Eine Geschichte der literarischen Entdeckung der Zeit als einer eigenständigen, zugleich abstrakten und lebensbestimmenden Größe.Über Zeit haben die Gelehrten seit der Antike nachgedacht. Erst im späten Mittelalter aber wird das, was zunächst eher theoretische Dimensionen hatte, zu einer alle Lebens- und Weltbereiche durchdringenden Größe. Zeitliche Semantiken und Erscheinungsformen nehmen markant zu. Es kommt zu einer umfassenden Temporalisierung. Die Zeit wird zu einer eigenen, gegenständlichen Kategorie, einer anthropologischen Denkfigur und Denkgewohnheit, einem zentralen Aspekt lebensweltlicher Erfahrung.Das Buch verfolgt diesen Prozess an drei Bereichen der mitteleuropäischen Literatur und Kultur: Reisetexte lassen erkennen, wie sich Zeiterfahrungen von Raumstrukturen lösen. Lebensbeschreibungen zeigen die Zeit als eine Kraft und Gegenkraft, die das individuelle Dasein umtreibt. Texte zu den letzten Dingen eröffnen Einblicke in die Ausdifferenzierung des Zeitlichen. Im Ganzen wird sichtbar, wie zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert im Schnittpunkt von Lebens- und Weltzeit, heilsgeschichtlicher und profaner, empfundener und gemessener Zeit, Vergangenheitsbezug, Gegenwartsgestaltung und Zukunftserwartung die Zeit in wachsendem Maße das Denken und Handeln bestimmt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2022Die Uhren gaben nicht den Ausschlag
Christian Kiening spürt literarischen Zeiterfahrungen im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit nach
Vielleicht sollte man dieses Buch von seinem Ende her zu lesen beginnen. Denn dort wird dem nicht mit dem langen Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit vertrauten Leser ein Orientierungsangebot gemacht, das ihm helfen kann, durch den dicht gewobenen Text zu navigieren. Christian Kiening, Ordinarius für Ältere Deutsche Literatur an der Universität Zürich, geht es nicht darum, darzustellen, wie es im siebzehnten Jahrhundert zu einer Vorstellung absoluter Zeit, der Zeit der Physik, gekommen ist. Es geht ihm auch nicht darum, den Technologien und der Praxis der Zeitmessung zwischen 1300 und 1600 im Einzelnen nachzugehen. Vielmehr handelt der Text von der Selbstverständigung über das Phänomen Zeit, von der vielschichtigen Erfahrung der Zeit, wie sie den handschriftlichen und gedruckten literarischen Texten jener Epoche zu entnehmen ist.
Das Buch ist so übersichtlich wie komplex strukturiert. Seine drei Teile behandeln die "erfahrene", die gelebte und die gestundete Zeit: die Zeit des Reisens, die biographische Zeit im weitesten Sinne, den Umgang mit dem Tod, alle in ihren literarischen Verarbeitungen. Dabei wird in jedem der Teile von Neuem die Zeitspanne vom beginnenden vierzehnten bis zum Anfang des siebzehnten Jahrhunderts durchlaufen. Überschneidungen lassen sich nicht vermeiden, denn die den genannten Erfahrungsbereichen zugeordneten Zeiten gehen oft ineinander über. Der erste Teil behandelt reale und imaginierte Reiseberichte, zumeist Pilgerfahrten zu heiligen Stätten, vor allem ins Heilige Land. Die Reisezeit steht hier im Vordergrund und gibt die Folie ab, vor der sich Lebenszeit, historische Zeit und Heilszeit verschränken und verschlingen. Die individuelle Lebenszeit steht im zweiten Teil im Vordergrund: die Zeit der Liebe und des Ungestüms, die Zeit der Reife, die beschwerliche Zeit des Alters. Schließlich tritt im dritten Teil der Tod in seinen über diese drei Jahrhunderte sich entwickelnden Figurationen in den Vordergrund. Als Trend, aber nicht als Bruch zeichnet sich ab, dass Welt- und Eigenzeit eine größere Bedeutung erlangen und die Heilszeit zwar keineswegs verschwindet, aber an Dominanz zu verlieren beginnt.
Wer erwartet hat, dass die Einführung von Zeitmessgeräten - von der Sanduhr über Taschensonnenuhren, mechanische Taschenuhren bis hin zu den monumentalen Uhr- und Glockenwerken in Kirchen und Rathäusern des sechzehnten Jahrhunderts -, also die Entwicklung der Techniken der Zeitmessung, eine entscheidende Rolle für den literarischen Diskurs spielen würde, sieht sich insgesamt enttäuscht, auch wenn in der zeitgenössischen Emblematik, wie Kiening im letzten Teil seines Buches zeigt, Uhren eine bedeutende Rolle zu spielen beginnen.
