"Es sind so viele politische Klischees über meinen Werdegang und meine Regierungszeit in die Welt gesetzt worden, dass die Legenden über die historischen Zusammenhänge bereits zu verdrängen drohen, wie es wirklich war. Deshalb habe ich nun selbst zur Feder gegriffen." Helmut Kohl
Viel ist über ihn geschrieben worden, doch nur wenig davon war zutreffend. Jetzt ergreift Helmut Kohl selbst das Wort. Er erzählt die Geschichte seines Lebens und damit zugleich die Geschichte Deutschlands seit dem Krieg – klug, kämpferisch und mit manch überraschender Wendung.
Die Erinnerungen 1930 – 1983 zeichnen nicht nur Helmut Kohls Weg zur Kanzlerschaft nach. Hier sind die Erfahrungen, Einsichten, Gedanken und Bewertungen eines Mannes dokumentiert, dessen Name eng mit der Geschichte der Bundesrepublik verbunden ist und der das Gesicht Europas im ausgehenden 20. Jahrhundert entscheidend mit geprägt hat.
Viel ist über ihn geschrieben worden, doch nur wenig davon war zutreffend. Jetzt ergreift Helmut Kohl selbst das Wort. Er erzählt die Geschichte seines Lebens und damit zugleich die Geschichte Deutschlands seit dem Krieg – klug, kämpferisch und mit manch überraschender Wendung.
Die Erinnerungen 1930 – 1983 zeichnen nicht nur Helmut Kohls Weg zur Kanzlerschaft nach. Hier sind die Erfahrungen, Einsichten, Gedanken und Bewertungen eines Mannes dokumentiert, dessen Name eng mit der Geschichte der Bundesrepublik verbunden ist und der das Gesicht Europas im ausgehenden 20. Jahrhundert entscheidend mit geprägt hat.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als "penible Rückschau" charakterisiert Christian Kind den ersten Band von Helmut Kohls Erinnerungen, der die Jahre 1930 bis 1982 umfasst. Wer Aufschluss über Persönliches, vielleicht sogar Anekdotisches, Stoff für anregende Lektüre erwarte, warnt Kind, komme hier kaum auf seine Kosten. Eher handle es sich um das Protokoll einer Politikerkarriere, die sich auf frühzeitige Planung, ungeheuren Fleiß in der Ausführung und sorgfältige Pflege nützlicher Beziehungen stützte. Kind lässt noch einmal Kohls Zeit als Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Oppositionsführer im Parlament, die von der Rivalität mit Franz Josef Strauß geprägt war, Revue passieren, berichtet über Kohls angespannte Verhältnis zu den Medien, und schildert dessen Reaktion auf die Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz und des Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer. Kohls Darstellung seiner Gewissenskonflikte in letzterem Fall gehört für Kind zu "eindrücklichsten" Passagen in diesen ansonsten eher nüchternen Erinnerungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.11.2005 Staatsmann, Amtsinhaber, Lehnsherr: Der neue Memoirenband zeigt, wie der frühere Kanzler Politik versteht
Der kleinkarierte König
„Verrat war nie meine Sache”: Im zweiten Teil seiner Erinnerungen rechnet Helmut Kohl mit jenen ab, die er für untreu hält
Von Warnfried Dettling
Der zweite Band der „Erinnerungen” von Helmut Kohl ist mit mehr als tausend Seiten nicht nur viel umfangreicher, sondern auch besser und wichtiger, lesbarer und unterhaltsamer als der erste, der vor eineinhalb Jahren erschien. Das liegt natürlich vor allem daran, dass Kohl die „aufregendsten Jahre” seines politischen Lebens beschreibt, 1982 bis 1990: Kanzlerschaft, Nachrüstung, Glasnost und Perestroika, ein „gescheiterter Putsch” gegen den CDU-Vorsitzenden, der Fall der Mauer. Den Nato-Doppelbeschluss gegen den Widerstand der Opposition und der Friedensbewegung hält Kohl „bis heute für das wichtigste Verdienst” seiner Regierung, weil sonst die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen wäre.
Es liegt auf der Hand, dass der Memoirenband für Zeitgeschichtler von besonderem Interesse ist. Aber sogar jenen, die mehr an Klatsch und Tratsch interessiert sind, bietet das Buch eine kurzweilige Lektüre. Ein alter Mann schaut zurück, staunt und wundert sich - und sieht, dass (fast) alles gut war. Es nagen keine Zweifel an seiner Bilanz; ab und zu huscht ein Hauch Selbstironie durch die Seiten. So berichtet er stolz über die familienpolitischen Taten seiner Regierung, welche die „Geburtenentwicklung fördern” sollten. Leider, notiert er lakonisch, „blieb der erhoffte Erfolg weitgehend aus.” Oder er erinnert sich an einen Regierungssprecher, der ihm abhanden kam („er hatte ein steuerrechtliches Ermittlungsverfahren am Hals”), kaum dass Kohl sich „richtig an ihn gewöhnt” hatte. Es ist Lektor und Verlag zu danken, dass sie solche Passagen von unfreiwilliger Komik nicht glatt gebügelt haben. So behält das Buch seinen authentischen Charakter.
Umsichtig und souverän
Das Buch endet mit der deutschen Vereinigung. In bisher unbekannten Einblicken hinter die Kulissen des Einigungsprozesses liegt ohne Zweifel sein besonderer historischer Wert. Die langen, nie langweiligen Passagen zeigen das Bild eines Staatsmannes, der den Kairos, den historischen Moment, erkannte und ihn mit Klugheit, Kompetenz und Entschlossenheit nutzte. Es liest sich eindrucksvoll und spannend, wie umsichtig, souverän und trittsicher Kohl durch diese 329 Tage ging; wie er das „Doppelspiel” des französischen Präsidenten Mitterrand durchschaute und dessen Gegenwind in die Segel der deutschen Einheit umlenkte; wie er mit klaren Positionen, diplomatischem Geschick und als Virtuose persönlich-politischer Beziehungen die Unterstützung von Bush senior, Gorbatschow und Mitterrand gewann und die offene Ablehnung durch Margaret Thatcher konterte. Es sind diese Leistungen im Prozess der deutschen Einigung zusammen mit seinem Engagement für ein vereintes Europa, die Kohl seinen Platz in der Geschichte sichern.
Das Buch beginnt mit Kohls Wahl zum Kanzler am 1. Oktober 1982 - und der Fanfare von der „geistig-moralischen Erneuerung”, der das Land bedürfe. Kohl zählt arglos die Stichworte der damaligen Krisenrhetorik auf, die seine erste Regierungserklärung prägen: zerrüttete Staatsfinanzen, Wirtschaftsschwäche, Arbeitslosigkeit, Überdehnung des Sozialstaates, mehr Eigenverantwortung. Angela Merkel kann, wenn es dazu kommt, in ihrer Regierungserklärung Kohls erste intonieren, die Quelle verschweigen - und niemand wird es merken. Heute rätseln Wissenschaftler wie der Heidelberger Politologe Manfred G. Schmidt (in seinem brillanten Buch über die Geschichte der Sozialpolitik von 1982 bis 1989), wie sich diese unglaubliche Diskrepanz zwischen Kohls bombastischer Wende-Rhetorik und seiner pragmatischen Politik des „Weiter so” erklären lasse. Kohls „Erinnerungen” geben eine Antwort: Der Kanzler und sein Sozialminister hielten aus Instinkt und Überzeugung am Rheinischen Kapitalismus und an einem fürsorglichen Sozialstaat fest. Und so kam es, dass es anders als zur selben Zeit in den USA (Reagan) und in Großbritannien (Thatcher) in Deutschland zwar eine entsprechende Rhetorik, aber keine Wende gab.
Die allfälligen Anpassungsreformen stilisiert Kohl jetzt im Nachhinein zum Beginn der Reformära. Davon kann aber keine Rede sein: In der Sozial- und Gesellschaftspolitik hat Kohl die Geschäfte im Rahmen der bestehenden Strukturen weitergeführt. Das kann man anerkennen, weil der Sozialstaat den Menschen Sicherheit, Heimat und Wärme spendet. Man kann darin freilich auch den Beginn der verlorenen Jahre sehen, deren Erbe jetzt eine Politik nötig macht, die damals noch sanfter hätte ausfallen können.
Wenn Kohl sich in den „Erinnerungen” von Blüm distanziert, ihm wie auch Heiner Geißler vorwirft, sozialpolitisch „übers Ziel hinausgeschossen” zu sein, es sogar „politisch und persönlich einen schweren Fehler” nennt, Blüm sechzehn Jahre lang als Minister behalten zu haben, dann sind die Gründe dafür ganz woanders zu suchen: in einer versunkenen, aber für Kohl realen Welt, in der Ehrenwort, Lehen und Treueschwüre noch zählen. Blüm hat sich in der Spendenaffäre von ihm getrennt, weil Kohl sein „Ehrenwort” gegenüber anonymen Spendern über Recht und Gesetz stellt. Jetzt schlägt Kohl zurück; er will Blüm wie alle ehemaligen Gegner treffen: Späth und Geißler, Kiep und Biedenkopf, Süssmuth und Weizsäcker.
„Verrat war nie meine Sache.” So beginnt ein merkwürdiges Kapitel über den früheren Bundespräsidenten. Der Sinn wird ein paar Zeilen später deutlich: „Die Hand, die segnet, wird zuerst gebissen. Das ist eine wichtige Erfahrung in meinem Leben.” Kaum einer habe vom „System Kohl” so sehr profitiert - und kaum einer habe es so sehr kritisiert wie Richard von Weizsäcker: Kritik statt Dankbarkeit und nicht Huld gegen Treue. Demnach können „Abweichler” und „Umstürzler” nur niedere Motive haben. Es ist ein Muster, das immer wiederkehrt: die Moralisierung von Kritik und abweichendem Verhalten.
Doch wie kommt es, dass ein so großer Mann in so kleinen Karos denkt? Verbergen sich hinter der barocken Fassade vielleicht Angst und Unsicherheit? Zweimal war Kohl seinem politischen Ende nahe, und er spricht ganz offen darüber. Das eine Mal, Ende der siebziger Jahre, rettete ihn die gescheiterte Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß, das andere Mal die deutsche Einheit - und der ungarische Außenminister Gyula Horn: Pünktlich zum Presseabend des „Putsch-Parteitages” in Bremen am 10. September 1989 („Ich bat die ungarische Seite, das Ereignis bereits um 20 Uhr öffentlich zu machen”) verkündeten Horn und Hans-Dietrich Genscher die Nachricht von der Öffnung der ungarischen Grenze. Kohl konnte „mit großer Genugtuung”, wie er schreibt, Journalisten und den Parteitag informieren. Der Putsch war gescheitert.
Die Folgen seiner Feudalherrschaft über die CDU sollten sich noch entfalten. Die Partei schrumpfte zusammen, erst an Ideen, dann an Wählern. Helmut Kohl hat in den Jahren, die er hier beschreibt, die alte Bundesrepublik und die alte CDU repräsentiert wie kein anderer. Es ist noch nicht lange her, und doch sind es „Erinnerungen” an ein anderes Land.
Helmut Kohl, Erinnerungen 1982 - 1990, Droemer, 1152 Seiten, 29,90 Euro.
Der Autor leitete von 1973 bis 1983 die Planungsgruppe in der CDU-Bundesgeschäftsstelle. Heute lebt er als Publizist in Berlin.
Und es war alles gut: Zufrieden stellte Helmut Kohl am Mittwoch seinen Memoirenband vor.
Foto: dpa
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Der kleinkarierte König
„Verrat war nie meine Sache”: Im zweiten Teil seiner Erinnerungen rechnet Helmut Kohl mit jenen ab, die er für untreu hält
Von Warnfried Dettling
Der zweite Band der „Erinnerungen” von Helmut Kohl ist mit mehr als tausend Seiten nicht nur viel umfangreicher, sondern auch besser und wichtiger, lesbarer und unterhaltsamer als der erste, der vor eineinhalb Jahren erschien. Das liegt natürlich vor allem daran, dass Kohl die „aufregendsten Jahre” seines politischen Lebens beschreibt, 1982 bis 1990: Kanzlerschaft, Nachrüstung, Glasnost und Perestroika, ein „gescheiterter Putsch” gegen den CDU-Vorsitzenden, der Fall der Mauer. Den Nato-Doppelbeschluss gegen den Widerstand der Opposition und der Friedensbewegung hält Kohl „bis heute für das wichtigste Verdienst” seiner Regierung, weil sonst die Wiedervereinigung nicht möglich gewesen wäre.
Es liegt auf der Hand, dass der Memoirenband für Zeitgeschichtler von besonderem Interesse ist. Aber sogar jenen, die mehr an Klatsch und Tratsch interessiert sind, bietet das Buch eine kurzweilige Lektüre. Ein alter Mann schaut zurück, staunt und wundert sich - und sieht, dass (fast) alles gut war. Es nagen keine Zweifel an seiner Bilanz; ab und zu huscht ein Hauch Selbstironie durch die Seiten. So berichtet er stolz über die familienpolitischen Taten seiner Regierung, welche die „Geburtenentwicklung fördern” sollten. Leider, notiert er lakonisch, „blieb der erhoffte Erfolg weitgehend aus.” Oder er erinnert sich an einen Regierungssprecher, der ihm abhanden kam („er hatte ein steuerrechtliches Ermittlungsverfahren am Hals”), kaum dass Kohl sich „richtig an ihn gewöhnt” hatte. Es ist Lektor und Verlag zu danken, dass sie solche Passagen von unfreiwilliger Komik nicht glatt gebügelt haben. So behält das Buch seinen authentischen Charakter.
Umsichtig und souverän
Das Buch endet mit der deutschen Vereinigung. In bisher unbekannten Einblicken hinter die Kulissen des Einigungsprozesses liegt ohne Zweifel sein besonderer historischer Wert. Die langen, nie langweiligen Passagen zeigen das Bild eines Staatsmannes, der den Kairos, den historischen Moment, erkannte und ihn mit Klugheit, Kompetenz und Entschlossenheit nutzte. Es liest sich eindrucksvoll und spannend, wie umsichtig, souverän und trittsicher Kohl durch diese 329 Tage ging; wie er das „Doppelspiel” des französischen Präsidenten Mitterrand durchschaute und dessen Gegenwind in die Segel der deutschen Einheit umlenkte; wie er mit klaren Positionen, diplomatischem Geschick und als Virtuose persönlich-politischer Beziehungen die Unterstützung von Bush senior, Gorbatschow und Mitterrand gewann und die offene Ablehnung durch Margaret Thatcher konterte. Es sind diese Leistungen im Prozess der deutschen Einigung zusammen mit seinem Engagement für ein vereintes Europa, die Kohl seinen Platz in der Geschichte sichern.
Das Buch beginnt mit Kohls Wahl zum Kanzler am 1. Oktober 1982 - und der Fanfare von der „geistig-moralischen Erneuerung”, der das Land bedürfe. Kohl zählt arglos die Stichworte der damaligen Krisenrhetorik auf, die seine erste Regierungserklärung prägen: zerrüttete Staatsfinanzen, Wirtschaftsschwäche, Arbeitslosigkeit, Überdehnung des Sozialstaates, mehr Eigenverantwortung. Angela Merkel kann, wenn es dazu kommt, in ihrer Regierungserklärung Kohls erste intonieren, die Quelle verschweigen - und niemand wird es merken. Heute rätseln Wissenschaftler wie der Heidelberger Politologe Manfred G. Schmidt (in seinem brillanten Buch über die Geschichte der Sozialpolitik von 1982 bis 1989), wie sich diese unglaubliche Diskrepanz zwischen Kohls bombastischer Wende-Rhetorik und seiner pragmatischen Politik des „Weiter so” erklären lasse. Kohls „Erinnerungen” geben eine Antwort: Der Kanzler und sein Sozialminister hielten aus Instinkt und Überzeugung am Rheinischen Kapitalismus und an einem fürsorglichen Sozialstaat fest. Und so kam es, dass es anders als zur selben Zeit in den USA (Reagan) und in Großbritannien (Thatcher) in Deutschland zwar eine entsprechende Rhetorik, aber keine Wende gab.
Die allfälligen Anpassungsreformen stilisiert Kohl jetzt im Nachhinein zum Beginn der Reformära. Davon kann aber keine Rede sein: In der Sozial- und Gesellschaftspolitik hat Kohl die Geschäfte im Rahmen der bestehenden Strukturen weitergeführt. Das kann man anerkennen, weil der Sozialstaat den Menschen Sicherheit, Heimat und Wärme spendet. Man kann darin freilich auch den Beginn der verlorenen Jahre sehen, deren Erbe jetzt eine Politik nötig macht, die damals noch sanfter hätte ausfallen können.
Wenn Kohl sich in den „Erinnerungen” von Blüm distanziert, ihm wie auch Heiner Geißler vorwirft, sozialpolitisch „übers Ziel hinausgeschossen” zu sein, es sogar „politisch und persönlich einen schweren Fehler” nennt, Blüm sechzehn Jahre lang als Minister behalten zu haben, dann sind die Gründe dafür ganz woanders zu suchen: in einer versunkenen, aber für Kohl realen Welt, in der Ehrenwort, Lehen und Treueschwüre noch zählen. Blüm hat sich in der Spendenaffäre von ihm getrennt, weil Kohl sein „Ehrenwort” gegenüber anonymen Spendern über Recht und Gesetz stellt. Jetzt schlägt Kohl zurück; er will Blüm wie alle ehemaligen Gegner treffen: Späth und Geißler, Kiep und Biedenkopf, Süssmuth und Weizsäcker.
„Verrat war nie meine Sache.” So beginnt ein merkwürdiges Kapitel über den früheren Bundespräsidenten. Der Sinn wird ein paar Zeilen später deutlich: „Die Hand, die segnet, wird zuerst gebissen. Das ist eine wichtige Erfahrung in meinem Leben.” Kaum einer habe vom „System Kohl” so sehr profitiert - und kaum einer habe es so sehr kritisiert wie Richard von Weizsäcker: Kritik statt Dankbarkeit und nicht Huld gegen Treue. Demnach können „Abweichler” und „Umstürzler” nur niedere Motive haben. Es ist ein Muster, das immer wiederkehrt: die Moralisierung von Kritik und abweichendem Verhalten.
Doch wie kommt es, dass ein so großer Mann in so kleinen Karos denkt? Verbergen sich hinter der barocken Fassade vielleicht Angst und Unsicherheit? Zweimal war Kohl seinem politischen Ende nahe, und er spricht ganz offen darüber. Das eine Mal, Ende der siebziger Jahre, rettete ihn die gescheiterte Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß, das andere Mal die deutsche Einheit - und der ungarische Außenminister Gyula Horn: Pünktlich zum Presseabend des „Putsch-Parteitages” in Bremen am 10. September 1989 („Ich bat die ungarische Seite, das Ereignis bereits um 20 Uhr öffentlich zu machen”) verkündeten Horn und Hans-Dietrich Genscher die Nachricht von der Öffnung der ungarischen Grenze. Kohl konnte „mit großer Genugtuung”, wie er schreibt, Journalisten und den Parteitag informieren. Der Putsch war gescheitert.
Die Folgen seiner Feudalherrschaft über die CDU sollten sich noch entfalten. Die Partei schrumpfte zusammen, erst an Ideen, dann an Wählern. Helmut Kohl hat in den Jahren, die er hier beschreibt, die alte Bundesrepublik und die alte CDU repräsentiert wie kein anderer. Es ist noch nicht lange her, und doch sind es „Erinnerungen” an ein anderes Land.
Helmut Kohl, Erinnerungen 1982 - 1990, Droemer, 1152 Seiten, 29,90 Euro.
Der Autor leitete von 1973 bis 1983 die Planungsgruppe in der CDU-Bundesgeschäftsstelle. Heute lebt er als Publizist in Berlin.
Und es war alles gut: Zufrieden stellte Helmut Kohl am Mittwoch seinen Memoirenband vor.
Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2004Der Aufstieg zum Leitwolf
Von der Wiege bis zur Bundeskanzlerwahl: Helmut Kohl legt den ersten Band seiner Erinnerungen vor / Von Hans-Peter Schwarz
Ein Foto sagt oft mehr als tausend Worte. Im Feuilleton dieser Zeitung war er vor kurzem zu bestaunen: Helmut Kohl at the end of the day. Man sieht ihn im Keller seines Wohnhauses zu Ludwigshafen-Oggersheim sitzen, nach Abschluß der Arbeiten am ersten Memoirenband - massig die Gestalt, eine Gesichtslandschaft, in die sich das Leben eingegraben hat, leicht mürrisch das Mienenspiel, doch immer noch voll gesammelter, den Betrachter ausblendender Konzentration. Konrad Adenauer hat einstmals in gleicher Lage seufzend das Wort "Memoiren-Fron" geprägt. Es gibt keine bessere Illustration dafür als dieses Foto. Somit fragt man sich wieder einmal, was eigentlich Bundeskanzler, Präsidenten oder Premierminister - kaum daß sie das gräßlich angespannte Leben in höchsten Ämtern endlich hinter sich haben - veranlaßt, wiederum in Aktenbergen zu wühlen, gewaltige Mengen von Tonbandstoff zu diktieren und von ungenannt bleibenden Ghostwritern teilweise erste Fassungen verfertigen zu lassen, um letzten Endes Kapitel um Kapitel selbstverantwortlich in die gewünschte Form zu gießen?
Eine erste Antwort gibt Kohl selbst. Er will, so schreibt er im Vorwort, die bereits im Umlauf befindlichen "Clichés" über seinen Werdegang und die Regierungsarbeit korrigieren. Selbstbewußt vertraut er darauf, daß die Nachwelt in 100 oder 200 Jahren kaum mehr kritisch mäkelnde Biographien studieren wird, wohl aber begierig sein mag, die von der großen Geschichtsgestalt selbst als authentisch festgehaltene Wahrheit kennenzulernen. Wie viele zeitgeschichtliche Größen sagt auch er sich also: "Wer schreibt, bleibt!" Daß Kohl diesen Memoirenband zugleich als ein Denkmal stiller Trauer verfaßt hat, ist aus der Widmung und auf vielen Seiten des Buchs zu erkennen - Gedenken an die verstorbene Frau, aber auch an die Eltern. Und natürlich ist so ein Band über die eigenen Anfangsjahrzehnte immer auch ein Gedenkbuch an jene Jahre, in denen man noch voll von überströmendem Elan, voller Unbedenklichkeit und voll unerfüllter Hoffnungen gewesen ist. Ein weiteres Motiv war offenkundig das Pflichtgefühl eines Mannes von ziemlich beispielloser physischer und psychischer Kraft, der 43 lange Jahre als Parlamentarier meist rund um die Uhr tätig war und noch viel länger erst im Dienst der CDU, dann als deren harter Herr. "Kärrnerarbeit und eiserner Wille", schreibt er schon beim Blick auf die Anfänge in Rheinland-Pfalz, seien vonnöten gewesen. Wer so wie er ein halbes Jahrhundert lang als Landespolitiker, als Oppositionsführer und 16 Jahre im Amt des Bundeskanzlers einen großen Teil bundesdeutscher Geschichte mitgestaltete, hat in der Tat nicht nur das Recht, sondern gegenüber der Öffentlichkeit fast eine Bringschuld zum autobiographischen Rückblick. Man braucht nicht wie Kohl promovierter Historiker sein, um das zu wissen.
Wie immer es sich auch mit seinen gemischten Motiven verhalten haben mag, entstanden ist jedenfalls ein in jeder Hinsicht einzigartiger Memoirenband. Das zeigt schon der Vergleich mit den Memoiren vorhergehender Bundeskanzler. Einige von diesen, Adenauer zuvörderst, haben sich dabei auf den Bericht über besonders wichtige Vorgänge der Kanzlerjahre konzentriert. Die Jugendjahre und der Weg zur Spitze blieben meist ausgeblendet oder wurden - wie bei Willy Brandt - irgendwie und etwas verlegen dazwischengepackt. Helmut Kohl, der alles in allem eher liberal regierte, aber stets den traditionellen Lebenszuschnitt schätzte, verhält sich auch darin konservativ. Er hat sich deshalb entschlossen, sein Leben - wie sich das eigentlich bei Autobiographien gehört - der Reihe nach zu erzählen: familiäres Umfeld, Kriegsjahre, Nachkriegszeit und ein nicht zu bremsender Aufstieg bis zum Wahltag am 6. März 1983, "der der bedeutsamste in meinem politischen Leben war". Carl Jacob Burckhardt hat dieses Konzept einmal in einem Brief an Theodor Heuss mit den folgenden Worten beschrieben: "Bei einem in die Geschichte eingegangenen Leben sind Gestalt des Autors, sein Herkommen, seine Voraussetzungen, seine Entscheide, seine Erfahrungen und Erlebnisse, sind die von außen auf ihn einwirkenden Ereignisse gleichermaßen wichtig." Das könnte auch auf Helmut Kohls Erinnerungen gemünzt sein, der - wie immer man sein Werk beurteilt - über lange Jahre hinweg für die Bundesrepublik eine Schicksalsgestalt geworden ist.
Die Komposition des Buches ist geglückt. Der schon für die Anfänge ziemlich uferlose Stoff wurde in 79 kurze, pointierte Kapitel gegliedert. Packende Kurzüberschriften machen dem Leser Appetit. Der Scheinwerfer des Interesses richtet sich dabei auf den Lebensweg Kohls, auf die schon zeitgenössisch oft umstrittenen Vorgänge, auf die Mitspieler und Gegenspieler des Lebensdramas, auf das, was der Autor als seine wichtigsten Motive hervorheben möchte. Zusammenfassende Ausblicke auf die Geschichte der Bundesrepublik, auf den Kalten Krieg in Deutschland oder auf die weltpolitische Lage, manche nicht ganz so zwingend formuliert wie der eigentliche Lebensbericht, sind vielfach an die einzelnen Kapitel angehängt oder als eigene Kapitel eingeblendet. Auch die Einbeziehung der Kurzkapitel in vier umfassende Teile ist rundum geglückt: I. Wurzeln und Prägungen (1930-1959), II. Landespolitiker in Rheinland-Pfalz (1959-1969), III. Ministerpräsident in Mainz (1969-1976), IV. Oppositionsführer in Bonn (1976-1982).
