Eine Spurensuche nach verschütteter deutscher Mentalität
Emma Erdling ist notorisch pleite. Nur dank der Unterstützung ihrer kinderlosen Großtante konnte sie sich als Privatdetektivin unter dem Pseudonym »Andreas von Erdling« im teuersten Viertel der Stadt selbstständig machen, auch wenn sie nie vorhatte, echte Fälle zu lösen. Stattdessen inszeniert sie ihr Leben als Soap einer knallharten, linksideologischen Ermittlerin in den sozialen Netzwerken, bis unvorhergesehene Ereignisse ihre gemütlich eingerichtete Existenz erschüttern und ein Shitstorm ihr virtuelles Dasein vernichtet. Doch schon tags darauf soll sie ihren ersten, wenngleich unlösbar scheinenden Auftrag übernehmen: Oskar Lafontaine sucht ihr Büro auf. Seine Frau sei entführt worden, von Außerirdischen, er wolle sie zurück, Geld spiele keine Rolle.
Die Suche nach der entführten Sahra Wagenknecht entpuppt sich bald als Reise in ein verdrängtes Bewusstsein, zu Teilen einer Identität, die Emma Erdling zuBeginn der Geschichte so fern war wie eine Galaxie jenseits der Milchstraße. Zugleich nimmt uns der Roman mit auf eine Odyssee zu den hellen und dunklen Mächten deutscher Geschichte, bis hinaus ins Weltall, alle Grenzen von Zeit und Raum mühelos überschreitend.
Emma Erdling ist notorisch pleite. Nur dank der Unterstützung ihrer kinderlosen Großtante konnte sie sich als Privatdetektivin unter dem Pseudonym »Andreas von Erdling« im teuersten Viertel der Stadt selbstständig machen, auch wenn sie nie vorhatte, echte Fälle zu lösen. Stattdessen inszeniert sie ihr Leben als Soap einer knallharten, linksideologischen Ermittlerin in den sozialen Netzwerken, bis unvorhergesehene Ereignisse ihre gemütlich eingerichtete Existenz erschüttern und ein Shitstorm ihr virtuelles Dasein vernichtet. Doch schon tags darauf soll sie ihren ersten, wenngleich unlösbar scheinenden Auftrag übernehmen: Oskar Lafontaine sucht ihr Büro auf. Seine Frau sei entführt worden, von Außerirdischen, er wolle sie zurück, Geld spiele keine Rolle.
Die Suche nach der entführten Sahra Wagenknecht entpuppt sich bald als Reise in ein verdrängtes Bewusstsein, zu Teilen einer Identität, die Emma Erdling zuBeginn der Geschichte so fern war wie eine Galaxie jenseits der Milchstraße. Zugleich nimmt uns der Roman mit auf eine Odyssee zu den hellen und dunklen Mächten deutscher Geschichte, bis hinaus ins Weltall, alle Grenzen von Zeit und Raum mühelos überschreitend.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.12.2023Vom Treibstoff extraterrestrischer Geschichten
Hilfe, Sahra
Wagenknecht ist von
Außerirdischen
entführt worden:
Emma Braslavskys
politischer Fantasy-Detektivroman
"Erdling".
Es scheint nur logisch, sich auf eine Reise ins All zu begeben, wenn die Erde an Weltentwürfen so karg und öde erscheint wie dieser Tage. Die Sterne funkeln in dunklen Stunden umso heller; als wollten sie uns sagen, dass es noch etwas anderes geben muss als unsere triste irdische Existenz. Das dachte sich auch Sahra Wagenknecht. Die verließ kurzerhand die Realpolitik, um die Weltallpolitik zu studieren. Ja, Sie haben richtig gehört: Sahra Wagenknecht, die abtrünnige Linken-Politikerin, die doch momentan eigentlich ihre Parteigründung vorbereiten müsste. Was zur Hölle hat sie also im All verloren?
Weiterhelfen bei dieser Frage kann der neue Roman von Emma Braslavsky: "Erdling". Die vorherigen Romane der Schriftstellerin waren wunderlich komplexe Gebilde, die mit sprachlicher Leichtigkeit komponiert sind. Nun hat sie einen "Heimatroman der fantastischen Art" geschrieben, wie der Suhrkamp Verlag ankündigt. Tatsächlich erfahren wir auf einer rasanten vierhundertseitigen langen Reise in die intergalaktische Fremde mehr über uns, als uns manchmal lieb ist. Der feinsinnige Humor der Autorin lässt indes auch die garstigste Selbsterkenntnis zu.
Beginnen wir aber vorne. Emma Andreas Erdling, die manchmal Emma, manchmal Andreas ist, betreibt mit monetärer Unterstützung ihrer vereinsamten Großtante ein gnadenlos erfolgloses Detektivbüro. Das kümmert sie aber wenig. In sozialen Netzwerken entwirft sie sich mit hochstaplerischer Virtuosität umso erfolgreicher als linke (böse Zungen würden behaupten: woke) Ermittlerfigur, die in "stabilen Gut-Böse-Achsen" immer auf der richtigen Seite steht. Zur Kunst der Vortäuschung gehört es, dass wir nicht erfahren, was nun richtig und was falsch, was links und was rechts ist. Als ein Shitstorm wegen unbeabsichtigtem Blackfacing ihre virtuelle Existenz zerstört, gerät Erdlings Realität ins Wanken. Genauer gesagt, Emma Andreas wird mit vielen Realitäten konfrontiert.
Anstatt auf den festen Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden, expandieren und wuchern die Fiktionen in ihre Lebensrealität. Sie nimmt im Antiquariat ihres Freundes Cosmo zwischen den vollgestopften Bücherregalen eine falsche Abbiegung und landet auf einer anderen Realitätsspur: im Jahr 1844, bei Karl Marx. Doch der sitzt nicht in Paris am Schreibtisch, um die Entfremdung des Menschen von sich selbst aufs Papier zu bringen. Nein, er hält eine plebejische antisemitische Brandrede. Dieser Schock sitzt. Marx wird für Emma Andreas zum Alien, zu einem Fremden, der ihr den Spiegel der Selbstentfremdung vorhält.
Wenig später kommt ein aufgelöster Oskar Lafontaine in ihr Büro. Seine Lebensgefährtin Sahra sei von Außerirdischen entführt wurden - Emma Andreas' erster richtiger Fall, der sie auf eine interstellare Spurensuche führt. Sahra bleibt auf dieser Reise durch das All bis zum Ende des Romans eine amorphe, nicht greifbare Gestalt. Was stattdessen mehr und mehr an Kontur gewinnt, ist ein grandioser epistemischer Weltentwurf in Romanform, der uns vorführt, das nicht alles so trist und öde bleiben muss, wie es ist.
Nach einer Begegnung mit der übernatürlichen Vril-Geheimgesellschaft, die, ausgehend von dem Science-Fiction-Roman "The Coming Race" (1871) des viktorianischen Autors Edward Bulwer- Lytton, mittlerweile eine der abstrusesten Nazi-Verschwörungstheorien ist, beruhigt die kinky anmutende Reisebegleiterin Angelika die sichtlich verstörte Emma Andreas mit den Worten: "Du bist immer im richtigen Film, Erdling, du hast keine Ahnung, wie veränderlich deine Welt sein kann, du bist nur auf einer anderen der möglichen Spuren gelandet. Und nun veränderst du dich und deine Beziehungen. Und deine Welt sieht plötzlich anders aus. Und du jetzt auch."
Die Realität ist nicht mehr als eine Spur, auf der wir uns bewegen. Wechseln wir sie, so ist sie eine andere und sind wir andere Menschen. Mit diesem radikalen Perspektivismus, den die Autorin der Allgemeinen Semantik des polnisch-amerikanischen Autors Alfred Korzybski entlehnt, eröffnet der Roman uns einen unendlich großen Möglichkeitsraum. Er konfrontiert uns mit narrativen Realitäten, die unsere Landkarte der Wirklichkeit um unentdeckte Territorien erweitert. Die aus den verstaubten Bücherregalen hervorgezogenen Science-Fiction-Geschichten unterlaufen im Roman die festschreibende Prädikation "ist" durch immer neue Alternativen und Entwürfe.
Emma Andreas macht sich auf eine lange Reise in phantastische Erzählwelten, um Sahra zu finden. Die studiert mit der orthodoxen Beflissenheit, wie sie nur einer deutschen Kommunistin zu eigen sein kann, extraterrestrische Gesellschaftsentwürfe im All. Ebenso wie der Protagonistin manches Mal der Boden unter den Füßen weggezogen wird, geht es auch der Leserin. Bei den Reisen von der Venus zum Mars, vom Mond zur Erde wird einem bisweilen schwindelig. Da wirkt die ausgestreckte Hand der Reisebegleiterin Angelika wie eine die Schwerelosigkeit lindernde Zentrifugalkraft, die uns zu sagen scheint: Auch wenn ihr Deutschen verhegelt und vergeistigt seid, schaut doch mal in den Himmel und staunt. Und tatsächlich erscheinen die fremden Planeten uns umso unergründlicher, je mehr wir uns mit ihnen beschäftigen, wie der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn in seiner "Einführung in die außerirdische Literatur" (2022) nahegelegt hat.
Denn dann reibt man sich verblüfft die Augen und sieht, dass der uns aus heutiger Sicht so rational erscheinende deutsche Denkraum einst von Kolonien Außerirdischer bevölkert war. Der Treibstoff extraterrestrischer Geschichten geht der Autorin wahrlich nicht aus. Wir, die unzivilisierten Erdbewohner, begegnen auf der Reise von Emma Andreas den freiheitlichen und feinsinnigen Numen in Kurd Laßwitz' "Auf zwei Planeten" (1897). Und wir besuchen die Drom-Menschen in Fritz Brehmers "Nebel der Andromeda" (1920), deren gemeinschaftliche Assoziation "freier-assoziativer Denkmuster" einen kognitiven Kommunismus entwirft. Die zahlreichen fernen Galaxien, von denen hier nur diese beiden stellvertretend genannt sein sollen, skizzieren eine Mentalitätsgeschichte des "German Genius" (2010). Das ist ein Buch des Kulturhistorikers Peter Watson, das Emma Andreas zur Lektüre empfohlen wird.
Gleichzeitig ist Braslavskys Roman, den seine Autorin in der Danksagung augenzwinkernd als "narratives Kulturdenkmal" bezeichnet, ein erschreckendes Archiv des politisch Unbewussten der Zwanziger- und Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Aufklärung und Esoterik, Sozialismus und Faschismus, Deutschnationalismus und Zionismus liegen in den narrativen Weltentwürfen derart nah beieinander, das man die Widersprüche kaum aushalten kann. Veranschaulicht wird dies an einem zeitweiligen Reisebegleiter von Emma Andreas, dem deutschen Autor Hanns Heinz Ewers, der derart lustvoll mit Drastik und Provokation spielt, dass er nur schwer zu ertragen ist. Er prangerte die deutsche Prüderie und Bigotterie an, hasste aber die demokratische Weimarer Republik; und er setzte sich für die Gleichberechtigung der Juden ein, wurde aber 1931 Mitglied der NSDAP. Ewers zeigt uns, wie schnell man auf eine verhängnisvolle Realitätsspur geraten kann.
Was ist nun aber mit Sahra Wagenknecht? Will sie überhaupt zurückkehren ins beschauliche saarländische Merzig zu ihrem Oskar, wo die Weltentwürfe im All so schillernd kosmopolitisch sind? Der Leserin wird wie Emma Andreas schnell klar: Wir sollen nicht Sahra, sondern uns selbst im Weltall finden. Sie ist unser politisches "paradoxes Ich", in dem Fortschritt und Regression unentwirrbar miteinander verflochten sind. Also: Erdling, bitte nicht falsch abbiegen! CAROLIN AMLINGER
Emma Braslavsky:
"Erdling". Roman.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2023.
425 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hilfe, Sahra
Wagenknecht ist von
Außerirdischen
entführt worden:
Emma Braslavskys
politischer Fantasy-Detektivroman
"Erdling".
Es scheint nur logisch, sich auf eine Reise ins All zu begeben, wenn die Erde an Weltentwürfen so karg und öde erscheint wie dieser Tage. Die Sterne funkeln in dunklen Stunden umso heller; als wollten sie uns sagen, dass es noch etwas anderes geben muss als unsere triste irdische Existenz. Das dachte sich auch Sahra Wagenknecht. Die verließ kurzerhand die Realpolitik, um die Weltallpolitik zu studieren. Ja, Sie haben richtig gehört: Sahra Wagenknecht, die abtrünnige Linken-Politikerin, die doch momentan eigentlich ihre Parteigründung vorbereiten müsste. Was zur Hölle hat sie also im All verloren?
Weiterhelfen bei dieser Frage kann der neue Roman von Emma Braslavsky: "Erdling". Die vorherigen Romane der Schriftstellerin waren wunderlich komplexe Gebilde, die mit sprachlicher Leichtigkeit komponiert sind. Nun hat sie einen "Heimatroman der fantastischen Art" geschrieben, wie der Suhrkamp Verlag ankündigt. Tatsächlich erfahren wir auf einer rasanten vierhundertseitigen langen Reise in die intergalaktische Fremde mehr über uns, als uns manchmal lieb ist. Der feinsinnige Humor der Autorin lässt indes auch die garstigste Selbsterkenntnis zu.
Beginnen wir aber vorne. Emma Andreas Erdling, die manchmal Emma, manchmal Andreas ist, betreibt mit monetärer Unterstützung ihrer vereinsamten Großtante ein gnadenlos erfolgloses Detektivbüro. Das kümmert sie aber wenig. In sozialen Netzwerken entwirft sie sich mit hochstaplerischer Virtuosität umso erfolgreicher als linke (böse Zungen würden behaupten: woke) Ermittlerfigur, die in "stabilen Gut-Böse-Achsen" immer auf der richtigen Seite steht. Zur Kunst der Vortäuschung gehört es, dass wir nicht erfahren, was nun richtig und was falsch, was links und was rechts ist. Als ein Shitstorm wegen unbeabsichtigtem Blackfacing ihre virtuelle Existenz zerstört, gerät Erdlings Realität ins Wanken. Genauer gesagt, Emma Andreas wird mit vielen Realitäten konfrontiert.
Anstatt auf den festen Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden, expandieren und wuchern die Fiktionen in ihre Lebensrealität. Sie nimmt im Antiquariat ihres Freundes Cosmo zwischen den vollgestopften Bücherregalen eine falsche Abbiegung und landet auf einer anderen Realitätsspur: im Jahr 1844, bei Karl Marx. Doch der sitzt nicht in Paris am Schreibtisch, um die Entfremdung des Menschen von sich selbst aufs Papier zu bringen. Nein, er hält eine plebejische antisemitische Brandrede. Dieser Schock sitzt. Marx wird für Emma Andreas zum Alien, zu einem Fremden, der ihr den Spiegel der Selbstentfremdung vorhält.
Wenig später kommt ein aufgelöster Oskar Lafontaine in ihr Büro. Seine Lebensgefährtin Sahra sei von Außerirdischen entführt wurden - Emma Andreas' erster richtiger Fall, der sie auf eine interstellare Spurensuche führt. Sahra bleibt auf dieser Reise durch das All bis zum Ende des Romans eine amorphe, nicht greifbare Gestalt. Was stattdessen mehr und mehr an Kontur gewinnt, ist ein grandioser epistemischer Weltentwurf in Romanform, der uns vorführt, das nicht alles so trist und öde bleiben muss, wie es ist.
Nach einer Begegnung mit der übernatürlichen Vril-Geheimgesellschaft, die, ausgehend von dem Science-Fiction-Roman "The Coming Race" (1871) des viktorianischen Autors Edward Bulwer- Lytton, mittlerweile eine der abstrusesten Nazi-Verschwörungstheorien ist, beruhigt die kinky anmutende Reisebegleiterin Angelika die sichtlich verstörte Emma Andreas mit den Worten: "Du bist immer im richtigen Film, Erdling, du hast keine Ahnung, wie veränderlich deine Welt sein kann, du bist nur auf einer anderen der möglichen Spuren gelandet. Und nun veränderst du dich und deine Beziehungen. Und deine Welt sieht plötzlich anders aus. Und du jetzt auch."
Die Realität ist nicht mehr als eine Spur, auf der wir uns bewegen. Wechseln wir sie, so ist sie eine andere und sind wir andere Menschen. Mit diesem radikalen Perspektivismus, den die Autorin der Allgemeinen Semantik des polnisch-amerikanischen Autors Alfred Korzybski entlehnt, eröffnet der Roman uns einen unendlich großen Möglichkeitsraum. Er konfrontiert uns mit narrativen Realitäten, die unsere Landkarte der Wirklichkeit um unentdeckte Territorien erweitert. Die aus den verstaubten Bücherregalen hervorgezogenen Science-Fiction-Geschichten unterlaufen im Roman die festschreibende Prädikation "ist" durch immer neue Alternativen und Entwürfe.
Emma Andreas macht sich auf eine lange Reise in phantastische Erzählwelten, um Sahra zu finden. Die studiert mit der orthodoxen Beflissenheit, wie sie nur einer deutschen Kommunistin zu eigen sein kann, extraterrestrische Gesellschaftsentwürfe im All. Ebenso wie der Protagonistin manches Mal der Boden unter den Füßen weggezogen wird, geht es auch der Leserin. Bei den Reisen von der Venus zum Mars, vom Mond zur Erde wird einem bisweilen schwindelig. Da wirkt die ausgestreckte Hand der Reisebegleiterin Angelika wie eine die Schwerelosigkeit lindernde Zentrifugalkraft, die uns zu sagen scheint: Auch wenn ihr Deutschen verhegelt und vergeistigt seid, schaut doch mal in den Himmel und staunt. Und tatsächlich erscheinen die fremden Planeten uns umso unergründlicher, je mehr wir uns mit ihnen beschäftigen, wie der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn in seiner "Einführung in die außerirdische Literatur" (2022) nahegelegt hat.
Denn dann reibt man sich verblüfft die Augen und sieht, dass der uns aus heutiger Sicht so rational erscheinende deutsche Denkraum einst von Kolonien Außerirdischer bevölkert war. Der Treibstoff extraterrestrischer Geschichten geht der Autorin wahrlich nicht aus. Wir, die unzivilisierten Erdbewohner, begegnen auf der Reise von Emma Andreas den freiheitlichen und feinsinnigen Numen in Kurd Laßwitz' "Auf zwei Planeten" (1897). Und wir besuchen die Drom-Menschen in Fritz Brehmers "Nebel der Andromeda" (1920), deren gemeinschaftliche Assoziation "freier-assoziativer Denkmuster" einen kognitiven Kommunismus entwirft. Die zahlreichen fernen Galaxien, von denen hier nur diese beiden stellvertretend genannt sein sollen, skizzieren eine Mentalitätsgeschichte des "German Genius" (2010). Das ist ein Buch des Kulturhistorikers Peter Watson, das Emma Andreas zur Lektüre empfohlen wird.
Gleichzeitig ist Braslavskys Roman, den seine Autorin in der Danksagung augenzwinkernd als "narratives Kulturdenkmal" bezeichnet, ein erschreckendes Archiv des politisch Unbewussten der Zwanziger- und Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Aufklärung und Esoterik, Sozialismus und Faschismus, Deutschnationalismus und Zionismus liegen in den narrativen Weltentwürfen derart nah beieinander, das man die Widersprüche kaum aushalten kann. Veranschaulicht wird dies an einem zeitweiligen Reisebegleiter von Emma Andreas, dem deutschen Autor Hanns Heinz Ewers, der derart lustvoll mit Drastik und Provokation spielt, dass er nur schwer zu ertragen ist. Er prangerte die deutsche Prüderie und Bigotterie an, hasste aber die demokratische Weimarer Republik; und er setzte sich für die Gleichberechtigung der Juden ein, wurde aber 1931 Mitglied der NSDAP. Ewers zeigt uns, wie schnell man auf eine verhängnisvolle Realitätsspur geraten kann.
Was ist nun aber mit Sahra Wagenknecht? Will sie überhaupt zurückkehren ins beschauliche saarländische Merzig zu ihrem Oskar, wo die Weltentwürfe im All so schillernd kosmopolitisch sind? Der Leserin wird wie Emma Andreas schnell klar: Wir sollen nicht Sahra, sondern uns selbst im Weltall finden. Sie ist unser politisches "paradoxes Ich", in dem Fortschritt und Regression unentwirrbar miteinander verflochten sind. Also: Erdling, bitte nicht falsch abbiegen! CAROLIN AMLINGER
Emma Braslavsky:
"Erdling". Roman.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2023.
425 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Enno Stahl gibt zu, dass sich Emma Braslavsky in ihrem Text einer geschmeidigen, lakonischen Sprache zu bedienen weiß. Verweise in die deutsche Geistesgeschichte türmen sich im Text, dass Stahl schwindlig wird, aber er amüsiert sich auch. Leider reicht das alles nicht für einen Roman diesen Umfangs, stellt er schließlich bedauernd fest. All der Tand und die einigermaßen bizarre Idee, einen Instagram-Star auf eine detektivische Suche nach der von Aliens entführten Sahra Wagenknecht zu schicken, durch Wurmlöcher bis in die 1920er Jahre zu Party-Szenen mit Erika Mann und Vicki Baum - sie erzeugen keinen Drive, meint Stahl.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Emma Braslavskys Erdling ist eine so rasante wie wirklich fordernde Einladung, [das] Bewusstsein nach Belieben, aber ohne Furcht zu erweitern.« Cornelius Pollmer Süddeutsche Zeitung 20240108
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2024„Finde Sahra“
In Berlin gründet Sahra Wagenknecht an diesem Montag eine Partei,
in Emma Braslavskys Roman „Erdling“ wird sie von Aliens entführt.
VON CORNELIUS POLLMER
Wir beginnen auf „Stufe 4“ dieses Romans, dessen Einteilung in Stufen dem einfältigen, überforderten, wiewohl vom Text zugleich angenehm beschwipsten und amüsierten Leser womöglich entgegenkommen soll. 400 Seiten hat dieser bereits durchflogen, sie waren Exkursion, Exorzismus, Ent-Täuschung. Vieles war dem Leser ganz offenkundig nicht klar geworden, anderes hatte er zu begreifen sich wenigstens einreden können, oft ist das ja auch schon was. Auf „Stufe 4“ jedenfalls taucht nun plötzlich ein Satz auf, der einen im heimischen Ohrensessel leise wimmern lässt vor Dankbarkeit. Schließlich kommt man mit nicht weniger als einem Schleudertrauma höherer Ordnung bei besagtem Satz an, dabei gleicht dieser Satz einer Exkulpation, die dieser Betrachtung von Emma Braslavskys Bewusstseinsexplosion „Erdling“ als eine Art Haftungsausschluss vorangestellt werden soll.
Der Satz lautet: „Menschen können nur wiedergeben, was sie glauben verstanden zu haben.“
Ein solcher Mensch, liebe Artähnliche auf der Erde wie auch in den angeschlossenen Raumzeiten bis hin zum obersten Terror-Hirschkäfer auf dem parasitären Himmelskörper Druso, ein solcher Mensch versucht sich im Folgenden an gleich zwei Unmöglichkeiten, nämlich einer einigermaßen präzisen Wiedergabe des Inhalts von „Erdling“ sowie einer Bewertung desselben. Schnell erzählt ist nur das, worum es eher nachrangig geht. Die von Geldsorgen bedrohte Fake-Detektivin Emma Erdling erhält in ihrem Büro überraschend Besuch von einem Mann, den sie mit den Worten „Bitte, Herr Lafontaine“ hereinbittet. Er berichtet, dass seine Freundin Sahra entführt worden sei, dass er mit diesem Problem allerdings nicht bei der Polizei vorstellig werden könne, handele es sich doch „nicht um eine herkömmliche Entführung“. Wie also lautet der Auftrag? „Finde Sahra.“
Es folgt eine, wie gesagt, kaum zu fassende Reise durch Räume und Zeiten, in Träumen und Wahrheiten, zu Mentalitäten, Verschwörungen, Glaubenssätzen, in bewusste wie auch unbewusste Welten und dann noch weiter in das unendliche Jenseits ringsherum. Auf ihrer Reise begegnet die Mittdreißigerin Emma Andreas Erdling – die einem mal amorph vorkommt, dann vor dem inneren Auge aber auch sehr konkret von Helena Bonham Carter gespielt wird – einem sie begrapschenden Voltaire, Thomas Mann streift sich ein Spitzennachthemd über (und äußert die Vermutung, Wagenknecht könne nicht links sein), und der undurchsichtige Hanns Heinz Ewers rückt Erdling erst gar nicht mehr von der Pelle.
In ihrer „Danksagung statt einer Bibliographie“ für den vorangegangenen „Versuch dieses narrativen Kulturdenkmals“ bezieht sich Braslavsky auf diese Geistesgrößen, die sich beim Schreiben offenbar sämtlich als kooperativ erwiesen, und sie erläutert abschließend ihr Vorhaben. Sie habe sich, schreibt Braslavsky, ihrem Stoff selbst gewissermaßen ausgeliefert. In der Gesprächsreihe „Berliner Manuskripte“ wiederum teilte die Autorin schon vor drei Jahren mit, beabsichtigt sei „ein faustisches Psychogramm der deutschen Seele“, und das ist es auf eine wie gesagt völlig entrückte Art auch geworden.
Wie lässt sich das nun beschreiben? Es ist beim Lesen so, als würde ein giftig-saures „Center Shock“ fortwährend unter der Kopfhaut britzeln und auch, als würde man in Sekundenbruchteilen wechselnd verschiedene Filme parallel sehen, darunter auf jeden Fall Christopher Nolans Zeitmaschinen-Brainfuck „Tenet“ und „Interstellar“, dazu „Matrix“, „Das fünfte Element“, „Die unendliche Geschichte“. „Erdling“ ist alles zugleich, eine Philosophie von eigentlich allem, eine rasterkraftmikroskopische Ergründung des Deutschen im Allgemeinen und deutschen Links-Seins im Besonderen, ein bekiffter Psychotrip in die Biografie und andere Spekulationsräume der Autorin.
So paradox es klingt und so heiter man ob dieser Wortmeldung doch sein darf, so sehr erschließt es sich doch auch, wenn Braslavsky im Gespräch mit den Kollegen bei der FAZ sagt, sie habe sich in diesem Buch „an Fakten gehalten“. Momentchen mal, könnte man da denken, wird in „Erdling“ nicht auch Anfang der 1950er eine geheime Nazi-Basis auf dem Mond errichtet und beginnen nicht die Bäuche noch einmal anderer, nämlich kugelförmiger Mondlinge rot zu leuchten, als der Name Sahra Wagenknecht erwähnt wird? Gewiss, so ist es, aber wer mit einer handelsüblichen Definition von „Fakten“ in diesen „Erdling“ spaziert, kommt ohnehin nicht weit.
Was es braucht, um all dem Platz und „Logik“ und Struktur zu geben, ist „so ’ne Art quantenmechanisches Erzähluniversum“, wie es Braslavsky einmal gesagt hat. Es gibt Zeitverschiebungen, Zeitdilatation, mal fließt die Zeit – siehe „Tenet“ – auch rückwärts. Als Leser gibt man entweder irgendwann auf, ein solches Buch zu lesen, weil es schlicht anstrengend ist. Oder man streckt die Waffen des eigenen Weltbildes und fährt einfach mit, wenn Emma Erdling mithilfe des DEFA-Science-Fiction-Films „Eolomea“ aus den 1970ern über den Mythos einer zweiten Erde sinniert oder bei den „Vril-Frauen“ landet und in einer Kit-Kat-ähnlichen Bumsbude „harten, vegetarischen und alkoholfreien Sex“ hat: „wir erbrachten Höchstleistungen, denn nur der beste Sex würde den neuen Menschen hervorbringen“.
Sahra Wagenknecht bleibt bei all dem übrigens mit Wohlwollen betrachtet eine nicht näher bestimmte Metapher, man kann sie aber auch als modernes „Readbait“ lesen, eine eher aus Gründen des Marketings in diesen Text hineinoperierte Listigkeit, so oder so sorgt sie für komische Momente. Mal steht die Frage in der Raumzeit, ob Wagenknecht womöglich zwischen Ost- und West-Aliens vermittle, zwischen Engländern und den Nume oder zwischen der probatischen und der antibatischen Bewegung auf dem Mars, auf jedenfalls allerhöchstem diplomatischen Interstellar-Parkett. Mal geht es aber auch in den gedachten Kabarettkeller, wenn Erdling Wagenknecht nachsetzt mit dem Satz „Ihr Mann schickt mich“! „Ich wusste nicht, dass ich einen habe“, antwortet diese, „ist es der Karl?“ – „Nein. Der Oskar.“
Emma Braslavsky hat bei der Recherche für „Erdling“ den österreichischen Publizisten und Science-Fiction-Kritiker Franz Rottensteiner um Hilfe gebeten, der mal die „Phantastische Bibliothek“ des Suhrkamp-Verlages herausgab. Den bat sie um Vorkriegsliteratur, die Spuren oder mehr von Außerirdischem enthalten sollte. Wenn „Erdling“ neben einem ordentlichen Durchzug im Oberstübchen noch etwas einigermaßen sicher ist, dann ein Plädoyer für die Wiederentdeckung des Extraterrestrischen in der deutschen Literatur. Die Außerirdischen, so darf man Bravslavsky verstehen, hatten zuletzt einen schweren Stand, und auch sie selbst musste erst sensibilisiert werden, wie sie in einer funkelnden Miniatur am Ende ihres Danksagungs-Beipackzettels berichtet. Bei einer Ausstellungseröffnung in der Upper East Side kam ein Mann auf sie zu, man sprach über Kunst, dann fragte er, ob sie ihm ansähe, dass er von Außerirdischen entführt worden sei. Braslavsky verneinte, im Übrigen glaube sie gar nicht an Außerirdische. Der Mann grinste und sagte zu ihr lediglich dies: „You should solve your problems.“
Das Bewusstsein vieler Menschen reicht kaum bis in die Stratosphäre. Emma Braslavskys „Erdling“ ist eine so rasante wie wirklich fordernde Einladung, dieses Bewusstsein nach Belieben, aber ohne Furcht zu erweitern. Wohin das führt? Kann und muss jeder Erdling für sich selbst herausfinden, so er Zeit und Lust findet und mehr sein möchte als das, was ein extraterrestrischer Erd-Tourist in einem Hördialog von Olaf Schubert erlebt. Nach seiner Rückkehr gefragt, ob es neben „Dohlrommeln“ und Gewürm noch anderes Leben auf der Erde gebe, „auch was Aufrechtes?“ nämlich, sagt der Tourist: „Hauptsächlich der Mensch … der steht rum, hat dann Sachen an, macht Stoffwechsel … also, der hat zu tun.“
„Ihr Mann schickt mich!“ –
„Ich wusste nicht, dass ich
einen habe.“
In „Erdling“ klärt der Vater der Protagonistin auf, dass Außerirdische im sozialistischen Film nicht hätten gezeigt werden dürfen. Kosmonauten aber schon – wie hier in der DEFA-Produktion „Eolomea“ von 1972.
Foto: ddp/Capital Pictures
Emma Braslavsky:
Erdling. Roman.
Suhrkamp, Berlin 2023. 425 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In Berlin gründet Sahra Wagenknecht an diesem Montag eine Partei,
in Emma Braslavskys Roman „Erdling“ wird sie von Aliens entführt.
VON CORNELIUS POLLMER
Wir beginnen auf „Stufe 4“ dieses Romans, dessen Einteilung in Stufen dem einfältigen, überforderten, wiewohl vom Text zugleich angenehm beschwipsten und amüsierten Leser womöglich entgegenkommen soll. 400 Seiten hat dieser bereits durchflogen, sie waren Exkursion, Exorzismus, Ent-Täuschung. Vieles war dem Leser ganz offenkundig nicht klar geworden, anderes hatte er zu begreifen sich wenigstens einreden können, oft ist das ja auch schon was. Auf „Stufe 4“ jedenfalls taucht nun plötzlich ein Satz auf, der einen im heimischen Ohrensessel leise wimmern lässt vor Dankbarkeit. Schließlich kommt man mit nicht weniger als einem Schleudertrauma höherer Ordnung bei besagtem Satz an, dabei gleicht dieser Satz einer Exkulpation, die dieser Betrachtung von Emma Braslavskys Bewusstseinsexplosion „Erdling“ als eine Art Haftungsausschluss vorangestellt werden soll.
Der Satz lautet: „Menschen können nur wiedergeben, was sie glauben verstanden zu haben.“
Ein solcher Mensch, liebe Artähnliche auf der Erde wie auch in den angeschlossenen Raumzeiten bis hin zum obersten Terror-Hirschkäfer auf dem parasitären Himmelskörper Druso, ein solcher Mensch versucht sich im Folgenden an gleich zwei Unmöglichkeiten, nämlich einer einigermaßen präzisen Wiedergabe des Inhalts von „Erdling“ sowie einer Bewertung desselben. Schnell erzählt ist nur das, worum es eher nachrangig geht. Die von Geldsorgen bedrohte Fake-Detektivin Emma Erdling erhält in ihrem Büro überraschend Besuch von einem Mann, den sie mit den Worten „Bitte, Herr Lafontaine“ hereinbittet. Er berichtet, dass seine Freundin Sahra entführt worden sei, dass er mit diesem Problem allerdings nicht bei der Polizei vorstellig werden könne, handele es sich doch „nicht um eine herkömmliche Entführung“. Wie also lautet der Auftrag? „Finde Sahra.“
Es folgt eine, wie gesagt, kaum zu fassende Reise durch Räume und Zeiten, in Träumen und Wahrheiten, zu Mentalitäten, Verschwörungen, Glaubenssätzen, in bewusste wie auch unbewusste Welten und dann noch weiter in das unendliche Jenseits ringsherum. Auf ihrer Reise begegnet die Mittdreißigerin Emma Andreas Erdling – die einem mal amorph vorkommt, dann vor dem inneren Auge aber auch sehr konkret von Helena Bonham Carter gespielt wird – einem sie begrapschenden Voltaire, Thomas Mann streift sich ein Spitzennachthemd über (und äußert die Vermutung, Wagenknecht könne nicht links sein), und der undurchsichtige Hanns Heinz Ewers rückt Erdling erst gar nicht mehr von der Pelle.
In ihrer „Danksagung statt einer Bibliographie“ für den vorangegangenen „Versuch dieses narrativen Kulturdenkmals“ bezieht sich Braslavsky auf diese Geistesgrößen, die sich beim Schreiben offenbar sämtlich als kooperativ erwiesen, und sie erläutert abschließend ihr Vorhaben. Sie habe sich, schreibt Braslavsky, ihrem Stoff selbst gewissermaßen ausgeliefert. In der Gesprächsreihe „Berliner Manuskripte“ wiederum teilte die Autorin schon vor drei Jahren mit, beabsichtigt sei „ein faustisches Psychogramm der deutschen Seele“, und das ist es auf eine wie gesagt völlig entrückte Art auch geworden.
Wie lässt sich das nun beschreiben? Es ist beim Lesen so, als würde ein giftig-saures „Center Shock“ fortwährend unter der Kopfhaut britzeln und auch, als würde man in Sekundenbruchteilen wechselnd verschiedene Filme parallel sehen, darunter auf jeden Fall Christopher Nolans Zeitmaschinen-Brainfuck „Tenet“ und „Interstellar“, dazu „Matrix“, „Das fünfte Element“, „Die unendliche Geschichte“. „Erdling“ ist alles zugleich, eine Philosophie von eigentlich allem, eine rasterkraftmikroskopische Ergründung des Deutschen im Allgemeinen und deutschen Links-Seins im Besonderen, ein bekiffter Psychotrip in die Biografie und andere Spekulationsräume der Autorin.
So paradox es klingt und so heiter man ob dieser Wortmeldung doch sein darf, so sehr erschließt es sich doch auch, wenn Braslavsky im Gespräch mit den Kollegen bei der FAZ sagt, sie habe sich in diesem Buch „an Fakten gehalten“. Momentchen mal, könnte man da denken, wird in „Erdling“ nicht auch Anfang der 1950er eine geheime Nazi-Basis auf dem Mond errichtet und beginnen nicht die Bäuche noch einmal anderer, nämlich kugelförmiger Mondlinge rot zu leuchten, als der Name Sahra Wagenknecht erwähnt wird? Gewiss, so ist es, aber wer mit einer handelsüblichen Definition von „Fakten“ in diesen „Erdling“ spaziert, kommt ohnehin nicht weit.
Was es braucht, um all dem Platz und „Logik“ und Struktur zu geben, ist „so ’ne Art quantenmechanisches Erzähluniversum“, wie es Braslavsky einmal gesagt hat. Es gibt Zeitverschiebungen, Zeitdilatation, mal fließt die Zeit – siehe „Tenet“ – auch rückwärts. Als Leser gibt man entweder irgendwann auf, ein solches Buch zu lesen, weil es schlicht anstrengend ist. Oder man streckt die Waffen des eigenen Weltbildes und fährt einfach mit, wenn Emma Erdling mithilfe des DEFA-Science-Fiction-Films „Eolomea“ aus den 1970ern über den Mythos einer zweiten Erde sinniert oder bei den „Vril-Frauen“ landet und in einer Kit-Kat-ähnlichen Bumsbude „harten, vegetarischen und alkoholfreien Sex“ hat: „wir erbrachten Höchstleistungen, denn nur der beste Sex würde den neuen Menschen hervorbringen“.
Sahra Wagenknecht bleibt bei all dem übrigens mit Wohlwollen betrachtet eine nicht näher bestimmte Metapher, man kann sie aber auch als modernes „Readbait“ lesen, eine eher aus Gründen des Marketings in diesen Text hineinoperierte Listigkeit, so oder so sorgt sie für komische Momente. Mal steht die Frage in der Raumzeit, ob Wagenknecht womöglich zwischen Ost- und West-Aliens vermittle, zwischen Engländern und den Nume oder zwischen der probatischen und der antibatischen Bewegung auf dem Mars, auf jedenfalls allerhöchstem diplomatischen Interstellar-Parkett. Mal geht es aber auch in den gedachten Kabarettkeller, wenn Erdling Wagenknecht nachsetzt mit dem Satz „Ihr Mann schickt mich“! „Ich wusste nicht, dass ich einen habe“, antwortet diese, „ist es der Karl?“ – „Nein. Der Oskar.“
Emma Braslavsky hat bei der Recherche für „Erdling“ den österreichischen Publizisten und Science-Fiction-Kritiker Franz Rottensteiner um Hilfe gebeten, der mal die „Phantastische Bibliothek“ des Suhrkamp-Verlages herausgab. Den bat sie um Vorkriegsliteratur, die Spuren oder mehr von Außerirdischem enthalten sollte. Wenn „Erdling“ neben einem ordentlichen Durchzug im Oberstübchen noch etwas einigermaßen sicher ist, dann ein Plädoyer für die Wiederentdeckung des Extraterrestrischen in der deutschen Literatur. Die Außerirdischen, so darf man Bravslavsky verstehen, hatten zuletzt einen schweren Stand, und auch sie selbst musste erst sensibilisiert werden, wie sie in einer funkelnden Miniatur am Ende ihres Danksagungs-Beipackzettels berichtet. Bei einer Ausstellungseröffnung in der Upper East Side kam ein Mann auf sie zu, man sprach über Kunst, dann fragte er, ob sie ihm ansähe, dass er von Außerirdischen entführt worden sei. Braslavsky verneinte, im Übrigen glaube sie gar nicht an Außerirdische. Der Mann grinste und sagte zu ihr lediglich dies: „You should solve your problems.“
Das Bewusstsein vieler Menschen reicht kaum bis in die Stratosphäre. Emma Braslavskys „Erdling“ ist eine so rasante wie wirklich fordernde Einladung, dieses Bewusstsein nach Belieben, aber ohne Furcht zu erweitern. Wohin das führt? Kann und muss jeder Erdling für sich selbst herausfinden, so er Zeit und Lust findet und mehr sein möchte als das, was ein extraterrestrischer Erd-Tourist in einem Hördialog von Olaf Schubert erlebt. Nach seiner Rückkehr gefragt, ob es neben „Dohlrommeln“ und Gewürm noch anderes Leben auf der Erde gebe, „auch was Aufrechtes?“ nämlich, sagt der Tourist: „Hauptsächlich der Mensch … der steht rum, hat dann Sachen an, macht Stoffwechsel … also, der hat zu tun.“
„Ihr Mann schickt mich!“ –
„Ich wusste nicht, dass ich
einen habe.“
In „Erdling“ klärt der Vater der Protagonistin auf, dass Außerirdische im sozialistischen Film nicht hätten gezeigt werden dürfen. Kosmonauten aber schon – wie hier in der DEFA-Produktion „Eolomea“ von 1972.
Foto: ddp/Capital Pictures
Emma Braslavsky:
Erdling. Roman.
Suhrkamp, Berlin 2023. 425 Seiten, 26 Euro.
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