Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 15,00 €
  • Gebundenes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Passage-Verlag
  • Seitenzahl: 120
  • Abmessung: 245mm
  • Gewicht: 445g
  • ISBN-13: 9783980529952
  • Artikelnr.: 07721248
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.1999

Die nicht tragfähige Leichtigkeit des Steins
In der Weimarer Republik ging es auch architektonisch ganz schön rund zu: Erich Mendelsohns Kaufhaus "Schocken" in Chemnitz

Erich Mendelsohns Kaufhaus-, Büro- und Industriebauten gehören zu den festen Bestandteilen des kollektiven Unterbewußtseins der Baugeschichte. In den zwanziger und dreißiger Jahren war er einer der eigenwilligsten und erfolgreichsten Architekten Europas, doch Krieg, Wohlstandshybris und sozialistischer Ruinismus haben wütend daran gearbeitet, seine Spuren in der gebauten Umwelt zu tilgen. Wie kaum ein anderer übersetzte Mendelsohn (1887 bis 1953) die Grundstimmung der Roaring Twenties in steinerne Strukturen: Tempo und Schwung allegorisierte er am Berliner Mossehaus in gerundeten Gebäudeecken, in expressionistischen Wölbungen am Potsdamer Einsteinturm oder in der kühnen Kurve des Chemnitzer Kaufhauses "Schocken". Dieses in Deutschland neben dem Einsteinturm wohl einzige halbwegs unversehrt gebliebene Bauwerk Mendelsohns ist der Nukleus einer prägnanten Studie über das erst seit kurzem unter dem Schutt der Geschichte wiederzuentdeckende Chemnitz. Vor der architektur-, religions- und gesellschaftsgeschichtlich unterlegten Folie einer "Industriemetropole um 1930" breitet Tilo Richter neben biographischen Skizzen zur Warenhausdynastie Schocken und ihres Hausarchitekten Mendelsohn im Hauptteil der 120 Seiten schlanken Arbeit das Curriculum ihres gemeinsamen Sprosses aus.

Nach der Gründung 1901 binnen zweier Jahrzehnte zum viertgrößten Kaufhauskonzern Deutschlands herangewachsen, "versuchte Schocken in Städten unter 50 000 Einwohnern Fuß zu fassen, bevor die Großen der Branche hier tätig wurden". In den zwanziger Jahren expandierte das Unternehmen auch in größere Städte: Nach Regensburg und Nürnberg folgte 1928 Stuttgart mit einer der Kaufhaus-Ikonen Mendelsohns. Die letzte Neueröffnung beging der Konzern 1931 in Pforzheim. Der im Jahr zuvor in Chemnitz fertiggestellte Warentempel, von Julius Posener als "Mendelsohns bester Bau" apostrophiert, sollte Inkunabel für unzählige Büro- und Geschäftsbauten nicht allein seines Schöpfers, sondern diverser Kollegen weltweit werden. Erst jüngst schälte sich im südbadischen Freiburg mit der Hypo-Bank am Fahnenbergplatz noch ein weiterer markanter Urenkel des von Mendelsohn zärtlich als "mein Kind" apostrophierten Chemnitzer Baus aus den Gerüsten.

Die Gebrüder Schocken, entschiedene Förderer der zionistischen Bewegung, Bauunternehmer, als global operierende Verleger und Kunstsammler vielseitig interessiert, gehörten sogar dem Deutschen Werkbund an, wo sie neben Mendelsohn auch Albert Renger-Partzsch begegneten. Dessen exzellente Photographien setzen nun in Richters Buch Werden und Bestehen des Chemnitzer "Schocken" adäquat ins Bild. Der kühne, kreissegmentale Schwung der Bänderfassade, die sich im Wechsel von verputzten, liegenden Mauerstreifen und kristallin klaren Fensterfriesen nahezu schwerelos neun Etagen aufschwingt, wird gegen den Himmel bekrönt von einem fliegenden Baldachin. Die (bereits vor Mendelsohns Arbeit entwickelte) nicht tragende Vorhangfassade war Bedingung, um eine solch unerhörte Leichtigkeit des Steins zu zelebrieren. Das Sockelgeschoß, scheinbar lastenbefreit gegen die vertikale Hauptfassade als stützenfreie "Krüppelarkade" zurückversetzt, die beiden flankierenden Treppenhäuser vom Scheitel bis zur Sohle mit kleinen Rasterrechtecken durchfenstert - sinnfälliger als hier ist die Dynamik der neuen Zeit nicht mehr in statische Form übertragen worden.

1938 wurde der Bau von den Nazis zum Kaufhaus "Merkur" arisiert. Seine Funktion und Hülle überstanden das "Dritte Reich" und dienten dann in der DDR als Kaufhaus "Centrum". Mit der Wende wurde der Veteran schließlich zum Vasall im Kaufhof-Imperium. Wenig verheißungsvoll beschließt Richter seinen Ausblick auf die nächste Zukunft. In der neu erstehenden Innenstadt genießt das Gebäude, eingebunden in die aktuelle Planung für Chemnitz als Denkmal, zwar Bestandsschutz. Seine Aufgabe als Kaufhaus indes wird es einbüßen. Funktionslos droht ihm - wie der "Villa Esche" von Henry van de Velde am gleichen Ort - die Metamorphose zur Chimäre. Wird so diese Hymne auf ein Haus unversehens zum Abgesang?

WERNER JACOB

Tilo Richter: "Erich Mendelsohns Kaufhaus Schocken". Jüdische Kulturgeschichte in Chemnitz. Hrsg. vom Evangelischen Forum Chemnitz. Passage-Verlag, Leipzig 1998. 120 S., 86 Duotone-Abb., br., 24,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr