Erhard Weigel (1625-1699), Mathematiker, Astronom, Physiker, Pädagoge, Philosoph und Erfinder, steht seit mehreren Jahren wieder zunehmend im Blickpunkt wissenschaftshistorischer Forschung. Der Lehrer von Leibniz, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an der Universität Jena lehrte, war eine zentrale Persönlichkeit der Wissenschaft der frühen Neuzeit. Weigels visionäres und manchmal urtümlich wirkendes Vorhaben, nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch das, was wir heute als Geisteswissenschaften bezeichnen, zu quantifizierender Forschung anzutreiben, seine pädagogischen Versuche, seine Bemühungen um die Verbesserung des allgemeinen, gewerblichen und technischen Bildungswesens im Reich und seine Anstrengungen zur Kalenderreform werden in dieser Einführung gut lesbar dargestellt. Die Heterogenität von Weigels Werk erschwert den Zugriff und hat eine umfangreiche Forschung bisher behindert; umso wichtiger ist diese erste Gesamtdarstellung. Rainer Specht und Wolfgang Detel gehen in zwölf übersichtlichen Abschnitten neben einer biographischen Skizze auf Weigels Pädagogik, seine Erkenntnistheorie, Mathematik und Wissenschaftstheorie ein sowie auf das Erbe Aristoteles' und Euklids, Weigels Werttheorie und seine Logik. Der Band schließt mit einer Darstellung von Weigels Enzyklopädie-Projekten und seinem Versuch, eine Gesamtwissenschaft in Gestalt einer »mathesis universalis« zu begründen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.03.2024Gemessen muss sein
Rainer Specht erinnert an den Philosophen Erhard Weigel
Die digitale Vermessung unseren Alltags, die Quantifizierung des Sozialen, hat ein hohes Maß erreicht, und sie wird weiter fortschreiten. Wo liegen die Ursprünge dieser durch Zahlen gesteuerten Bewertung von Personen, Unternehmen und Institutionen? Warum wissen wir so wenig über die Vorgeschichte eines Quantifizierens, das über materielle und physikalische Zusammenhänge hinausreicht?
Zu den Pionieren einer solchen Datenerhebung gehörte der Philosoph Erhard Weigel (1625 bis 1699). Für ihn galt der Satz aus dem biblischen "Buch der Weisheit", wonach Gott alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet hat. Da er alles Gegebene von Natur aus quantitativ betrachtete, wollte Weigel die Mathematik in einem bis dahin nicht gekannten Umfang auch im Bereich der Moral und der Kommunikationsmittel nutzen. Nachzulesen ist dies in einem Buch, das Rainer Specht, einer der besten Kenner der europäischen Philosophie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, soeben vorgelegt hat; der Untertitel deutet an, welchen Einfluss der heute vergessene Wissenschaftler auf die Zeitgenossen ausgeübt hat: "Denken und Werk eines Lehrers von Leibniz und Pufendorf".
Erhard Weigel ist am Beginn des Dreißigjährigen Kriegs in der Markgrafschaft Bayreuth aufgewachsen. Das Studium beginnt er 1647 an der philosophischen Fakultät in Leipzig. Er wendet sich den Fächern Astronomie und Mathematik zu, interessiert sich aber auch für eine neue Form der Pädagogik, die das Sachwissen gegenüber scholastischen Disputationen aufwertete und eine stärkere Verbindung zwischen Theorie und Praxis forderte.
Nach der 1653 erfolgten Berufung als Mathematiker an die Universität Jena kommt ihm diese (reform-)pädagogische Neigung zugute, sein Lehrerfolg ist enorm, was sicher mit der Aufwertung der mathematisch verfahrenden Mechanik ("Handwerkerkunst") zu tun hatte: "Weigels Bauten und Erfindungen beeindruckten weit über Jena hinaus. Sein technisch hervorragend ausgestattetes Wohnhaus galt als mathematisch gestalteter Mikrokosmos; man bewunderte den Personenaufzug, den Ausschankautomaten und das aus verschließbaren Hähnen fließende Wasser."
Die Wissenschaft soll den Menschen aus Notlagen befreien und das Leben verbessern, auch durch die Anwendung quantitativer Methoden in bis dahin nicht dafür in Erwägung gezogenen Bereichen: "Jede gelungene Messung lässt uns die Werke Gottes besser verstehen und bringt uns Nutzen." In dieser Annahme ist das wissenschaftliche Programm zu entdecken, das Specht in seiner historischen Darstellung nachvollzieht. Von der kirchlichen Obrigkeit hatte Weigel bei seiner an Zahlenwerten orientierten Forschung nichts zu befürchten, die Mathematik galt im Einflussbereich der lutherischen Theologie als unbedenklich. Für Konflikte sorgten lediglich sein Versuch, das Dogma der Trinität aus geometrischen Prinzipien zu beweisen, sowie sein jahrzehntelanger, mit vielen Reisen verbundener Kampf für die Kalenderreform, die ein Jahr nach seinem Tod eingeführt wurde.
Für die Stabilität der Gesellschaft und der christlichen Religion, an der Weigel gelegen war, ist die Leistung moralischer Entitäten kaum zu überschätzen. Die Räume, in denen diese existieren und zu erfassen sind, hat er eingehend untersucht, sowohl den der Privatpersonen als auch jenen der Öffentlichkeit; die von Gott gegebenen Bestimmungen sind in beiden Sphären durch praktikable Vorschriften zu ergänzen, die auf Willensakten beruhen. Was einen normativen Wert darstellt, etwa "Würde, Macht und Verdienst von Bürgern", soll sich durch Vermessung ermitteln lassen. Dabei sind nicht nur die realen Handlungen zu berücksichtigen, sondern auch die Intentionen der Akteure. Das gilt nach wie vor: "Besondere Einsatzfreudigkeit kann sich noch immer auf die Vergütung von Dienstleistenden auswirken."
Die von Weigel vollzogene Unterscheidung zwischen Dingen der Natur (entia physica) und den mit menschlicher Freiheit und Wertsetzung verbundenen moralischen Bestimmungen (entia moralia) ist wenig später von Samuel Pufendorf, einem der herausragenden Vertreter des säkularen Naturrechts (F.A.Z. vom 1. April 2023), in die juristische Fachdiskussion aufgenommen worden. Auch wenn zu Weigels Zeiten noch ein Mangel an geeigneten Instrumenten und Maßeinheiten herrschte, gehören seine mit der Quantifizierung verbundenen Hoffnungen doch zum Startkapital der modernen Datenindustrie oder, wie Specht etwas zurückhaltender formuliert, zu den "eindrucksvolleren Visionen unseres siebzehnten Jahrhunderts". FRIEDRICH VOLLHARDT
Rainer Specht: "Erhard Weigels Philosophie".
Mit zwei Beiträgen von Wolfgang Detel. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2023. 319 S., br., 36,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rainer Specht erinnert an den Philosophen Erhard Weigel
Die digitale Vermessung unseren Alltags, die Quantifizierung des Sozialen, hat ein hohes Maß erreicht, und sie wird weiter fortschreiten. Wo liegen die Ursprünge dieser durch Zahlen gesteuerten Bewertung von Personen, Unternehmen und Institutionen? Warum wissen wir so wenig über die Vorgeschichte eines Quantifizierens, das über materielle und physikalische Zusammenhänge hinausreicht?
Zu den Pionieren einer solchen Datenerhebung gehörte der Philosoph Erhard Weigel (1625 bis 1699). Für ihn galt der Satz aus dem biblischen "Buch der Weisheit", wonach Gott alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet hat. Da er alles Gegebene von Natur aus quantitativ betrachtete, wollte Weigel die Mathematik in einem bis dahin nicht gekannten Umfang auch im Bereich der Moral und der Kommunikationsmittel nutzen. Nachzulesen ist dies in einem Buch, das Rainer Specht, einer der besten Kenner der europäischen Philosophie des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, soeben vorgelegt hat; der Untertitel deutet an, welchen Einfluss der heute vergessene Wissenschaftler auf die Zeitgenossen ausgeübt hat: "Denken und Werk eines Lehrers von Leibniz und Pufendorf".
Erhard Weigel ist am Beginn des Dreißigjährigen Kriegs in der Markgrafschaft Bayreuth aufgewachsen. Das Studium beginnt er 1647 an der philosophischen Fakultät in Leipzig. Er wendet sich den Fächern Astronomie und Mathematik zu, interessiert sich aber auch für eine neue Form der Pädagogik, die das Sachwissen gegenüber scholastischen Disputationen aufwertete und eine stärkere Verbindung zwischen Theorie und Praxis forderte.
Nach der 1653 erfolgten Berufung als Mathematiker an die Universität Jena kommt ihm diese (reform-)pädagogische Neigung zugute, sein Lehrerfolg ist enorm, was sicher mit der Aufwertung der mathematisch verfahrenden Mechanik ("Handwerkerkunst") zu tun hatte: "Weigels Bauten und Erfindungen beeindruckten weit über Jena hinaus. Sein technisch hervorragend ausgestattetes Wohnhaus galt als mathematisch gestalteter Mikrokosmos; man bewunderte den Personenaufzug, den Ausschankautomaten und das aus verschließbaren Hähnen fließende Wasser."
Die Wissenschaft soll den Menschen aus Notlagen befreien und das Leben verbessern, auch durch die Anwendung quantitativer Methoden in bis dahin nicht dafür in Erwägung gezogenen Bereichen: "Jede gelungene Messung lässt uns die Werke Gottes besser verstehen und bringt uns Nutzen." In dieser Annahme ist das wissenschaftliche Programm zu entdecken, das Specht in seiner historischen Darstellung nachvollzieht. Von der kirchlichen Obrigkeit hatte Weigel bei seiner an Zahlenwerten orientierten Forschung nichts zu befürchten, die Mathematik galt im Einflussbereich der lutherischen Theologie als unbedenklich. Für Konflikte sorgten lediglich sein Versuch, das Dogma der Trinität aus geometrischen Prinzipien zu beweisen, sowie sein jahrzehntelanger, mit vielen Reisen verbundener Kampf für die Kalenderreform, die ein Jahr nach seinem Tod eingeführt wurde.
Für die Stabilität der Gesellschaft und der christlichen Religion, an der Weigel gelegen war, ist die Leistung moralischer Entitäten kaum zu überschätzen. Die Räume, in denen diese existieren und zu erfassen sind, hat er eingehend untersucht, sowohl den der Privatpersonen als auch jenen der Öffentlichkeit; die von Gott gegebenen Bestimmungen sind in beiden Sphären durch praktikable Vorschriften zu ergänzen, die auf Willensakten beruhen. Was einen normativen Wert darstellt, etwa "Würde, Macht und Verdienst von Bürgern", soll sich durch Vermessung ermitteln lassen. Dabei sind nicht nur die realen Handlungen zu berücksichtigen, sondern auch die Intentionen der Akteure. Das gilt nach wie vor: "Besondere Einsatzfreudigkeit kann sich noch immer auf die Vergütung von Dienstleistenden auswirken."
Die von Weigel vollzogene Unterscheidung zwischen Dingen der Natur (entia physica) und den mit menschlicher Freiheit und Wertsetzung verbundenen moralischen Bestimmungen (entia moralia) ist wenig später von Samuel Pufendorf, einem der herausragenden Vertreter des säkularen Naturrechts (F.A.Z. vom 1. April 2023), in die juristische Fachdiskussion aufgenommen worden. Auch wenn zu Weigels Zeiten noch ein Mangel an geeigneten Instrumenten und Maßeinheiten herrschte, gehören seine mit der Quantifizierung verbundenen Hoffnungen doch zum Startkapital der modernen Datenindustrie oder, wie Specht etwas zurückhaltender formuliert, zu den "eindrucksvolleren Visionen unseres siebzehnten Jahrhunderts". FRIEDRICH VOLLHARDT
Rainer Specht: "Erhard Weigels Philosophie".
Mit zwei Beiträgen von Wolfgang Detel. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2023. 319 S., br., 36,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Friedrich Vollhardt liest Rainer Spechts Darstellung der Philosophie Erhard Weigels mit Interesse. Als Pionier des Quantifizierens und der Datenindustrie scheint ihm der weitgehend vergessene Weigel von aktueller Bedeutung zu sein. Spechts Buch zeigt den Philosophen aus Bayreuth und seinen Einfluss auf Zeitgenossen, es erklärt, wie die Reformpädagogik Weigels Erfindungen und Gedanken beeinflusste und wie sich der Wissenschaftler einen eigenen mathematisch gestalteten Mikrokosmos erschuf, so Vollhardt. Quantifizierung als Mittel zur Lebensverbesserung - für den Rezensenten eine schöne Vision.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die digitale Vermessung unseres Alltags, die Quantifizierung des Sozialen, hat ein hohes Maß erreicht, und sie wird weiter fortschreiten. (...) Zu den Pionieren einer solchen Datenerhebung gehörte der Philosoph Erhard Weigel« Friedrich Vollhardt, FAZ vom 22.04.2024