Es gab eine Zeit - sie liegt noch nicht so lange zurück -, da wurde in der Kulturgeschichte von Revolutionen gesprochen: von wissenschaftlichen Revolutionen, Medienrevolutionen, industrieller Revolution, von politischen Revolutionen zu schweigen. Wir scheinen in eine andere Zeit eingetreten zu sein, in der nicht einmal mehr "Sattelzeiten" so hingenommen werden. Die Zeichen stehen auf Pluralität und Gleichzeitigkeit. Kiening erzählt den Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit im Spiegel der Literatur nicht als eine Geschichte von Brüchen, sondern als eine von vielschichtigen tentativen Verschiebungen. Die üblichen Zäsuren von Renaissance, Buchdruck, Reformation, "von der geschlossenen Welt zum offenen Universum", um es mit Alexandre Koyré zu sagen, sieht Kiening keine erzählerisch bestimmende Rolle spielen.
Insgesamt steht im Zentrum, was in einem der Buchtitel des Autors als "narrative Mikroökonomien" bezeichnet wird. Kiening verfolgt die literarische Darstellung zeitlicher Verhältnisse bis in den Satzbau der behandelten Poeme und Prosatexte hinein. Er beschränkt sich dabei nicht auf das mittelhochdeutsche Schrifttum allein, sondern zieht auch lateinisch, französisch, italienisch, englisch und spanisch geschriebene Texte in seinen Parforceritt durch die Jahrhunderte mit ein. Und es geht ihm nicht nur um die großen Namen der Weltliteratur wie Francesco Petrarca, Jean de Mandeville, Oswald von Wolkenstein, Nikolaus von Kues, Michel Montaigne, sondern im gleichen Atemzug auch um die Schriften wenig bekannter und ungedruckt gebliebener Zeitgenossen wie etwa die des Buchhalters der Fugger in Nürnberg, Matthäus Schwarz (1497-1574), der uns eine Autobiographie mit dem Titel "Der Welt Lauf" hinterlassen hat, die er mit Darstellungen der von ihm im Lauf der Zeit getragenen Kleidung ergänzte (F.A.Z. vom 23. März). An diesem und anderen literarischen Produkten geht zwar die kaufmännische Buchführung nicht spurlos vorüber, aber das Geschehen, wie es die literarischen Texte prägt, bleibt vielschichtig. Es amalgamieren sich Zeit als Thema, Zeit der Erzählung und erzählte Zeit in immer neuen Figurationen. Man folgt ihnen erstaunt, kann sich in ihnen aber auch verlieren. HANS-JÖRG RHEINBERGER
Christian Kiening: "Erfahrung der Zeit" 1350 -1600.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 336 S., geb., 29,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christian Kiening spürt literarischen Zeiterfahrungen im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit nach
Vielleicht sollte man dieses Buch von seinem Ende her zu lesen beginnen. Denn dort wird dem nicht mit dem langen Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit vertrauten Leser ein Orientierungsangebot gemacht, das ihm helfen kann, durch den dicht gewobenen Text zu navigieren. Christian Kiening, Ordinarius für Ältere Deutsche Literatur an der Universität Zürich, geht es nicht darum, darzustellen, wie es im siebzehnten Jahrhundert zu einer Vorstellung absoluter Zeit, der Zeit der Physik, gekommen ist. Es geht ihm auch nicht darum, den Technologien und der Praxis der Zeitmessung zwischen 1300 und 1600 im Einzelnen nachzugehen. Vielmehr handelt der Text von der Selbstverständigung über das Phänomen Zeit, von der vielschichtigen Erfahrung der Zeit, wie sie den handschriftlichen und gedruckten literarischen Texten jener Epoche zu entnehmen ist.
Das Buch ist so übersichtlich wie komplex strukturiert. Seine drei Teile behandeln die "erfahrene", die gelebte und die gestundete Zeit: die Zeit des Reisens, die biographische Zeit im weitesten Sinne, den Umgang mit dem Tod, alle in ihren literarischen Verarbeitungen. Dabei wird in jedem der Teile von Neuem die Zeitspanne vom beginnenden vierzehnten bis zum Anfang des siebzehnten Jahrhunderts durchlaufen. Überschneidungen lassen sich nicht vermeiden, denn die den genannten Erfahrungsbereichen zugeordneten Zeiten gehen oft ineinander über. Der erste Teil behandelt reale und imaginierte Reiseberichte, zumeist Pilgerfahrten zu heiligen Stätten, vor allem ins Heilige Land. Die Reisezeit steht hier im Vordergrund und gibt die Folie ab, vor der sich Lebenszeit, historische Zeit und Heilszeit verschränken und verschlingen. Die individuelle Lebenszeit steht im zweiten Teil im Vordergrund: die Zeit der Liebe und des Ungestüms, die Zeit der Reife, die beschwerliche Zeit des Alters. Schließlich tritt im dritten Teil der Tod in seinen über diese drei Jahrhunderte sich entwickelnden Figurationen in den Vordergrund. Als Trend, aber nicht als Bruch zeichnet sich ab, dass Welt- und Eigenzeit eine größere Bedeutung erlangen und die Heilszeit zwar keineswegs verschwindet, aber an Dominanz zu verlieren beginnt.
Wer erwartet hat, dass die Einführung von Zeitmessgeräten - von der Sanduhr über Taschensonnenuhren, mechanische Taschenuhren bis hin zu den monumentalen Uhr- und Glockenwerken in Kirchen und Rathäusern des sechzehnten Jahrhunderts -, also die Entwicklung der Techniken der Zeitmessung, eine entscheidende Rolle für den literarischen Diskurs spielen würde, sieht sich insgesamt enttäuscht, auch wenn in der zeitgenössischen Emblematik, wie Kiening im letzten Teil seines Buches zeigt, Uhren eine bedeutende Rolle zu spielen beginnen.
Es gab eine Zeit - sie liegt noch nicht so lange zurück -, da wurde in der Kulturgeschichte von Revolutionen gesprochen: von wissenschaftlichen Revolutionen, Medienrevolutionen, industrieller Revolution, von politischen Revolutionen zu schweigen. Wir scheinen in eine andere Zeit eingetreten zu sein, in der nicht einmal mehr "Sattelzeiten" so hingenommen werden. Die Zeichen stehen auf Pluralität und Gleichzeitigkeit. Kiening erzählt den Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit im Spiegel der Literatur nicht als eine Geschichte von Brüchen, sondern als eine von vielschichtigen tentativen Verschiebungen. Die üblichen Zäsuren von Renaissance, Buchdruck, Reformation, "von der geschlossenen Welt zum offenen Universum", um es mit Alexandre Koyré zu sagen, sieht Kiening keine erzählerisch bestimmende Rolle spielen.
Insgesamt steht im Zentrum, was in einem der Buchtitel des Autors als "narrative Mikroökonomien" bezeichnet wird. Kiening verfolgt die literarische Darstellung zeitlicher Verhältnisse bis in den Satzbau der behandelten Poeme und Prosatexte hinein. Er beschränkt sich dabei nicht auf das mittelhochdeutsche Schrifttum allein, sondern zieht auch lateinisch, französisch, italienisch, englisch und spanisch geschriebene Texte in seinen Parforceritt durch die Jahrhunderte mit ein. Und es geht ihm nicht nur um die großen Namen der Weltliteratur wie Francesco Petrarca, Jean de Mandeville, Oswald von Wolkenstein, Nikolaus von Kues, Michel Montaigne, sondern im gleichen Atemzug auch um die Schriften wenig bekannter und ungedruckt gebliebener Zeitgenossen wie etwa die des Buchhalters der Fugger in Nürnberg, Matthäus Schwarz (1497-1574), der uns eine Autobiographie mit dem Titel "Der Welt Lauf" hinterlassen hat, die er mit Darstellungen der von ihm im Lauf der Zeit getragenen Kleidung ergänzte (F.A.Z. vom 23. März). An diesem und anderen literarischen Produkten geht zwar die kaufmännische Buchführung nicht spurlos vorüber, aber das Geschehen, wie es die literarischen Texte prägt, bleibt vielschichtig. Es amalgamieren sich Zeit als Thema, Zeit der Erzählung und erzählte Zeit in immer neuen Figurationen. Man folgt ihnen erstaunt, kann sich in ihnen aber auch verlieren. HANS-JÖRG RHEINBERGER
Christian Kiening: "Erfahrung der Zeit" 1350 -1600.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 336 S., geb., 29,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Hans-Jörg Rheinberger kann sich verlieren in den Erörterungen über das Phänomen Zeit im Buch des Mediävisten Christian Kiening. Am besten erschließt sich der komplexe Band für den Leser, beginnt er vom Ende her, wo der Autor Orientierung anbietet, rät Rheinberger. Gelebte, erfahrene und gestundete Zeit vermittelt der Autor laut Rezensent anhand von Reise- und Lebensberichten und den "Figurationen des Todes". Rheinberger vergleicht und stellt fest, dass es heute eher um Gleichzeitigkeit geht. Dass der Autor im Zuge seiner Zeit-Erkundung auch weniger bekannte Autoren wie einen Buchhalter der Fugger vorstellt, gefällt dem Rezensenten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wie sehr das Aufkommen (von) Uhren das Denken der Menschen veränderte, zeigt dieses Buch eindrücklich.« (Daniel Arnet, Blick, 03.04.2022) »Das Buch ist so übersichtlich wie komplex strukturiert. (...) Kiening erzählt den Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit im Spiegel der Literatur (...) als eine (Geschichte) von vielschichtigen tentativen Verschiebungen.« (Hans-Jörg Rheinberger, FAZ, 19.05.2022)