Sie zog Das Kapital aus dem Regal. 'Hab ich auch mal zu lesen versucht. Schön und gut, aber irgendwie hätte ich gedacht, es müssten mehr Indianer drin vorkommen ...'
Die junge Frau, die sich für Marx interessiert, ist die Anglistikstudentin Kathrin Passig aus Regensburg. Martin Schlosser lernt sie Anfang der neunziger Jahre als Gewinnerin eines von ihm selbst organisierten Preisausschreibens für das Satiremagazin Kowalski kennen. Dort ist er inzwischen als freier Mitarbeiter tätig. Und weil auch der Merkur, die Frankfurter Rundschau und konkret seine Texte drucken, kann er endlich vom Schreiben leben. Von nun an steht er nicht mehr hinter dem Tresen einer friesischen Rumpeldiscothek, sondern geht als Reporter auf Reisen: etwa zu einem Jonglierfestival in Oldenburg, zur Wiedervereinigungsfeier vor dem Berliner Reichstag oder zu einem Atheisten-Kongress in Fulda. Nebenbei kümmert er sich um seine Großmutter in Jever, besucht hin und wieder seinen Vater in Meppen oder tummelt sich auf Tantra-Workshops. Dann zieht es ihn wieder nach Berlin. Alles wendet sich jetzt, wie es scheint, zum immer Besseren: Verleger bieten ihm Buchverträge an, es gibt Einladungen zu Lesungen, die Nächte werden länger, und das Leben ist schön.
Die junge Frau, die sich für Marx interessiert, ist die Anglistikstudentin Kathrin Passig aus Regensburg. Martin Schlosser lernt sie Anfang der neunziger Jahre als Gewinnerin eines von ihm selbst organisierten Preisausschreibens für das Satiremagazin Kowalski kennen. Dort ist er inzwischen als freier Mitarbeiter tätig. Und weil auch der Merkur, die Frankfurter Rundschau und konkret seine Texte drucken, kann er endlich vom Schreiben leben. Von nun an steht er nicht mehr hinter dem Tresen einer friesischen Rumpeldiscothek, sondern geht als Reporter auf Reisen: etwa zu einem Jonglierfestival in Oldenburg, zur Wiedervereinigungsfeier vor dem Berliner Reichstag oder zu einem Atheisten-Kongress in Fulda. Nebenbei kümmert er sich um seine Großmutter in Jever, besucht hin und wieder seinen Vater in Meppen oder tummelt sich auf Tantra-Workshops. Dann zieht es ihn wieder nach Berlin. Alles wendet sich jetzt, wie es scheint, zum immer Besseren: Verleger bieten ihm Buchverträge an, es gibt Einladungen zu Lesungen, die Nächte werden länger, und das Leben ist schön.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2018Hinter jedem Nabel eine Welt
Seit vierzehn Jahren schreibt Gerhard Henschel seinem Leben hinterher. In seinem „Erfolgsroman“
ist er in den Neunzigerjahren angekommen. Und es wird ernst mit den Schriftsteller-Ambitionen
VON JÖRG MAGENAU
Wenn man ein Tagebuch ins Imperfekt setzt, wird daraus noch lange kein Roman. Da hilft es auch nicht viel, statt „ich“ beispielsweise „Martin Schlosser“ zu sagen, so wie Gerhard Henschel es praktiziert. Dabei weiß doch jeder, dass dieser Martin Schlosser aus Meppen, der Anfang der Neunzigerjahre eine dörfliche Existenz in Heidmühle erprobt und versucht, als freier Rezensent, Reporter und Satiriker durchzustarten, niemand anders ist als die literarische Version seiner selbst. Literarisch? Er selbst? Das ist die Frage, und genau damit spielt Henschel auch, wenn er so exzessiv das Romanhafte seiner gigantischen, kempowskihaft-monomanen autobiografischen Materialsammlung betont. Ist das Leben schon Literatur, wenn man es aufschreibt, und wird man selbst dadurch zu einer Figur?
Als Gerhard Henschel vor vierzehn Jahren in seinem „Kindheitsroman“ in sein Geburtsjahr 1962 zurückkehrte, wusste er noch nicht, welche vermutlich lebenslänglichen Konsequenzen er damit heraufbeschwor. Chroniken, einmal angefangen, haben es nun mal so an sich, auf der Zeitschiene ins Unendliche zu tendieren. Inzwischen ist er – nach „Jugend“-, „Liebes“-, „Abenteuer“-, „Bildungs“-, „Künstler“- und „Arbeiterroman“ beim „Erfolgsroman“ und damit Teil acht der jeweils 500 bis 600 Seiten umfassenden Schlosser-Lebensgeschichte angekommen. Das ist viel Holz, wahrlich. Dieses wird grob gehobelt und aufgeschichtet, und sorgsam verwahrt werden auch alle Späne , die, handelte es sich um Romane oder um so etwas wie „Kunst“, zugunsten einer zutage tretenden Form weggeschmissen werden würden.
Für Henschel aber ist nichts klein und unbedeutend genug, um nicht Zeugnis dieses alltäglichen Lebens und exemplarischen bundesdeutschen Schriftstellerdaseins zu sein. Alles steht unverbunden in kurzen, notizhaften Abschnitten nebeneinander und wird durch nichts zusammengehalten als das sie verbindende Bewusstsein und Erleben. Henschel listet alles auf, womit er – respektive Martin Schlosser – sich Tag für Tag beschäftigt, gibt alles wieder, was er in die Finger bekommt: Briefe, die er schrieb und erhielt, an Freunde, Freundinnen und Redaktionen, ganze Korrespondenzen mit dem Satireblatt Kowalski vor allem, aber auch mit Kurt Scheel vom Merkur oder Michael Rutschky und der Zeitschrift Alltag, die gewissermaßen das programmatische Zentralorgan von derlei Alltagsforschung gewesen ist.
Wie viel Zeit man damals noch hatte für ausgefeilte Briefe! Wie gemächlich es zuging in der Medienwelt, als das Computerzeitalter gerade erst begann! Nebenbei finden viele Filme, Lektüren Erwähnung, Besuche beim depressiven Vater in Meppen und Malefizturniere mit der erfreulich munteren Oma in Jever, desgleichen Reportagereisen in die Provinz. Auch an Zitaten aus eigenen Artikeln und Rezensionen wird nicht gespart, von denen zu leben dem angehenden Schriftsteller nicht immer gelingt. Nebenbei tönt die Weltpolitik aus dem Fernseher: Wiedervereinigung, Putsch in Moskau, Balkankrieg. Es war viel los in den frühen Neunzigerjahren.
Dazu gibt es fortgesetzte Liebesenttäuschungen und mit der Liebe immer wieder mal so etwas wie eine Handlung, die über das endlose Hin und Her hinauswächst. Nachdem Andrea sich verabschiedet hat, läuft es auch mit der in einem Tantra-Workshop rekrutierten Bettina nicht lange gut. Man erfährt immerhin, wie Kondome liebeskunstgerecht angelegt werden und dass sie nach Gebrauch besser auf einer Untertasse zu lagern sind als auf dem Fußboden herumzuglibbern. Ergiebiger, lustiger, schöner, aber nicht weniger unkompliziert ist die Liebesgeschichte mit Kathrin Passig, damals gerade zwanzig Jahre alt und wie der acht Jahre ältere Martin Schlosser noch nicht davon überzeugt, dass man vom Schreiben leben kann.
Die spielerischen Briefe der beiden sind eine Lust, wobei „Liebe“ das falsche Wort ist für diese Geschichte und eine Generation, die damit so ihre Probleme hat. „In Mamas und Papas Jugendzeit hatten dem Beischlaf heilige Liebesschwüre und Eheversprechen vorausgehen müssen. Jetzt aber war nicht mehr der Sex, sondern die Liebe schambesetzt.“ Das ist eine der kleinen, beiläufig hingerotzten Erkenntnisse, die Henschels Lebensmitschriftsprojekt auszeichnen. Man muss aber ziemlich geduldig sein, um zwischen all den Telefonaten wegen nicht bezahlter Honorare, Schwierigkeiten beim Döner-mit-Soße-Essen, Zug- und Autofahrten darauf zu stoßen.
Denen, die Sorge haben, das alles könnte zu intim sein und die Beteiligten, die im Unterschied zu Henschel selbst mit ihren Klarnamen auftreten, in Schwierigkeiten bringen, gab Henschel in einem Interview die beruhigende Auskunft, dass Kathrin Passig ihm bei den sie betreffenden Kapiteln mit eigenen Erinnerungen geholfen habe und sich bisher noch niemand bei ihm beschwert habe. Im Gegenteil: Die meisten seien beglückt über die literarische Verewigung, und schon so mancher alte Freund habe sich nach einer Lesung im Publikum gemeldet mit der Frage: Erinnerst du dich noch an mich?
Henschel schreibt dem eigenen Leben hinterher, ohne sich dadurch entmutigen zu lassen, vermutlich niemals in der Gegenwart anzukommen. Denn während er an der Rekonstruktion der Vergangenheit arbeitet und alle ein bis zwei Jahre einen neuen Schlosser-Band vorlegt, läuft die Zeit ja weiter und häuft unentwegt neues Material auf, und im Zweifelsfall läuft die Zeit schneller als das Schreiben. Es ist ein bisschen so, als betriebe da einer sein eigenes Literaturarchiv schon zu Lebzeiten, um sich den postumen Gang nach Marbach zu ersparen. Der Einfachheit halber ist das eigene Archiv dann auch schon die Literatur, und da das Blättern, das Sich-Festlesen darin durchaus Spaß macht, ist dagegen auch überhaupt nichts zu sagen.
Man sollte sie reden lassen, all die Leute, die Schriftstellern ihre Eitelkeit vorwerfen. Ja was denn sonst! Wie könnte jemand sein Leben in all seiner Unbedeutendheit so bedeutend finden wie Gerhard Henschel, wenn er nicht maßlos narzisstisch wäre? Ohne diese Grundeigenschaft gäbe es keine Literatur. Das Schöne ist aber, dass man lesend, andere lesend – und das praktiziert Henschel sehr ausgiebig, um auch darüber zu schreiben – dann doch gelegentlich über sich hinausgelangt. Wenn er einmal notiert: „Der Nabelschau des Autors Philip Roth hätte ich jede gut erfundene Geschichte vorgezogen“, gerät er jedoch unter das eigene Narzissmusniveau, weil er selber ja nichts betreibt als permanente Nabelschau. Allerdings in der Hoffnung, damit zugleich auch die Zeitgeschichte zu erfassen. Der Nabel ist die Welt.
Wie alle nabelschausüchtigen zieht auch Martin Schlosser schließlich nach Berlin, wo er im Kreis um Michael und Katharina Rutschky, Max Goldt, Wiglaf Droste und die damals noch beim Stadtmagazin Tip arbeitende Carola Rönneburg verkehrt und sich auf verzweifelte Wohnungssuche begibt. Nabelschau ist in diesen Kreisen Programm, und so zurückhaltend Henschel mit Meinungsbekundungen sein mag, so wenig skrupulös ist er mit Geschmacksurteilen, die nicht weniger rigide als Meinungen die Welt in Gut und Böse einteilen. Er kämpft einen beherzten Kampf gegen die damals schon ziemlich weit verbreitete Political Correctness und pastorales Gutmenschentum in Gestalt von Robert Jungk, Horst-Eberhard Richter oder Friedrich Schorlemmer. Er findet Bärbel Bohley und Wolf Biermann, Lutz Rathenow und anderen Dissidentenkitsch der Nachwendezeit unerträglich, und darin kann man ihm ja nur zustimmen.
Ob Ror Wolf nun wirklich der größte deutsche Dichter neben Walter Kempowski ist, dürfte weniger konsensfähig sein. Mit Bob Dylan als dem Allergrößten, von dem jedes Bootleg eingeatmet werden muss, und mit Julian Barnes’ Bericht des Holzwurms von der Arche Noah kann man aber definitiv nichts falsch machen.
Das Geschmäcklerische der durch nichts begründeten entschiedenen Urteile führt notgedrungen zu manchen Oberflächlichkeiten und einem postpubertären Bescheidwissertum, das Martin Schlosser im Lauf seines weiteren Lebens aber schon noch verlieren wird. Es ist ja immer leicht, jemanden mit ein paar halb- oder unverstandenen Zitaten abzumeiern. Wenn sich Martin Schlosser zum Beispiel über Ernst Jünger lustig macht, zeigt er damit bloß, dass er keine Ahnung hat. Aber das sei einem 28-Jährigen ja auch gegönnt.
Trotzdem, gerade deshalb und das vor allem: Dieses Buch macht Spaß. Weil es sprachsensibel und sprachkritisch ist. Weil man sich darüber ärgern und damit langweilen kann. Weil es witzig ist und unverschämt. Weil man Seiten überblättern kann und nichts verpasst, denn das, worauf es ankommt, das große Ganze des kleinen Autorenlebens, gerät in der Summe des endlosen Einerlei dann doch in den Blick. Und wer wissen will, wie es damals gewesen ist, was man gelesen, gedacht, empfunden und wie man zu lieben versucht hat in den Kreisen der Berliner Bestinformierten, der ist mit dem „Erfolgsroman“ allemal gut bedient.
Liebe und Liebesenttäuschung
bringen gelegentlich so
etwas wie eine Handlung hervor
Es ist ein bisschen so, als
betriebe da einer sein eigenes
Literaturarchiv schon zu Lebzeiten
Dieses Buch macht Spaß. Weil es
sprachkritisch und sprachsensibel
ist, witzig und unverschämt
Gerhard Henschel, auf seine Anfänge als junger Autor zurückblickend.
Foto: imago stock&people
Gerhard Henschel: Erfolgsroman. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2018.
602 Seiten, 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Seit vierzehn Jahren schreibt Gerhard Henschel seinem Leben hinterher. In seinem „Erfolgsroman“
ist er in den Neunzigerjahren angekommen. Und es wird ernst mit den Schriftsteller-Ambitionen
VON JÖRG MAGENAU
Wenn man ein Tagebuch ins Imperfekt setzt, wird daraus noch lange kein Roman. Da hilft es auch nicht viel, statt „ich“ beispielsweise „Martin Schlosser“ zu sagen, so wie Gerhard Henschel es praktiziert. Dabei weiß doch jeder, dass dieser Martin Schlosser aus Meppen, der Anfang der Neunzigerjahre eine dörfliche Existenz in Heidmühle erprobt und versucht, als freier Rezensent, Reporter und Satiriker durchzustarten, niemand anders ist als die literarische Version seiner selbst. Literarisch? Er selbst? Das ist die Frage, und genau damit spielt Henschel auch, wenn er so exzessiv das Romanhafte seiner gigantischen, kempowskihaft-monomanen autobiografischen Materialsammlung betont. Ist das Leben schon Literatur, wenn man es aufschreibt, und wird man selbst dadurch zu einer Figur?
Als Gerhard Henschel vor vierzehn Jahren in seinem „Kindheitsroman“ in sein Geburtsjahr 1962 zurückkehrte, wusste er noch nicht, welche vermutlich lebenslänglichen Konsequenzen er damit heraufbeschwor. Chroniken, einmal angefangen, haben es nun mal so an sich, auf der Zeitschiene ins Unendliche zu tendieren. Inzwischen ist er – nach „Jugend“-, „Liebes“-, „Abenteuer“-, „Bildungs“-, „Künstler“- und „Arbeiterroman“ beim „Erfolgsroman“ und damit Teil acht der jeweils 500 bis 600 Seiten umfassenden Schlosser-Lebensgeschichte angekommen. Das ist viel Holz, wahrlich. Dieses wird grob gehobelt und aufgeschichtet, und sorgsam verwahrt werden auch alle Späne , die, handelte es sich um Romane oder um so etwas wie „Kunst“, zugunsten einer zutage tretenden Form weggeschmissen werden würden.
Für Henschel aber ist nichts klein und unbedeutend genug, um nicht Zeugnis dieses alltäglichen Lebens und exemplarischen bundesdeutschen Schriftstellerdaseins zu sein. Alles steht unverbunden in kurzen, notizhaften Abschnitten nebeneinander und wird durch nichts zusammengehalten als das sie verbindende Bewusstsein und Erleben. Henschel listet alles auf, womit er – respektive Martin Schlosser – sich Tag für Tag beschäftigt, gibt alles wieder, was er in die Finger bekommt: Briefe, die er schrieb und erhielt, an Freunde, Freundinnen und Redaktionen, ganze Korrespondenzen mit dem Satireblatt Kowalski vor allem, aber auch mit Kurt Scheel vom Merkur oder Michael Rutschky und der Zeitschrift Alltag, die gewissermaßen das programmatische Zentralorgan von derlei Alltagsforschung gewesen ist.
Wie viel Zeit man damals noch hatte für ausgefeilte Briefe! Wie gemächlich es zuging in der Medienwelt, als das Computerzeitalter gerade erst begann! Nebenbei finden viele Filme, Lektüren Erwähnung, Besuche beim depressiven Vater in Meppen und Malefizturniere mit der erfreulich munteren Oma in Jever, desgleichen Reportagereisen in die Provinz. Auch an Zitaten aus eigenen Artikeln und Rezensionen wird nicht gespart, von denen zu leben dem angehenden Schriftsteller nicht immer gelingt. Nebenbei tönt die Weltpolitik aus dem Fernseher: Wiedervereinigung, Putsch in Moskau, Balkankrieg. Es war viel los in den frühen Neunzigerjahren.
Dazu gibt es fortgesetzte Liebesenttäuschungen und mit der Liebe immer wieder mal so etwas wie eine Handlung, die über das endlose Hin und Her hinauswächst. Nachdem Andrea sich verabschiedet hat, läuft es auch mit der in einem Tantra-Workshop rekrutierten Bettina nicht lange gut. Man erfährt immerhin, wie Kondome liebeskunstgerecht angelegt werden und dass sie nach Gebrauch besser auf einer Untertasse zu lagern sind als auf dem Fußboden herumzuglibbern. Ergiebiger, lustiger, schöner, aber nicht weniger unkompliziert ist die Liebesgeschichte mit Kathrin Passig, damals gerade zwanzig Jahre alt und wie der acht Jahre ältere Martin Schlosser noch nicht davon überzeugt, dass man vom Schreiben leben kann.
Die spielerischen Briefe der beiden sind eine Lust, wobei „Liebe“ das falsche Wort ist für diese Geschichte und eine Generation, die damit so ihre Probleme hat. „In Mamas und Papas Jugendzeit hatten dem Beischlaf heilige Liebesschwüre und Eheversprechen vorausgehen müssen. Jetzt aber war nicht mehr der Sex, sondern die Liebe schambesetzt.“ Das ist eine der kleinen, beiläufig hingerotzten Erkenntnisse, die Henschels Lebensmitschriftsprojekt auszeichnen. Man muss aber ziemlich geduldig sein, um zwischen all den Telefonaten wegen nicht bezahlter Honorare, Schwierigkeiten beim Döner-mit-Soße-Essen, Zug- und Autofahrten darauf zu stoßen.
Denen, die Sorge haben, das alles könnte zu intim sein und die Beteiligten, die im Unterschied zu Henschel selbst mit ihren Klarnamen auftreten, in Schwierigkeiten bringen, gab Henschel in einem Interview die beruhigende Auskunft, dass Kathrin Passig ihm bei den sie betreffenden Kapiteln mit eigenen Erinnerungen geholfen habe und sich bisher noch niemand bei ihm beschwert habe. Im Gegenteil: Die meisten seien beglückt über die literarische Verewigung, und schon so mancher alte Freund habe sich nach einer Lesung im Publikum gemeldet mit der Frage: Erinnerst du dich noch an mich?
Henschel schreibt dem eigenen Leben hinterher, ohne sich dadurch entmutigen zu lassen, vermutlich niemals in der Gegenwart anzukommen. Denn während er an der Rekonstruktion der Vergangenheit arbeitet und alle ein bis zwei Jahre einen neuen Schlosser-Band vorlegt, läuft die Zeit ja weiter und häuft unentwegt neues Material auf, und im Zweifelsfall läuft die Zeit schneller als das Schreiben. Es ist ein bisschen so, als betriebe da einer sein eigenes Literaturarchiv schon zu Lebzeiten, um sich den postumen Gang nach Marbach zu ersparen. Der Einfachheit halber ist das eigene Archiv dann auch schon die Literatur, und da das Blättern, das Sich-Festlesen darin durchaus Spaß macht, ist dagegen auch überhaupt nichts zu sagen.
Man sollte sie reden lassen, all die Leute, die Schriftstellern ihre Eitelkeit vorwerfen. Ja was denn sonst! Wie könnte jemand sein Leben in all seiner Unbedeutendheit so bedeutend finden wie Gerhard Henschel, wenn er nicht maßlos narzisstisch wäre? Ohne diese Grundeigenschaft gäbe es keine Literatur. Das Schöne ist aber, dass man lesend, andere lesend – und das praktiziert Henschel sehr ausgiebig, um auch darüber zu schreiben – dann doch gelegentlich über sich hinausgelangt. Wenn er einmal notiert: „Der Nabelschau des Autors Philip Roth hätte ich jede gut erfundene Geschichte vorgezogen“, gerät er jedoch unter das eigene Narzissmusniveau, weil er selber ja nichts betreibt als permanente Nabelschau. Allerdings in der Hoffnung, damit zugleich auch die Zeitgeschichte zu erfassen. Der Nabel ist die Welt.
Wie alle nabelschausüchtigen zieht auch Martin Schlosser schließlich nach Berlin, wo er im Kreis um Michael und Katharina Rutschky, Max Goldt, Wiglaf Droste und die damals noch beim Stadtmagazin Tip arbeitende Carola Rönneburg verkehrt und sich auf verzweifelte Wohnungssuche begibt. Nabelschau ist in diesen Kreisen Programm, und so zurückhaltend Henschel mit Meinungsbekundungen sein mag, so wenig skrupulös ist er mit Geschmacksurteilen, die nicht weniger rigide als Meinungen die Welt in Gut und Böse einteilen. Er kämpft einen beherzten Kampf gegen die damals schon ziemlich weit verbreitete Political Correctness und pastorales Gutmenschentum in Gestalt von Robert Jungk, Horst-Eberhard Richter oder Friedrich Schorlemmer. Er findet Bärbel Bohley und Wolf Biermann, Lutz Rathenow und anderen Dissidentenkitsch der Nachwendezeit unerträglich, und darin kann man ihm ja nur zustimmen.
Ob Ror Wolf nun wirklich der größte deutsche Dichter neben Walter Kempowski ist, dürfte weniger konsensfähig sein. Mit Bob Dylan als dem Allergrößten, von dem jedes Bootleg eingeatmet werden muss, und mit Julian Barnes’ Bericht des Holzwurms von der Arche Noah kann man aber definitiv nichts falsch machen.
Das Geschmäcklerische der durch nichts begründeten entschiedenen Urteile führt notgedrungen zu manchen Oberflächlichkeiten und einem postpubertären Bescheidwissertum, das Martin Schlosser im Lauf seines weiteren Lebens aber schon noch verlieren wird. Es ist ja immer leicht, jemanden mit ein paar halb- oder unverstandenen Zitaten abzumeiern. Wenn sich Martin Schlosser zum Beispiel über Ernst Jünger lustig macht, zeigt er damit bloß, dass er keine Ahnung hat. Aber das sei einem 28-Jährigen ja auch gegönnt.
Trotzdem, gerade deshalb und das vor allem: Dieses Buch macht Spaß. Weil es sprachsensibel und sprachkritisch ist. Weil man sich darüber ärgern und damit langweilen kann. Weil es witzig ist und unverschämt. Weil man Seiten überblättern kann und nichts verpasst, denn das, worauf es ankommt, das große Ganze des kleinen Autorenlebens, gerät in der Summe des endlosen Einerlei dann doch in den Blick. Und wer wissen will, wie es damals gewesen ist, was man gelesen, gedacht, empfunden und wie man zu lieben versucht hat in den Kreisen der Berliner Bestinformierten, der ist mit dem „Erfolgsroman“ allemal gut bedient.
Liebe und Liebesenttäuschung
bringen gelegentlich so
etwas wie eine Handlung hervor
Es ist ein bisschen so, als
betriebe da einer sein eigenes
Literaturarchiv schon zu Lebzeiten
Dieses Buch macht Spaß. Weil es
sprachkritisch und sprachsensibel
ist, witzig und unverschämt
Gerhard Henschel, auf seine Anfänge als junger Autor zurückblickend.
Foto: imago stock&people
Gerhard Henschel: Erfolgsroman. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2018.
602 Seiten, 26 Euro.
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»[J]eder einzelne Band [ist] eine Zeitmaschine, durch die wir Leser neben all dem Lesevergnügen auch in eigene Erinnerungen katapultiert werden.« NDR Matinee 20180807