Marktplatzangebote
4 Angebote ab € 9,50 €
Produktdetails
  • Verlag: HERBIG
  • Sonderausg. 4. Aufl.
  • Seitenzahl: 253
  • Deutsch
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 410g
  • ISBN-13: 9783776620856
  • ISBN-10: 3776620854
  • Artikelnr.: 07873541
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.1999

Karl der Kaiser wurde nicht gefragt
Sie haben ihn einfach fortgejagt: Uwe Topper eilt Heribert Illig zur Hilfe und sammelt Verdachtsmomente gegen die Fachwelt

Seit acht Jahren erregt Heribert Illig einiges Aufsehen mit der kühnen Theorie, das Mittelalter sei ungefähr dreihundert Jahre kürzer gewesen, Karl der Große und die Karolinger hätten nie existiert und wir befänden uns eigentlich erst am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Da die Wissenschaft sich selbst korrigiert, indem sie ihre Erkenntnisse immer wieder in Frage stellt, sollte man erwarten, daß es etablierten Wissenschaftlern leicht fällt, entweder die absonderlichen Gedankengänge Illigs ad absurdum zu führen oder diese neue Anregung so aufzunehmen, wie es Gelehrten ziemt. Beides ist jedoch bisher weithin ausgeblieben. Die Koryphäen reagieren meist ähnlich wie der Aachener Historiker Professor Max Kerner, der sich anläßlich einer populärwissenschaftlichen Diskussion zum Thema folgendermaßen äußerte: "Nicht die Einzelthesen Illigs sind bemerkenswert, sondern die Tatsache, daß offenbar seiner Arbeit mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird als der seriösen Forschung."

Der hartnäckige Heribert Illig ist allerdings nicht der einzige Verfechter des Gedankens vom erfundenen Mittelalter. Auch Uwe Topper ist solch ein Zeitrekonstrukteur, der sich mit der stichhaltigen Erfassung sämtlicher seit der Zeitenwende vergangenen Jahre beschäftigt. Auch er hörte seltsame Entgegnungen auf die Thesen Illigs, beispielsweise erlebte er einen Gelehrten, der eine Schenkungsurkunde Karls des Großen aus dem Jahr 769 präsentierte und damit die Existenz des Kaisers bewiesen zu haben glaubte. Daß die vorgelegte Urkunde weder ein Original noch eine beglaubigte Abschrift war, konnte den Fachmann nicht erschüttern. "Warum hätte man sie fälschen sollen?" So lautete die lapidare Antwort auf den Einwand, daß das Dokument vielleicht gar nicht echt sei. Ginge es um die Zulassung eines Studenten zur Prüfung und um eine unbeglaubigte Zeugniskopie, würde sich der Professor wohl kaum mit dieser Ausrede zufriedengeben.

Da Topper sich von der Fachwelt der Historiker nicht ernst genommen fühlt, wirbt er um das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. Die moderne Archäologie verfügt über naturwissenschaftliche Meßmethoden, mit deren Hilfe man schnell ein Artefakt, etwa aus der Zeit des Kaisers Augustus, auf sein Alter überprüfen könnte, dann würde man schon sehen, ob es eintausendsiebenhundert oder zweitausend Jahre alt ist, und die ganze Diskussion über fehlende Jahre wäre erledigt. Doch so einfach verhält es sich gerade nicht, weil etwa die Radiokarbonmethode einen Kalibrierstandard benötigt, dazu verwendet man Proben bekannten Entstehungsdatums, und dieses wiederum wird nach der bestehenden Zeitrechnung bestimmt. Das Alter eines Gegenstandes, der zur Zeitenwende hergestellt wurde, kann daher nur auf ungefähr 2000 Jahre bestimmt werden, ein anderes Ergebnis ist von dieser Technik her gar nicht möglich. Topper fällt außerdem auf, daß in letzter Zeit Altersbestimmungen von ägyptischen Funden nach der C-14-Methode dazu führten, daß die Fundstücke zeitlich viel weiter zurückdatiert werden mußten, als nach dem bisherigen Kenntnisstand der ägyptischen Chronologie zu erwarten war. Für Topper stellt sich daher die Frage, ob unsere Kenntnisse über die ägyptische Geschichte lückenhaft sind oder ob vielleicht die Radiokarbonmethode fehlerhaft kalibriert worden ist.

Auch die Ergebnisse der Dendrochronologie befriedigen Topper nicht. So gibt es in Deutschland eine an Eichenholzjahresringen gut belegte Jahresabfolge, die bis ungefähr zum Jahr 1000 zurückreicht, und eine weitere aus der Römerzeit, doch fehlen nach Toppers Angaben Holzproben für die Brücke zwischen beiden Zeitabschnitten. Zu Zeiten Karls des Großen wurde offenbar kaum gebaut, jedenfalls findet man weder in Köln noch in Frankfurt, noch in London nennenswerte Hinweise auf eine Besiedlung zwischen dem späten sechsten und dem frühen zehnten Jahrhundert.

