Indien Mitte der achtziger Jahre. Auf einer verwunschenen Sturmhöhe an den Hängen des Himalaja erlebt die sechzehnjährige Sai inmitten der Unwetter des Monsuns ihre erste Liebe. Als Aufständische das Anwesen überfallen, gerät ihre Welt aus den Fugen. Ein anrührendes, weit über die Kontinente gespanntes Panorama von Liebe, Terror und Migrantentum.
In Kalimpong, an den Hängen des Himalaja, versammelt sich eine ganze Menagerie verschrobener Gestalten. Hier bringen die Naturgewalten Schönheit und Zerstörung zugleich. Auf einem abgelegenen, von Termiten zernagten Anwesen vergöttert der Richter Jemubhai Popatlal Patel seine schöne Setter-Hündin Mutt. Die Enkelin Sai verliert sich in der Welt Jane Austens und verzehrt sich nach ihrem Hauslehrer Gyan. In einer verrußten Küchenhöhle werkelt der grantige Koch, dessen Sohn Biju sich im fernen New York als Küchenhilfe durchschlägt. Kiran Desais erstaunlicher zweiter Roman erzählt nicht nur die anrührende Geschichte vom Liebeserwachen eines jungen Mädchens in einer traumhaft exotischen Welt, umgeben von Mungos, Gleithörnchen und riesigen Schmetterlingen. Vor dem historischen Hintergrund des indischen Ghurka-Aufstandes Mitte der achtziger Jahre zeichnet die Autorin das faszinierend gründliche Psychogramm einer aufstrebenden Weltmacht, die sich wie eine verlassene Geliebte nach dem untergegangenen britischen Empire zurücksehnt und gleichzeitig versucht, ihre Kolonialneurose zu überwinden. Kiran Desai erklärt uns die Natur des Terrors, des Migrantentums, der Liebe. Aus dem feinen Gewebe der kleinen Geschichten wird eine große Erzählung vom Fremdsein daheim und in der Fremde. Ein großer Roman der Globalisierung — ein Bericht aus einer Welt, die wir verstehen müssen, wenn wir überleben wollen.
In Kalimpong, an den Hängen des Himalaja, versammelt sich eine ganze Menagerie verschrobener Gestalten. Hier bringen die Naturgewalten Schönheit und Zerstörung zugleich. Auf einem abgelegenen, von Termiten zernagten Anwesen vergöttert der Richter Jemubhai Popatlal Patel seine schöne Setter-Hündin Mutt. Die Enkelin Sai verliert sich in der Welt Jane Austens und verzehrt sich nach ihrem Hauslehrer Gyan. In einer verrußten Küchenhöhle werkelt der grantige Koch, dessen Sohn Biju sich im fernen New York als Küchenhilfe durchschlägt. Kiran Desais erstaunlicher zweiter Roman erzählt nicht nur die anrührende Geschichte vom Liebeserwachen eines jungen Mädchens in einer traumhaft exotischen Welt, umgeben von Mungos, Gleithörnchen und riesigen Schmetterlingen. Vor dem historischen Hintergrund des indischen Ghurka-Aufstandes Mitte der achtziger Jahre zeichnet die Autorin das faszinierend gründliche Psychogramm einer aufstrebenden Weltmacht, die sich wie eine verlassene Geliebte nach dem untergegangenen britischen Empire zurücksehnt und gleichzeitig versucht, ihre Kolonialneurose zu überwinden. Kiran Desai erklärt uns die Natur des Terrors, des Migrantentums, der Liebe. Aus dem feinen Gewebe der kleinen Geschichten wird eine große Erzählung vom Fremdsein daheim und in der Fremde. Ein großer Roman der Globalisierung — ein Bericht aus einer Welt, die wir verstehen müssen, wenn wir überleben wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2006In einer staubigen lauwarmen sariweichen Nacht
Von der Angst eines Lebens als Ausländer: Die Inderin Kiran Desai entdeckt Darjeeling als einen Landstrich der Phantasie / Von Ingeborg Harms
Die 1971 in Indien geborene und in Amerika lebende Kiran Desai hat es mit ihrem zweiten Roman in die enge Wahl für den britischen Man Booker Prize gebracht. "Erbin des verlorenen Landes" rollt einen Sprachteppich exotischer Reize aus.
Auf der Veranda eines verfallenden Herrenhauses im Himalaja-Gebirge spielt der pensionierte Richter Jemubhai gegen sich selber Schach. Er wurde in Cambridge erzogen und schläft des Nachts in einem Bett mit seinem Hund. Als einziger Sohn der Darjeeling-Gemeinde, der es je in den Staatsdienst geschafft hat, begrüßten ihn am Bahnhof Tausende. Er verachtete sie alle, denn er hatte es in den englischen Straßen gelernt, seinesgleichen und sich selbst zu hassen. Nach der Verlesung der universitären Prüfungsergebnisse war er drei Tage lang heulend in sein Zimmer verschwunden. Denn mit der Besiegelung seiner Karriere war sein Glück als fühlendes Wesen endgültig dahin.
Die Schizophrenie des Richters teilen mehr oder weniger alle Figuren in Kiran Desais drallem, von grotesken Details strotzendem Roman aus der nordindischen Provinz. Seine Enkelin Sai hat als Waise unter den perversen Erziehungsmaßnahmen einer katholischen Klosterschule gelitten, bevor sie bei ihrem wortkargen Großvater einzog und sich in ein Naturkind zurückverwandelte. Der über den Haushalt waltende Koch teilt den Masochismus seines Herrn und fordert in einer Schlüsselszene durch die unerbetene Beichte seiner kleinen Vergehen eine heftige Prügelstrafe heraus. Sais nicht besonders fähiger Hauslehrer und Geliebter Gyan ist ebenso zerrissen. Zunächst turtelt er mit seiner Schülerin noch in Babysprachbrocken, doch als die regionale Separatistenbewegung der Ghorkas ihn für sich gewinnt, verrät er selbst Sais Zuhause an einen Guerrillatrupp.
Das Thema der Autorin ist die Zwietracht, die durch den wütenden Anspruch auf Würde entsteht, einen Anspruch, der dem religiösen Kastensystem des Landes nicht fremd war, der aber durch den Abzug der Briten als Virus in allen vormals selbstgenügsamen Seelen zurückblieb. Status der modernen Art verschafft ein erfolgreiches Kind, das wie Gyan auf Kosten der übrigen Familie aufgepäppelt wird, um im Ausland seinen Weg zu machen. So ist der ganze Stolz des Kochs sein ausgewanderter Sohn Biju, mit dem er fast täglich korrespondiert, um mit dessen mutmaßlichen Erfolgen prahlen zu können. In einer Parallelhandlung verfolgt der Roman Bijus erbärmliches Schicksal als illegale Küchenhilfe in New Yorker Restaurants. Der ewige Tellerwäscher straft den Mythos vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten Lügen. Als der Aufstand gegen die bengalische Regierung in seiner Heimat losbricht, steckt er sein schmales Vermögen in Geschenke und fliegt nach Indien zurück.
Kiran Desai läßt ihn bis aufs Hemd ausrauben, bevor er auf der letzten Seite des Romans über die väterliche Schwelle tritt - ein Lehrstück in Sachen Vergeblichkeit und doch ein Lichtblick. Denn der schwungvolle Fatalismus der Autorin schafft Raum für das Lebendige in seiner ganzen turbulenten Widersprüchlichkeit, und das ist in der Himalaja-Region zuerst eine gefräßige Natur. Plastisch und atmosphärisch dicht schildert sie den Einbruch des Monsuns, dessen allgegenwärtige Feuchtigkeit die Kleider über Nacht verschimmeln läßt und Fluten von Getier ins Haus treibt. Alles in dieser Welt ist üppig, unkontrollierbar, im Überfluß vorhanden und doch schon verdorben. Die Verdauung spielt nicht nur für das Wohl der Figuren eine zentrale Rolle, sie ist ein hektischer Kreislauf allseitigen Verschlingens, der Menschen, Tiere und Pflanzen umfaßt.
Daß Hochzeitspaare sich besonders gern unter einem blütenreichen Pflaumenbaum ablichten lassen, den das faule Blut eines nahen Labors ernährt, ist als Allegorie für den moralfreien Darwinismus zu lesen, den Kiran Desai auf dem Grund aller Aktivitäten entdeckt. In ihrem Indien wird niemand durch Skrupel an der Durchsetzung seiner Interessen gehindert; das Problem liegt darin, daß keiner in diesem zwischen Archaik und Spätzeit hin und her gerissenen Land seine besten Interessen kennt. Politisch agitierte Kellner verderben sich durch arrogante Aufsässigkeit ihren Lebensunterhalt, junge Aufständische vandalisieren Bibliotheken und andere segensreiche Relikte der Kolonialherrschaft und nehmen sich so jede Chance auf Anschluß an den Globalismus.
"Erbin des verlorenen Landes" ist im Sommer 1986 situiert, in einem Jahr, als sich der Terrorismus in Indien bemerkbar zu machen begann. Das Buch läßt sich daher auch als Kommentar zur aktuellen Weltlage verstehen, als Warnung vor einer Militarisierung der Armen, die ihre Lage nur verschlimmern wird.
Alles, was der Roman an Schönheiten besitzt, betrifft das zivile Leben, von den kleinen Ritualen zweier anglophiler Damen über pittoreske Grenzmärkte, durch die mongolische Wollkarawanen ziehen, bis zu den "leuchtenden Gipfeln" des Himalajas, dessen weite Hänge und "ozeanische Schatten" menschliche Probleme klein erscheinen lassen. Kiran Desai führt ihre Leser an die Ränder einer mythischen Zeit, die von der Brüchigkeit der Zivilisation lebt und mehr auf den Witz und Erfindungsreichtum des einzelnen baut als auf etablierte Systeme. Weil nichts in dieser von den Gezeiten überschäumenden Welt gesichert ist, wird das Dasein ständig neu erfunden: Auf den Flüssen reisen Männer "auf toten Büffeln stromabwärts", Biju verstärkt seine Schuhsohlen durch einen Spaziergang über eine frisch geteerte Straße, und der Koch stellt die Beine des Vorratsschranks in Wasserschalen, um sie vor Ameisen zu schützen.
Ordnung ist unter solchen Bedingungen ein Gruselwort. Es trifft auf die formatierten, global vertriebenen Markenprodukte ebenso zu, die man in den Restaurants der frischen Regionalware vorzieht, wie auf die Machenschaften der illegalen Separatistenmiliz, die jeden Haushalt zur Entsendung eines Krawallbruders nötigt. Kapitalismus und Revolte erweisen sich als zwei Seiten einer Medaille. Denn der von verstümmelten Terroropfern gesäumte "Abstieg in den Irrsinn" wird von Hollywood orchestriert. Sind die Köpfe der halben Kinder, die sich rostige Kolonialwaffen zusammenrauben, doch voll von Kung-Fu- und Karate-Griffen, von Rambo und Bruce Lee.
Kiran Desai ist mit vierzehn Jahren in die Vereinigten Staaten immigriert, jetzt steht sie mit ihrem zweiten Roman auf der Shortlist des angesehenen britischen Man-Booker-Preises. Erstaunlich ist ihre so ganz unamerikanisch anmutende Sprachkraft, die Obszönitäten nicht scheut und in der sich ein um Anstand und Etikette unbesorgtes, mittelalterlich-deftiges Weltbild seine Bahn bricht. Ihr Ausdruck ist salopp bis zur Albernheit, ihr Witz voller Absurditäten. Sie bedient sich der Exklamationen der Comic- und Cartoon-Welt, doch ihre Babysprache ist zugleich Babelsprache, das Idiom der Migrationen, jener postmodernen Infantilisierung, in der jeder überall ein Fremder ist und sich mit Händen und Füßen verständigt. Die fröhliche Ironie der von Anfang an zu spät Gekommenen mischt sich mit urbritischem Sarkasmus und der penetranten Unbekümmertheit derer, die nichts zu verlieren haben.
Kiran Desais Protagonisten gehen in diesem Teppich exotischer Reize ein wenig unter. Paradoxerweise ist ihr gerade deshalb ein Gegenbuch zur nostalgischen Kolonialliteratur geglückt. Denn dieses auf so verführerische Weise chaotische Indien bleibt seltsam herrenlos. In keine Figurenperspektive vermag der Leser wirklich zu schlüpfen, und so stellt sich auch kein idyllischer Genuß ein. Vielleicht mußte diese Autorin das Land ihrer Heimat erst verlassen, um sich in ihm zurechtzufinden. Und so träumt Kiran Desai denn auch von der Rückkehr, und hier gelingen ihr die innigsten Passagen: "Da stand Biju in dieser staubigen lauwarmen sariweichen Nacht. Oh süße Monotonie der Heimat - er spürte, wie um ihn herum alles zauberhaft zurück in die alte Ordnung fiel, wie er wieder auf seine eigene Größe zusammenschnurrte und die monströse Angst des Lebens als Ausländer abebbte."
Der Heimkehrer schaut sich verwundert um, "und zum ersten Mal in wer weiß wie langer Zeit konnte er scharf sehen". Kiran Desais Darjeeling ist ein Land der Erinnerung und Sehnsucht, in der alles von selbst episch wird, Stimmungen auslöst, zu den hybridesten Überschreitungen animiert, ein Land, das, wie Sai beim Lesen entdeckt, keinem wirklich gehört, aber von den unterschiedlichsten Völkern durchzogen wurde. Deshalb eignet sich dieses Indien aufs beste zur Demonstration eines postmodernen Existentialismus, hatte seine Tradition der Fremdarbeit doch längst dazu geführt, "daß man mit seinem Herzen immer an anderen Orten war". Daß es das Leben an einem Ort nicht gibt, wie ein klüger gewordener Biju melancholisch feststellt, gilt nur, solange man sich nicht damit begnügt, in der Phantasie zu wohnen.
Kiran Desai: "Erbin des verlorenen Landes". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Robin Detje. Berlin Verlag, Berlin 2006. 429 S., geb., 19,90 [Euro].
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Von der Angst eines Lebens als Ausländer: Die Inderin Kiran Desai entdeckt Darjeeling als einen Landstrich der Phantasie / Von Ingeborg Harms
Die 1971 in Indien geborene und in Amerika lebende Kiran Desai hat es mit ihrem zweiten Roman in die enge Wahl für den britischen Man Booker Prize gebracht. "Erbin des verlorenen Landes" rollt einen Sprachteppich exotischer Reize aus.
Auf der Veranda eines verfallenden Herrenhauses im Himalaja-Gebirge spielt der pensionierte Richter Jemubhai gegen sich selber Schach. Er wurde in Cambridge erzogen und schläft des Nachts in einem Bett mit seinem Hund. Als einziger Sohn der Darjeeling-Gemeinde, der es je in den Staatsdienst geschafft hat, begrüßten ihn am Bahnhof Tausende. Er verachtete sie alle, denn er hatte es in den englischen Straßen gelernt, seinesgleichen und sich selbst zu hassen. Nach der Verlesung der universitären Prüfungsergebnisse war er drei Tage lang heulend in sein Zimmer verschwunden. Denn mit der Besiegelung seiner Karriere war sein Glück als fühlendes Wesen endgültig dahin.
Die Schizophrenie des Richters teilen mehr oder weniger alle Figuren in Kiran Desais drallem, von grotesken Details strotzendem Roman aus der nordindischen Provinz. Seine Enkelin Sai hat als Waise unter den perversen Erziehungsmaßnahmen einer katholischen Klosterschule gelitten, bevor sie bei ihrem wortkargen Großvater einzog und sich in ein Naturkind zurückverwandelte. Der über den Haushalt waltende Koch teilt den Masochismus seines Herrn und fordert in einer Schlüsselszene durch die unerbetene Beichte seiner kleinen Vergehen eine heftige Prügelstrafe heraus. Sais nicht besonders fähiger Hauslehrer und Geliebter Gyan ist ebenso zerrissen. Zunächst turtelt er mit seiner Schülerin noch in Babysprachbrocken, doch als die regionale Separatistenbewegung der Ghorkas ihn für sich gewinnt, verrät er selbst Sais Zuhause an einen Guerrillatrupp.
Das Thema der Autorin ist die Zwietracht, die durch den wütenden Anspruch auf Würde entsteht, einen Anspruch, der dem religiösen Kastensystem des Landes nicht fremd war, der aber durch den Abzug der Briten als Virus in allen vormals selbstgenügsamen Seelen zurückblieb. Status der modernen Art verschafft ein erfolgreiches Kind, das wie Gyan auf Kosten der übrigen Familie aufgepäppelt wird, um im Ausland seinen Weg zu machen. So ist der ganze Stolz des Kochs sein ausgewanderter Sohn Biju, mit dem er fast täglich korrespondiert, um mit dessen mutmaßlichen Erfolgen prahlen zu können. In einer Parallelhandlung verfolgt der Roman Bijus erbärmliches Schicksal als illegale Küchenhilfe in New Yorker Restaurants. Der ewige Tellerwäscher straft den Mythos vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten Lügen. Als der Aufstand gegen die bengalische Regierung in seiner Heimat losbricht, steckt er sein schmales Vermögen in Geschenke und fliegt nach Indien zurück.
Kiran Desai läßt ihn bis aufs Hemd ausrauben, bevor er auf der letzten Seite des Romans über die väterliche Schwelle tritt - ein Lehrstück in Sachen Vergeblichkeit und doch ein Lichtblick. Denn der schwungvolle Fatalismus der Autorin schafft Raum für das Lebendige in seiner ganzen turbulenten Widersprüchlichkeit, und das ist in der Himalaja-Region zuerst eine gefräßige Natur. Plastisch und atmosphärisch dicht schildert sie den Einbruch des Monsuns, dessen allgegenwärtige Feuchtigkeit die Kleider über Nacht verschimmeln läßt und Fluten von Getier ins Haus treibt. Alles in dieser Welt ist üppig, unkontrollierbar, im Überfluß vorhanden und doch schon verdorben. Die Verdauung spielt nicht nur für das Wohl der Figuren eine zentrale Rolle, sie ist ein hektischer Kreislauf allseitigen Verschlingens, der Menschen, Tiere und Pflanzen umfaßt.
Daß Hochzeitspaare sich besonders gern unter einem blütenreichen Pflaumenbaum ablichten lassen, den das faule Blut eines nahen Labors ernährt, ist als Allegorie für den moralfreien Darwinismus zu lesen, den Kiran Desai auf dem Grund aller Aktivitäten entdeckt. In ihrem Indien wird niemand durch Skrupel an der Durchsetzung seiner Interessen gehindert; das Problem liegt darin, daß keiner in diesem zwischen Archaik und Spätzeit hin und her gerissenen Land seine besten Interessen kennt. Politisch agitierte Kellner verderben sich durch arrogante Aufsässigkeit ihren Lebensunterhalt, junge Aufständische vandalisieren Bibliotheken und andere segensreiche Relikte der Kolonialherrschaft und nehmen sich so jede Chance auf Anschluß an den Globalismus.
"Erbin des verlorenen Landes" ist im Sommer 1986 situiert, in einem Jahr, als sich der Terrorismus in Indien bemerkbar zu machen begann. Das Buch läßt sich daher auch als Kommentar zur aktuellen Weltlage verstehen, als Warnung vor einer Militarisierung der Armen, die ihre Lage nur verschlimmern wird.
Alles, was der Roman an Schönheiten besitzt, betrifft das zivile Leben, von den kleinen Ritualen zweier anglophiler Damen über pittoreske Grenzmärkte, durch die mongolische Wollkarawanen ziehen, bis zu den "leuchtenden Gipfeln" des Himalajas, dessen weite Hänge und "ozeanische Schatten" menschliche Probleme klein erscheinen lassen. Kiran Desai führt ihre Leser an die Ränder einer mythischen Zeit, die von der Brüchigkeit der Zivilisation lebt und mehr auf den Witz und Erfindungsreichtum des einzelnen baut als auf etablierte Systeme. Weil nichts in dieser von den Gezeiten überschäumenden Welt gesichert ist, wird das Dasein ständig neu erfunden: Auf den Flüssen reisen Männer "auf toten Büffeln stromabwärts", Biju verstärkt seine Schuhsohlen durch einen Spaziergang über eine frisch geteerte Straße, und der Koch stellt die Beine des Vorratsschranks in Wasserschalen, um sie vor Ameisen zu schützen.
Ordnung ist unter solchen Bedingungen ein Gruselwort. Es trifft auf die formatierten, global vertriebenen Markenprodukte ebenso zu, die man in den Restaurants der frischen Regionalware vorzieht, wie auf die Machenschaften der illegalen Separatistenmiliz, die jeden Haushalt zur Entsendung eines Krawallbruders nötigt. Kapitalismus und Revolte erweisen sich als zwei Seiten einer Medaille. Denn der von verstümmelten Terroropfern gesäumte "Abstieg in den Irrsinn" wird von Hollywood orchestriert. Sind die Köpfe der halben Kinder, die sich rostige Kolonialwaffen zusammenrauben, doch voll von Kung-Fu- und Karate-Griffen, von Rambo und Bruce Lee.
Kiran Desai ist mit vierzehn Jahren in die Vereinigten Staaten immigriert, jetzt steht sie mit ihrem zweiten Roman auf der Shortlist des angesehenen britischen Man-Booker-Preises. Erstaunlich ist ihre so ganz unamerikanisch anmutende Sprachkraft, die Obszönitäten nicht scheut und in der sich ein um Anstand und Etikette unbesorgtes, mittelalterlich-deftiges Weltbild seine Bahn bricht. Ihr Ausdruck ist salopp bis zur Albernheit, ihr Witz voller Absurditäten. Sie bedient sich der Exklamationen der Comic- und Cartoon-Welt, doch ihre Babysprache ist zugleich Babelsprache, das Idiom der Migrationen, jener postmodernen Infantilisierung, in der jeder überall ein Fremder ist und sich mit Händen und Füßen verständigt. Die fröhliche Ironie der von Anfang an zu spät Gekommenen mischt sich mit urbritischem Sarkasmus und der penetranten Unbekümmertheit derer, die nichts zu verlieren haben.
Kiran Desais Protagonisten gehen in diesem Teppich exotischer Reize ein wenig unter. Paradoxerweise ist ihr gerade deshalb ein Gegenbuch zur nostalgischen Kolonialliteratur geglückt. Denn dieses auf so verführerische Weise chaotische Indien bleibt seltsam herrenlos. In keine Figurenperspektive vermag der Leser wirklich zu schlüpfen, und so stellt sich auch kein idyllischer Genuß ein. Vielleicht mußte diese Autorin das Land ihrer Heimat erst verlassen, um sich in ihm zurechtzufinden. Und so träumt Kiran Desai denn auch von der Rückkehr, und hier gelingen ihr die innigsten Passagen: "Da stand Biju in dieser staubigen lauwarmen sariweichen Nacht. Oh süße Monotonie der Heimat - er spürte, wie um ihn herum alles zauberhaft zurück in die alte Ordnung fiel, wie er wieder auf seine eigene Größe zusammenschnurrte und die monströse Angst des Lebens als Ausländer abebbte."
Der Heimkehrer schaut sich verwundert um, "und zum ersten Mal in wer weiß wie langer Zeit konnte er scharf sehen". Kiran Desais Darjeeling ist ein Land der Erinnerung und Sehnsucht, in der alles von selbst episch wird, Stimmungen auslöst, zu den hybridesten Überschreitungen animiert, ein Land, das, wie Sai beim Lesen entdeckt, keinem wirklich gehört, aber von den unterschiedlichsten Völkern durchzogen wurde. Deshalb eignet sich dieses Indien aufs beste zur Demonstration eines postmodernen Existentialismus, hatte seine Tradition der Fremdarbeit doch längst dazu geführt, "daß man mit seinem Herzen immer an anderen Orten war". Daß es das Leben an einem Ort nicht gibt, wie ein klüger gewordener Biju melancholisch feststellt, gilt nur, solange man sich nicht damit begnügt, in der Phantasie zu wohnen.
Kiran Desai: "Erbin des verlorenen Landes". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Robin Detje. Berlin Verlag, Berlin 2006. 429 S., geb., 19,90 [Euro].
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"Kiran Desai ist eine phantastische Schriftstellerin!" - SALMAN RUSHDIE
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Martin Zähringer ist schwer beeindruckt sowohl von den schriftstellerischen Fähigkeiten der Autorin als auch vom Thema des Romans. Kiran Desai habe gleich zwei unbekannte Handlungsorte gewählt, um von dem zu erzählen, was aus Sicht des Rezensenten im englischen Originaltitel als Nebenbedeutung angesprochen werde: die ideologische Unterwerfung Indiens, die nach der kolonialen erfolgt sei. Held dieser negativen Mimikry sei ein Richter, der in der abgelegenen Stadt Kalimpong lebe, zusammen mit einem Koch und einer siebzehnjährigen Enkelin. Über den Liebhaber der Enkelin mache die Autorin den Leser mit einer im Westen nahezu unbekannten revolutionären Freiheitsbewegung bekannt, deren Bekämpfung zum Teil "drastisch" dargestellt wird. Der zweite Handlungsort sind New Yorker Kellerküchen, in denen neben dem Sohn des Kochs aus Kalimpong viele indische Hilfskräfte arbeiteten. Für die Figuren beider Handlungsstränge gäbe es im Roman keine Lösung oder eine Besserung der Situation. Kiran Desais stilistische Fertigkeiten hingegen vergleicht der Rezensent mit einer gelungenen Kletterpartie in "unwegsamem Gelände".
© Perlentaucher Medien GmbH
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