»Das Schreiben reinigt meine Seele, lindert meinen Schmerz. Worte lassen das Geschehene verjähren, verzerren die Realität, machen sie zumutbar.«
In ihren tagebuchartigen Einträgen zieht uns eine widersprüchliche Frauenfigur in einen soghaften, sinnlichen und das Wahnhafte streifenden Stream of
Conciousness. Der Sound von »Erfüllung« ist leidenschaftlich, fließend, warm, sehnsüchtig. Die…mehr»Das Schreiben reinigt meine Seele, lindert meinen Schmerz. Worte lassen das Geschehene verjähren, verzerren die Realität, machen sie zumutbar.«
In ihren tagebuchartigen Einträgen zieht uns eine widersprüchliche Frauenfigur in einen soghaften, sinnlichen und das Wahnhafte streifenden Stream of Conciousness. Der Sound von »Erfüllung« ist leidenschaftlich, fließend, warm, sehnsüchtig. Die Gedanken sind giftig, erregt, besessen, melancholisch und beschämt.
Michéle Akli ist Französin, die in ihrer Zwischenwelt lebt. Nach der Revolution und Unabhängigkeit, ist sie ihrem Mann Brahim nach Algier in dem Moment gefolgt, in dem viele Kolonialisator:innen Algerien verließen. Sie hatte sich in Mann und Land verliebt, doch diese Liebe Erkältet. Michéle versucht ihre Einsamkeit mit Alkohol und dem Schreiben zu verdrängen. Ihrem Garten und ihrem zehnjährigen Sohn Erwan widmet sie sich mit devotionaler Obsession. Doch auch dort verschiebt sich etwas.
»Ich frag mich oft, was Erwan von mir und seiner Kindheit bleiben wird. Ich würde gern (...) unsere Glücksmomente auf Film bannen. Ich habe Angst, dass unsere Liebe mit den Erinnerungen schwindet.«
Erwan lernt Bruce kennen, ein Mädchen, das einnehmend ist, das sich in den Augen von Michéle zwischen den Geschlechtern bewegt. Auch wenn sie nahezu wahnhaft in diese Freundschaft ein erwachendes sexuelles Begehren hineinliest, das sie eifersüchtig zu verhindern versucht, sie spürt, die Erfüllung der innigen Mutter-Sohn-Beziehung wird enden. Haltlos richtet Michéle ihr leidenschaftliches Begehren auf Bruce's Mutter Catherine in ihren Heften. Real ist sie still, scheu, zurückgezogen und eigen. Michéle ist Französin in Algerien, sie ist priveligiert und sie ist gefangen in den Grenzen des Frauseins, so wie sie es versteht und schau eifersüchtig auf die Männer. Auch das zunehmende loslassen des Sohnes und die neue Stelle im Französischen Gymnasium bringen ihr keine Erfüllung.
Spannend machen »Erfüllung« besonders die nicht erzählten Perspektiven und Dimensionen, die sich andeuten und aufdrängen.
Wie erlebt der 10jährige seine Mutter, seinen Vater, wie Bruce, wie ist seine Welt in Algerien, wo er wahrscheinlich keine Zukunft haben wird? Wie ist die Welt von Brahim, der alles erduldet, der seine arabische Herkunft zu verachten scheint? Was ist Bruces Mikrokosmos? Ein Mädchen, das sich nicht mädchenhaft gibt, das von ihrem algerischen Vater abgelehnt wird und Nähe sucht zu seiner attraktiven Mutter Catherine, die Algerien als Zwischenstation sieht und sich von einer Affäre in die nächste stürzt. Was ist die Innenwelt von Amar, Catherines Mann, Unternehmer, in der Welt unterwegs, unter Beobachtung der Milizen und bald soweit, Algerien zu verlassen. Die postkoloniale Situation, die Gewalt in der Luft, die berechtigte Wut, die Zuwendung zum Islam, die Frage eines weiteren Krieges atmen zwischen den Zeilen und verstärken meine Begeisterung für diesen klugen und sinnlichen Roman.