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Produktdetails
  • Verlag: AG SPAK
  • Seitenzahl: 185
  • Erscheinungstermin: 26. Februar 2010
  • Deutsch
  • Abmessung: 190mm
  • Gewicht: 216g
  • ISBN-13: 9783940865045
  • ISBN-10: 3940865044
  • Artikelnr.: 28598647

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Autorenporträt
Dr. phil. Christian Mürner, geboren 1948 in Zürich, seit 1977 in Hamburg, freier Publizist und Behindertenpädagoge.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung

Wer auf Mitleid spekuliert, krepiert
„Elende Krumme“: Christian Mürner porträtiert behinderte Romanfiguren
Ein schmales Buch, ein wichtiges Buch: Nicht einmal zweihundert Seiten braucht Christian Mürner, um die Lebensschicksale von fünfzig Menschen zu skizzieren. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie körperlich oder geistig behindert sind und dass es sie nie gab. Es handelt sich um die Haupt- und Nebenfiguren von Romanen, vornehmlich des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Galerie zeigt eindrucksvoll, wie sehr die Literatur der Moderne sich von der Normabweichung, als die sie selbst sich begreift, auch thematisch neue Reize verspricht. Der Dichter, der Außenseiter par excellence, erfindet sich Gestalten, denen die Andersheit in den Körper geschrieben ist: ein Komplizentum der moralischen oder eher der ausbeuterischen Art?
Der älteste Fall, mit dem Mürner aufwarten kann, ist jener des Duncan Campbell. Auf diesen Namen hört der taubstumme Titelheld in einem Daniel Defoe zugeschriebenen Roman von 1720. Wie bei vielen späteren Dichtungen gehen schon hier körperliche Beeinträchtigung und geistige Begabung zusammen, schafft das eine Raum für das andere und ergänzt sich so zu einem Bild von letztlich harmonischer Ganzheit.
Gut 180 Jahre später steigt der wohl bekannteste „elende Krumme“, Boppi in Hermann Hesses „Peter Camenzind“, gar auf zum „bewunderten Lehrmeister“ eines Poeten. Camenzind rühmt die „prachtvolle Menschenseele“ des missgestalteten Strohflechters, dessen ganzes Leben „nur Leiden und Liebe“ sei. Den kontaktscheuen Kranken zeichne eine „von gütigem Humor erwärmte sachliche Betrachtung des Lebens“ aus. Der edle Behinderte ist ein zweischneidiger Topos. Mürner kritisiert in seinem Vorwort Romane, die „es größtenteils gut meinen mit ihren behinderten Helden“, als unglaubwürdig. Mit Abweichung allein lasse sich kein moralisches Urteil begründen. Die Identifikationsfalle schnappt zu, wenn das milde Licht, in das der „Krüppel“ gestellt wird, den schreibenden Sonderling selbst hell erstrahlen lassen soll. Dass auch Realisten nicht davor gefeit sind, zeigt Kunstmaler Edde Brunken, den Theodor Storm in seiner „Malerarbeit“ von 1867 hochleben ließ. Der kleinwüchsige Bucklige malt mit seiner „langfingrigen Affenhand“ die Venus von Milo ab, dichtet ihr jedoch ganz kontrafaktisch zwei „schöne, hülfreiche Arme“ hinzu. Kunst soll die Wirklichkeit korrigieren.
„In mir war ich immer ganz“
Mit dem gleichen Antrieb lässt Isolde Kurz in ihren „Florentiner Novellen“ von 1890 einen „missgeschaffenen Bastard“, das Sklavenkind Gaetano, christliche Fresken von hinreißender Schönheit erschaffen. Gaetano wird daraufhin zum überaus gesuchten Porträtmaler. Der Schaffensdrang scheint der beste Schutz vor Mitleid, einer teils subtilen, teils klebrigen Form der Herablassung. In der dringend wieder zu entdeckenden Groteske von der buckligen „Bernert-Paula“ etwa findet ein Uhrmachergeselle gerade an deren „ästhetischem Manko“ sein Gefallen. Max Herrmann-Neiße, der selbst verwachsen war, legt dem Gesellen die falsche Erkenntnis in den Mund, Paulas krummer Buckel steigere vortrefflich sein „Mitleid mit jeder vom Schicksal schlecht behandelten Kreatur“. Schließlich habe er schon immer eine politische „Vorliebe für die Unterdrückten und Beleidigten“ gehabt. Die Liebelei endet dann katastrophal.
Die Innensicht solchermaßen gedemütigter Zeitgenossen ins harsche Wort zu fassen, gelang erst den Zeitgenossen. Bei Franz Xaver Kroetz formuliert der „egoistische Krüppel“ Anton Kreuzberger, der „Mondscheinknecht“ von 1981: „Wer auf Mitleid spekuliert, krepiert.“ Das Zutrauen zu dieser Direktheit im Guten wie im Bösen musste über die Jahrzehnte und Jahrhunderte wachsen, parallel zur ansteigenden „Krüppelbewegung“. Erst im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts hatte der edle Behinderte ebenso ausgespielt wie die tumbe Jahrmarktsbelustigung. Der österreichische Autor Alois Hotschnig findet 1990 für die neuentdeckte Dialektik der Behinderung die Formel: „In mir war ich immer ganz. ( . . . ) Ich hab’ euch den Krüppel gemacht, nur für euch bin ich einer gewesen. Ihr habt mich als Krüppel gebraucht.“ So spricht der beinlose Paul in „Eine Art Glück“.
Was bei Gustave Flaubert und Victor Hugo noch weitgehend im Objektstatus gefangen war, hat nun die Weihen des Subjekts errungen: das andere, von der Technik oder den Mitmenschen abhängige Dasein. Es wird zum Widerschein einer prinzipiellen Angewiesenheit des Menschen. Alle erfundenen Behinderungen eint, dass sie heute wahrgenommen werden können als ein schöpferischer Einspruch gegen die Ideologien des Gesunden und Starken. Insofern kommt ihnen aufklärende Kraft zu. Christian Mürner fragt daher zu Recht, ob die fiktiven Porträts nicht ein Gegenmodell seien „zur medizinischen und humangenetischen Vorstellung der Vermeidung von Behinderungen“. Eine weitere menschenfreundliche Moral dieser fünfzig Miniaturen könnte lauten: Krank sind wir alle, mal mehr und mal weniger. Behindert aber wird man.
ALEXANDER KISSLER
CHRISTIAN MÜRNER: Erfundene Behinderungen. Bibliothek behinderter Figuren. Verlag AG SPAK, Neu-Ulm 2010. 190 Seiten, 16 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Man sollte dieses Buch nicht unterschätzen, warnt Alexander Kissler, denn es enthält eine wichtige, aufklärerische Moral. In "Elende Krumme" versammelt Christian Mürner fünfzig Geschichten behinderter Romanfiguren - vorwiegend des 20. Jahrhunderts - und zeichnet so die Geschichte der körperlich Eingeschränkten in der Literatur nach, vom Objektstatus hin zu einem Gegenentwurf zur Ideologie des selektierten, gesunden Menschen. Kissler zieht aus Mürners Miniaturen den Schluss, dass wir alle mehr oder weniger krank sein können, behindert aber, so erkennt der Rezensent nach der Lektüre, wird man.

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