohol getrübten Auges mit dem Zug fahren möchte, der wird sich auf die langsame Ermordung der Zeit besinnen. Da hat man nun Gelegenheit, die Langsamkeit in vollen Zügen zu entdecken. Man kann ja selbst nicht beschleunigen. Wer die Macht über die Geschwindigkeit aus den eigenen Händen gegeben hat, der weiß, woher der Sinn für die Langsamkeit kommt.

Sten Nadolny hatte 1980 beim Klagenfurter Literaturwettbewerb ein Kapitel aus seinem erst 1983 veröffentlichten Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" vorgetragen und ein Jahr nach dieser preisgekrönten Lesung den Roman "Netzkarte" vorgelegt, in dem von den Zugfahrten seines Helden Ole Reuter durch die Bundesrepublik berichtet wurde. Während die Entdeckung der Langsamkeit der Öffentlichkeit kundgetan wurde, beschleunigte der Autor, überholte sich und die Langsamkeit mit einem anderen Buch, um schließlich bei der Entdeckung der Langsamkeit wieder anzukommen.

Ein Autor entdeckte, so geht diese Geschichte der Beschleunigung, im Zug die Langsamkeit, koppelte das Zugfahren und die Langsamkeit voneinander ab und ließ beide Waggons hintereinander in den Bahnhof der Literatur rollen. Der Roman über die Langsamkeit, der kein Roman über die Entdeckung der Langsamkeit beim Zugfahren ist, machte Furore, und der Autor, der darauf nicht mehr Zug fahren mochte, weil er ja gefunden hatte, was es dort zu entdecken gab, wurde zu einem erfolgreichen Schriftsteller. Fast zwanzig Jahre nach der Bahnreise, die den Helden Ole Reuter zu dem poetologischen Bekenntnis führte: "Ich sehe, weil ich aus so einem schnellen Zug relativ langsam schaue, von allem nur die Oberfläche, also wird es idyllisch, hübsch und putzig", hat Sten Nadolny seinen Helden, wie er selbst um Jahre gealtert und den Erfolg hinter sich, wieder in den Zug einsteigen lassen und auf eine Reise geschickt. Was konnte er nach der Langsamkeit noch finden? Nichts anderes als sich selbst. Das verspricht eine heikle Geschichte zu werden, wenn der Entdecker der Langsamkeit sich selbst in voller Fahrt treffen soll.

"Ich" und "er" haben es sich im selben Abteil bequem gemacht. Der eine schaut nach vorne, sitzt in Fahrtrichtung, der andere blickt nach hinten, entfernt von dem Ort, wo alles seinen Anfang nahm, und er weiß auch nicht, wohin die Reise geht, weil das Ziel in seinem Rücken ist. Über Ole Reuters sagt der Autor am Ende des neuen Romans: "Wir haben früher viel gelacht mit ihm." Ohne einen lockeren Ton kann weder der alte noch der junge Ole Reuter eine Geschichte erzählen. Der alte Ole Reuter gehört zu denen, die vorderhand die eigene Unentschiedenheit gut aushalten können. Er kann abwarten. Er hatte Erfolg, weil er wusste, dass Erfolg hat, wer "eine Erfolgsgeschichte gut erzählt". Damit wird erst mal kein Schriftsteller beschrieben, sondern ein "Berater", ein "Teil von jener Kraft, die nicht fürs Gute zuständig ist, nicht fürs Bessere, sondern für Gewinn", wie Ole Reuter über sich selbst sagt.

Kalauer solcher Güte sind die Krücken, an denen ein Autor geht, der offenbar nur seine eigenen, von ihm selbst angezettelten Spiegelfechtereien sieht, wenn er aus dem Zugfenster blicken möchte. Ist aber eine Welt, ein Roman nicht erschütternd und deprimierend überschaubar, in dem man auf solche "Berater" trifft? "Er trug Jeans, um sich von seinen Auftraggebern zu unterscheiden, darüber wehte ein Zweireiher von Armani, den er offen trug wie ein Politiker." Wer trüge daran schwer? Der "Berater" Ole Reuter klagt und unterhält sich gerne mit dem Teufel, auf einem Niveau, das man einem Berater einräumt, der "den Ruck" verkauft, "der durch Firmen, Parteien und Institutionen geht". Er habe einen "anstrengenden Beruf", sagt Ole Reuter. "Einen Kontaktberuf, in dem alles auf Ausstrahlung und Stimmung ankommt." Ist das nicht eine hoffnungslos überschaubare Figur, der man sogar nicht einmal in die Augen schauen kann, weil sie vom Geschäftsblick schon ganz trübsinnig geworden sind?

Mit einundfünfzig Jahren reist Ole Reuter durch die Republik, schwadroniert und kalauert über das Böse und den Seelenschmerz, den Gedächtnisverlust und das Versagen der Vorsätze, das Gute und die Gier, den Selbstverlust und die Verantwortung und was es noch im Gepäck der Selbstgefälligkeit mit beschränkter Einsicht gibt. Irgendwann fällt dem Berater nichts mehr ein, und dem Autor fällt zu Ole Reuter nichts mehr ein. Der Autor schickt den Helden in die Wüste. Ole Reuter hebt einen Batzen Geld ab und verschwindet, weil ihm die Luft zu dünn geworden ist.

Ole Reuters Rückkehr und sein Verschwinden kann man auch als eine Selbstauskunft der Schriftstellers Sten Nadolny verstehen. Der Erfolg nach der Entdeckung der Langsamkeit während der Zugfahrten wurde, so geht diese Geschichte, in die Krise einer Selbstprüfung geschickt und knickte dort vor der trivialen Einsicht ein, dass Erfolg nicht alles im Leben ist. Der Held ging in die Knie mit dem Bekenntnis, es künftig besser und anders anzupacken, und humpelte geläutert davon. Der Autor konnte seinen Helden, dem die Langsamkeit im Bahnabteil gedämmert war und dem die Geschwindigkeit des Erfolgs ein Schnippchen schlug, einmotten.

"Ich hatte mich nie wirklich auf etwas eingelassen", erkennt Ole Reuter, "mein ganzes Leben nicht. Ich wollte alles wissen, alles haben - und alles fallenlassen, wenn Neues in Sicht kam. Darin unterschied ich mich von den anderen Jungen. Die eigneten sich eine Sache an, gingen ihr auf den Grund . . . schrieben Dissertationen. Ich hingegen war eine Maschine, durch die die Welt nur hindurchratterte." Hinter dem Porträt eines Beraters schimmert das Gesicht eines Schriftstellers durch, der durch die Materialhalden der Wirklichkeit mit dem Zug tuckerte und hier etwas aufnahm, dort etwas wegnahm und aus den Funden etwas Neues, eine Geschichte, bastelte. Während der Ole Reuter der frühen achtziger Jahre auf seinen Bahnfahrten die Langsamkeit als Laufmasche der Wirklichkeit entdecken musste, weil er ein aufmerksamer Zugfahrer war, findet der Ole Reuter der späten neunziger Jahre zu der Einsicht, dass die Addition des Partikularen im schlimmsten Fall "zur Produktion von Schotter" führt. "Hinter mir wuchsen die Geröllhalden", sagt der alte Ole Reuter.

Wer sind die beiden, die im Abteil auf dieser neuen Bahnfahrt einander gegenübersitzen? Auf der einen Seite findet man den in die Jahre gekommenen Schriftsteller Sten Nadolny, der sich selbst und seinen Ambitionen als Geschichtenerfinder auf den Zahn fühlt, und auf der anderen Seite den jüngeren, aufstrebenden Schriftsteller Sten Nadolny, der mit der frühen Entdeckung der Langsamkeit zu schnellem Erfolg kam.

Dass es für diese interne Auseinandersetzung der Maskerade bedurfte, der Karikaturen von Berater und Teufel, Hiob und Engel, das ist der Hoffnung geschuldet, aus dem Gespräch zwischen "ich" und "er" möge die Einsicht hervorgegangen sein, dass mit dem Erfolg auch der Appetit wächst. "Ich fraß Erde in mich hinein . . .", sagt Ole Reuter. Und weiter? "Er wird verschollen bleiben - wer sich selbst verloren hat, den kann kein anderer wiederfinden." So steht es schlicht am Schluss des Selbstfindungsbuches. Der Zug setzt sich in Bewegung. Man weiß nicht recht, ob Sten Nadolny wirklich ausgestiegen ist.

Sten Nadolny: "Er oder Ich". Roman. Piper Verlag, München 1999. 264 S., geb., 38,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Auch wenn die Figur des "Ole Reuter" aus Nadolnys Debütroman "Netzkarte" wieder - wenn auch um zwanzig Jahre gealtert - in Erscheinung tritt, so unterscheedet sich dieser Roman stilistisch doch deutlich von Nadolnys früherem Werk, meint Hanns-Josef Ortheil. Der Autor versuche, die Figur Ole Reuter neu zusammenzusetzen. Es sei keine Entdeckerfreude eines Reisenden mehr zu beobachten, stattdessen sei Reuter müde, von Wehwehchen geplagt und daher unfähig, Eindrücke von aussen aufzunehmen und zu geniessen. Aber dieser müde Reuter verdirbt Nadolny in den Augen des Rezensenten die Pointen. Ortheil meint, dass Nadolny verkrampft gegen seinen früheren Erzählstil anzukämpfen versuche. Leider werde der Leser Zeuge dieses Kampfes und auf Distanz gehalten. Allerdings wertet Ortheil dieses Buch als ein Buch des "Übergangs". Erst der nächste Roman werde zeigen, ob dieser Kampf Nadolnys Früchte trage.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Zwischen dem Schreiben über einen einzelnen und dem Schreiben über eine Generation, zwischen Schrift, Ironie, Scherz, Trauer und Ernst läßt Sten Nadolnys Buch eine wunderbare Balance.« Die Welt