Auch die Himmelsmechanik weist Abweichungen auf, die Topper in seinem Verdacht auf unterschlagene Jahre bekräftigen. So hätte die Gregorianische Kalenderreform von 1582 einen Sprung von dreizehn Tagen erfordert, doch Gregor XIII. kam mit nur zehn Tagen aus, als ob seit der julianischen Reform dreihundert Jahre weniger vergangen gewesen wären. Die astronomischen Aufzeichnungen des Ptolemäus erscheinen manchen heutigen Astronomen als Fälschungen, weil sie zu ungenau sind, als daß sie, wie von Ptolemäus behauptet, direkten Beobachtungen entspringen könnten, eher scheinen sie durch plumpe Rückrechnungen gewonnen zu sein. Auch scheint Ptolemäus Daten von Hipparch, der 275 Jahre vor ihm wirkte, übernommen zu haben. Für Topper sind solche Unstimmigkeiten Anlaß, einen weiteren Verdacht auszusprechen: Haben Mönche und kollaborierende Renaissancegelehrte die Schriften des Ptolemäus gefälscht?

Karl der Große unterhielt einen Gesandtenaustausch mit dem Kalifen Harun al Raschid, doch für Topper ist dieser fabulöse Kalif eher in den Geschichten aus tausendundeiner Nacht daheim als in der Geschichte. Andere islamische Quellen über die Franken erweisen sich unter der Überprüfung Toppers als höchst unzuverlässig. Warum aber sollte jemand dreihundert Phantomjahre in die Geschichtsschreibung einflechten? Topper stellt die Vermutung auf, das Konzil von Nizäa im Jahre 325 habe die Abspaltung des Islam vom Christentum markiert. Denn das Konzil beschäftigte sich mit der Frage, ob Jesus mit Gott gleichzusetzen sei, was die Moslems verneinen, und es bestätigte den von den Moslems abgelehnten Bilderkult. Um die Abspaltung zu vertuschen, habe man die Hedschra in das Jahr 622 verlegt, was zudem dem unheiligen Jahr 666 nach der Ermordung Julius Cäsars und der Begründung des Römischen Reiches entsprach.

Topper schließt sich Illigs Behauptung an, wonach das Jahr AD 614, in dem Jerusalem mit dem "Heiligen Kreuz" an die Perser fiel, das letzte echte Jahr in der heutigen Zählung bis zum Jahr 911 sei. Durch den Einschub von 297 Jahren wurde auch erreicht, daß das Jahr 1001 des Römischen Reiches nach einer Zugabe von weiteren sechs Jahren mit dem Jahr 1260 zusammenfiel, denn das erste Jahrtausendreich sollte gemäß einer Weissagung im Jahre des Heils 1260 vollendet sein und das neue beginnen. Damit war der Weltuntergang kalendarisch perfekt vorbereitet.

Daß tatsächlich Fälscher am Werk waren, belegt Topper unter anderem mit spanischen Grabsteinen, auf denen offensichtlich falsche Jahreszahlen angebracht oder diese beseitigt worden sind. In einem Fall ist eine Jahreszahl zweihundert Jahre vor der Einführung der arabischen Zahlen in ebensolchen Ziffern eingemeißelt. Manchen in Museen ausgestellten Steinen fehlen sogar Daten, die sie in älteren Katalogabbildungen noch getragen haben.

Auch folgendes erscheint Topper sehr fragwürdig: Die Wikinger fuhren im neunten Jahrhundert mehrmals mit einigen hundert Booten die enge Seine aufwärts, um Paris zu plündern und niederzubrennen, worauf sie jedesmal auf demselben Weg unbehelligt entkamen, eine verblüffende Leistung, für die es keine archäologischen Hinweise gibt. Im Jahr 911 sind die Normannen als ehrbare Handelsmänner resozialisiert, und sie erhalten von König Karl dem Einfältigen die Normandie zum Lehen.

Uwe Toppers "Erfundene Geschichte" liest sich wie ein Roman. Der Autor erschüttert unser Vertrauen in vieles, was wir über das erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung gelernt haben. Er gibt uns aber auch einen Überblick über eine Zeit, von der wir wenig wissen, und er macht verständlich, worauf dieses Wissen beruht, das ist verdienstvoll und dank seines geradezu kriminalistischen Ansatzes auch spannend. Darüber, ob Karl der Große, Pippin der Picklige oder Theodosius der Trübselige existiert haben oder nicht, ist sicher noch nicht das letzte Wort gefallen.

HARTMUT HÄNSEL

Uwe Topper: "Erfundene Geschichte". Unsere Zeitrechnung ist falsch - Leben wir im Jahr 1702? Herbig Verlag, München 1999. 254 S., 53 Abb., geb., 39,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr