Wulf Kirstens Gedichte entziehen sich jeder Strömung, sie strömen selbst wie die Elbe durch das Gebirge und bahnen sich ihren Weg in das Empfinden der Leser, erzählen von der Sehnsucht, evozieren längst vergangene Kindheitstage, sind erdverbunden und haben zugleich Worte für die Leere, für die Stille, für die Gegenden, wo nur noch die Erinnerung haust und die Natur übernimmt.
»Erdanziehung« versammelt seine Gedichte aus den Jahren 2011 bis 2018.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2019Der Grundfaden gegen das große Taumeln
In Tuchfühlung mit Eichendorff: Wulf Kirstens neuer Gedichtband feiert die Himmelsschwünge der Erdanziehung
Die jüngsten Gedichte Wulf Kirstens sind ein unerwartetes Geschenk. Der in Weimar lebende Autor, den 1986 die Beschwörung seiner linkselbischen Herkunftslandschaft, "die erde bei Meißen", in Ost wie West berühmt machte, von Martin Walser emphatisch als Proviant gegen Beschleunigung und Weltverlust empfohlen, schien sich bereits 2004 mit der großen Werkschau "erdlebenbilder" aus dem Literaturbetrieb zurückgezogen zu haben. 2012 meldete er sich mit "fliehende ansicht" erneut zu Wort, und nun, sein 85. Geburtstag steht ins Haus, gelingt ihm mit "erdanziehung" ein überraschender Coup, den man kaum als Nachlese wird bezeichnen wollen.
Weder werden hier vordergründig Altersweisheit kultiviert noch Lebensmüdigkeit wohlfeil ausgestellt, stattdessen gültige Gedichte vorgelegt, die von der Peripherie kommend, wo sich der "weltbetrachter" verortet, unsere Gegenwart in neues Licht rücken. Einer Welt, der die Bodenhaftung abhandengekommen und die in virtuellem Schwindel aus den Fugen geraten scheint, stellen sie einen "grundfaden" (so einer der Titel) gegenüber, der vermeintlich beiläufige und abseitige Details, Anekdoten, Biographien aufhebt und verdichtet - in geschliffenen Partizipialgruppen, die dinglich konkret benennen und aneinandergereiht eine eigene Dynamik entfalten, die durch sparsame Verbprädikate, oft Zeilen später nachgereicht, zusätzlich in Spannung gehalten wird. So entsteht der typische Kirsten-Sound, die Zentrifuge eines begnadeten Gedächtnisses, das nur von dem spricht, was es selber erfahren, erwandert, erlesen hat. Ein zugegeben ausschnitthafter, doch auf seine Art unendlicher Fundus, den Kirsten kongenial kultiviert. Kafkas erotisches Abenteuer in Weimar, das keines war, der als "Kulakendichter" geschmähte Nikolaj Kljujew, der hellsichtige, als konservativ verschriene 1848er Philosoph Friedrich Rohmer - Kirsten porträtiert Wahlverwandte, als würde er aus dem eignen Leben schöpfen. Titel wie "verwerfungen im relief", "am weidenpfad", "physiognomie der landschaft", "unter freiem himmel" zeugen von der Passion für sein Lebensthema Landschaft, dem er sich aus nächster Anschauung der fußläufig durchstreiften thüringischen Provinz widmet, die so dem lyrischen Lexikon unbekannte Flecken wie Hottelstedt, Zottelstedt oder Gerega unverhofft schenkt. Das ist noch nicht alles.
Kirstens Gedichte schöpfen ohne jede Larmoyanz und Beschönigung aus dem Reservoir der Erinnerung, zitieren das Verschwindende oder längst Verschwundene, die aus dem Gebrauch gekommenen Wörter und Tätigkeiten eines ländlichen und landschaftlichen Wissens, die mehr denn je wie erratische Fremdkörper wirken. Neu ist dabei, dass der poetische "irrläufer" sich selbst inzwischen fremdgeworden ist - und seine Weltfremdheit in mitunter beißendem Sarkasmus bekennt. Wulf Kirstens anachronistischer Chronist ist ungefragter "zeitzeuge", der seine Memorabilien mit dem Abendlicht teilt und als Zeitgenosse aus der Zeit gefallen ist: "teilhaber am abendlicht / als oft genug verlachter / weltbetrachter, gräben / geschachtet mit hacke und / schaufel, knochenhart, / versteinte berge superphosphat / pulverisiert, als ich wallraffte / im feldbau einst zu Riemsdorf, / blau gefrorene winter den hohlweg / hinauf gleich hinterm elternhaus, / zugeschüttet mit schnee, / bunker gebaut, fast selber / im iglu vereist, das waren noch / winter, wenn einer starb, / mußte er eingekellert liegen, / bis er im pferdeschlitten / einzog aufs gräberfeld / des kirchspiels, da kannte ich / einen uralten, verborgen / unter bartgestrüpp, gesegnet / vom zeitlichen mit achtundachtzig, / da war ich gerade mal acht, / mir achtzig voraus, jahrgang 1854, / nun selbst achtzig verweht, / irrläufer meiner selbst, der / von verflossenen jahrhunderten / zu berichten weiß, zeitzeuge / wider willen nolens volens."
Wulf Kirsten hat aus verschiedenen Traditionslinien diese Art Gedicht entwickelt, das formstreng und flexibel, subjektiv und distanziert zugleich "die alltäglichen banalitäten" in "poetische rede fermentiert", wie es in "welthäuslichkeit" heißt. Das Gedicht "Eichendorff" betont, gleich dem Romantiker mit Blick auf ein Schloss zur Welt gekommen zu sein - dann hören die Gemeinsamkeiten auf, denn Kirstens Wiege stand unter einem zum Einsturz verurteilten Lehmgiebel, "über bäume und sträucher hinweg / bis zu den feldern der elpégé / ,O Täler weit, o Höhen', so blieb ich / in tuchfühlung jeden morgen / mit Joseph von Eichendorff". Kirstens Maxime, Georges hohen Ton durch den Filter Brechtscher Profanierung zu brechen, gilt auch für seine unmittelbaren Vorbilder in Sachen Landschaft, Huchel und Bobrowski, denen er nicht so sehr in der Form, wohl aber mit dem Blick in die geschichtlichen Verwerfungen eines bäuerlichen Naturraums nah ist, der inzwischen selber Geschichte ist und jede Idylle widerlegt.
In seiner Schlichtheit ergreifend ist in dieser Hinsicht "spielplatz", eine Apologie auf die Kunst des Heueinfahrens ("in die holme des schiebbocks / gegriffen und bugsiert, / ein balanceakt") und Denkmal für "Franz aus der Ukraine, / deportiert mit fünfzehn ... ich hab ihn, / als ich zehn war, bewundert". Meisterhaft schließlich Kirstens Zwiegespräch mit Rilke in einer Apostrophe an die Mauersegler über dem sommerlichen Stadthimmel. Hier findet er Verse, die sich mit den "kühnen / hohen Figuren des Herzschwungs" der Fünften Duineser Elegie messen können und die doch trotz der himmlischen Erscheinung, der sie gelten, eine ganz irdische Freude vermitteln: "in eleganten schwüngen ziehen sie / bis in unsichtbare höhen hinauf, / zu schwarzen punkten vereinigt, / schweben sie wetterflüchtig / taglang über den wolken, heißt es, / mitunter den vollmond umkreisend, / dies sah ich mit eigenen augen." Mögen die Freuden solcher Weltbetrachtung Wulf Kirsten und seinen Lesern lange erhalten bleiben.
JAN VOLKER RÖHNERT
Wulf Kirsten: "erdanziehung". Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 96 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In Tuchfühlung mit Eichendorff: Wulf Kirstens neuer Gedichtband feiert die Himmelsschwünge der Erdanziehung
Die jüngsten Gedichte Wulf Kirstens sind ein unerwartetes Geschenk. Der in Weimar lebende Autor, den 1986 die Beschwörung seiner linkselbischen Herkunftslandschaft, "die erde bei Meißen", in Ost wie West berühmt machte, von Martin Walser emphatisch als Proviant gegen Beschleunigung und Weltverlust empfohlen, schien sich bereits 2004 mit der großen Werkschau "erdlebenbilder" aus dem Literaturbetrieb zurückgezogen zu haben. 2012 meldete er sich mit "fliehende ansicht" erneut zu Wort, und nun, sein 85. Geburtstag steht ins Haus, gelingt ihm mit "erdanziehung" ein überraschender Coup, den man kaum als Nachlese wird bezeichnen wollen.
Weder werden hier vordergründig Altersweisheit kultiviert noch Lebensmüdigkeit wohlfeil ausgestellt, stattdessen gültige Gedichte vorgelegt, die von der Peripherie kommend, wo sich der "weltbetrachter" verortet, unsere Gegenwart in neues Licht rücken. Einer Welt, der die Bodenhaftung abhandengekommen und die in virtuellem Schwindel aus den Fugen geraten scheint, stellen sie einen "grundfaden" (so einer der Titel) gegenüber, der vermeintlich beiläufige und abseitige Details, Anekdoten, Biographien aufhebt und verdichtet - in geschliffenen Partizipialgruppen, die dinglich konkret benennen und aneinandergereiht eine eigene Dynamik entfalten, die durch sparsame Verbprädikate, oft Zeilen später nachgereicht, zusätzlich in Spannung gehalten wird. So entsteht der typische Kirsten-Sound, die Zentrifuge eines begnadeten Gedächtnisses, das nur von dem spricht, was es selber erfahren, erwandert, erlesen hat. Ein zugegeben ausschnitthafter, doch auf seine Art unendlicher Fundus, den Kirsten kongenial kultiviert. Kafkas erotisches Abenteuer in Weimar, das keines war, der als "Kulakendichter" geschmähte Nikolaj Kljujew, der hellsichtige, als konservativ verschriene 1848er Philosoph Friedrich Rohmer - Kirsten porträtiert Wahlverwandte, als würde er aus dem eignen Leben schöpfen. Titel wie "verwerfungen im relief", "am weidenpfad", "physiognomie der landschaft", "unter freiem himmel" zeugen von der Passion für sein Lebensthema Landschaft, dem er sich aus nächster Anschauung der fußläufig durchstreiften thüringischen Provinz widmet, die so dem lyrischen Lexikon unbekannte Flecken wie Hottelstedt, Zottelstedt oder Gerega unverhofft schenkt. Das ist noch nicht alles.
Kirstens Gedichte schöpfen ohne jede Larmoyanz und Beschönigung aus dem Reservoir der Erinnerung, zitieren das Verschwindende oder längst Verschwundene, die aus dem Gebrauch gekommenen Wörter und Tätigkeiten eines ländlichen und landschaftlichen Wissens, die mehr denn je wie erratische Fremdkörper wirken. Neu ist dabei, dass der poetische "irrläufer" sich selbst inzwischen fremdgeworden ist - und seine Weltfremdheit in mitunter beißendem Sarkasmus bekennt. Wulf Kirstens anachronistischer Chronist ist ungefragter "zeitzeuge", der seine Memorabilien mit dem Abendlicht teilt und als Zeitgenosse aus der Zeit gefallen ist: "teilhaber am abendlicht / als oft genug verlachter / weltbetrachter, gräben / geschachtet mit hacke und / schaufel, knochenhart, / versteinte berge superphosphat / pulverisiert, als ich wallraffte / im feldbau einst zu Riemsdorf, / blau gefrorene winter den hohlweg / hinauf gleich hinterm elternhaus, / zugeschüttet mit schnee, / bunker gebaut, fast selber / im iglu vereist, das waren noch / winter, wenn einer starb, / mußte er eingekellert liegen, / bis er im pferdeschlitten / einzog aufs gräberfeld / des kirchspiels, da kannte ich / einen uralten, verborgen / unter bartgestrüpp, gesegnet / vom zeitlichen mit achtundachtzig, / da war ich gerade mal acht, / mir achtzig voraus, jahrgang 1854, / nun selbst achtzig verweht, / irrläufer meiner selbst, der / von verflossenen jahrhunderten / zu berichten weiß, zeitzeuge / wider willen nolens volens."
Wulf Kirsten hat aus verschiedenen Traditionslinien diese Art Gedicht entwickelt, das formstreng und flexibel, subjektiv und distanziert zugleich "die alltäglichen banalitäten" in "poetische rede fermentiert", wie es in "welthäuslichkeit" heißt. Das Gedicht "Eichendorff" betont, gleich dem Romantiker mit Blick auf ein Schloss zur Welt gekommen zu sein - dann hören die Gemeinsamkeiten auf, denn Kirstens Wiege stand unter einem zum Einsturz verurteilten Lehmgiebel, "über bäume und sträucher hinweg / bis zu den feldern der elpégé / ,O Täler weit, o Höhen', so blieb ich / in tuchfühlung jeden morgen / mit Joseph von Eichendorff". Kirstens Maxime, Georges hohen Ton durch den Filter Brechtscher Profanierung zu brechen, gilt auch für seine unmittelbaren Vorbilder in Sachen Landschaft, Huchel und Bobrowski, denen er nicht so sehr in der Form, wohl aber mit dem Blick in die geschichtlichen Verwerfungen eines bäuerlichen Naturraums nah ist, der inzwischen selber Geschichte ist und jede Idylle widerlegt.
In seiner Schlichtheit ergreifend ist in dieser Hinsicht "spielplatz", eine Apologie auf die Kunst des Heueinfahrens ("in die holme des schiebbocks / gegriffen und bugsiert, / ein balanceakt") und Denkmal für "Franz aus der Ukraine, / deportiert mit fünfzehn ... ich hab ihn, / als ich zehn war, bewundert". Meisterhaft schließlich Kirstens Zwiegespräch mit Rilke in einer Apostrophe an die Mauersegler über dem sommerlichen Stadthimmel. Hier findet er Verse, die sich mit den "kühnen / hohen Figuren des Herzschwungs" der Fünften Duineser Elegie messen können und die doch trotz der himmlischen Erscheinung, der sie gelten, eine ganz irdische Freude vermitteln: "in eleganten schwüngen ziehen sie / bis in unsichtbare höhen hinauf, / zu schwarzen punkten vereinigt, / schweben sie wetterflüchtig / taglang über den wolken, heißt es, / mitunter den vollmond umkreisend, / dies sah ich mit eigenen augen." Mögen die Freuden solcher Weltbetrachtung Wulf Kirsten und seinen Lesern lange erhalten bleiben.
JAN VOLKER RÖHNERT
Wulf Kirsten: "erdanziehung". Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2019. 96 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wulf Kirsten [...] steht [...] mit 85 Jahren auf der Höhe seiner lyrischen Gestaltungskraft. Richard Wall Die Presse 20200307