Kohl schreibt einen schnörkellosen Sachstil. Anekdoten werden eingestreut, aber eher sparsam. Es dominiert die Schilderung der jeweils wesentlichen Entscheidungen, vieles recht detailliert, anderes mehr im pauschalen Drüber-hinweg-Gleiten. Bemerkenswert dicht und niveauvoll ist die Reflexion zu den eigenen Motiven. Daß zeitgenössische Journalisten oder Gegner hier einhaken werden, weil sie manches anders und vieles kritischer sehen, versteht sich. Um so anerkennenswerter, wie sich Kohl hier selbstbewußt exponiert, wohl wissend, daß er nach dem Abschied von allen Ämtern weiterhin wie gewohnt in einem Haifischbecken umherschwimmt. Viele haben ihn in Erinnerung, wie er in kleinerem Kreis temperamentvoll, oft nur in vernichtenden Halbsätzen, bald genüßlich, bald mit einer Ironie, die manchmal den Haß nicht ganz verbarg, über seine innerparteilichen Gegner oder über die Größen der Opposition loszog. Im Vergleich damit wirken die hier eingestreuten Charakteristiken derer bemerkenswert gedämpft, die ihm entgegentraten oder länger mit ihm zusammenarbeiteten, um dann abzufallen und verstoßen zu werden. Altersweisheit? Fairneß? Niemals ruhende Vorsicht? Er zeigt sich jedenfalls bemüht, die Altmeier, Barzel, Biedenkopf, Geißler, Weizsäcker, Strauß und wie sie alle heißen durchweg aus einstmals zeitgenössischer Perspektive unvoreingenommen zu bewerten und ihre Leistungen anzuerkennen. Wo sein eigener Machtwille mit dem anderer zusammenstieß, räumt er die Tatsache des Machtkampfes durchaus ein und erläutert wie ein guter Sportreporter die kampfentscheidenden Judogriffe, dabei gelegentlich hinzufügend, "die Chemie" habe eben nicht gestimmt.
Unversöhnlich grimmig erweist er sich schon in diesem ersten Band der Memoiren vorzugsweise zwei Personen gegenüber: Johannes Rau und Richard von Weizsäcker. Ersterer habe 1980 in Nordrhein-Westfalen "die schmutzigste Wahlschlacht geführt, die ich je erleben mußte", indem er "den blanken Haß" geschürt habe. Letzterem kreidet er an, er habe ihn mehr oder weniger ausschlaggebend in alle seine politischen Ämter gehievt, um zum Dank dafür mit Schelte gegen das "System Kohl" bedient worden zu sein. Überhaupt vergißt dieser übergroße Patron der CDU selten den Hinweis, dieser oder jener - Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, auch Rainer Barzel als Bundestagspräsident - hätten das eine oder andere schöne Amt letztlich ihm zu verdanken.
Eine gewisse Selbstkritik, die man in den Jahrzehnten seiner Macht eher selten vernahm, ist nun da oder dort durchaus zu lesen. Ja, nicht ganz zu Unrecht habe man ihm in den Anfängen im Pfälzer Landtag "hinter vorgehaltener Hand" vorgeworfen, er sei "frech", "vorlaut" und "eigensinnig", außerdem auch "zu liberal in manchen weltanschaulichen Fragen". Und beim Rückblick auf seinen mißglückten Versuch, den diskussionsfreudigen Mainzer Führungsstil auf die CDU/CSU-Fraktion in Bonn zu übertragen, kommen ihm im nachhinein selbst die Zweifel: "Mögen andere darüber urteilen." Karl Carstens, der vom Rezensenten im Jahr 1974 gelegentlich auf ähnliche Erfahrungen mit der Fraktion angesprochen wurde, antwortete nach kurzer Überlegung: "Das sind alles Raubtiere." Auch Kohl hatte im Mainzer Landtag seine Karriere als junges Raubtier begonnen. Das Milieu, dem er entstammt, war so unspektakulär wie das der meisten unserer heutigen Spitzenpolitiker. Was Johannes Gross einstmals über ihn schrieb, läßt sich im vorliegenden Memoirenband im einzelnen verifizieren: "Kohl und seine Freunde kommen nicht aus der Arbeiterschaft und nicht aus der Großbourgeoisie, sondern rekrutieren sich aus dem strebsamen Aufsteigermilieu der Beamten-, der Kleinbürgerschaft, die überhaupt den Führungstypus der Nachkriegsgesellschaft stellt, in der Patrizier kaum vorkommen, sondern homines novi."
Damals, im guten alten, auch schon leicht korrupten Rheinland-Pfalz der frühen sechziger Jahre, stieß der ungebärdige Nachwuchs auf eine Schicht älterer Politiker, die 1945 im besten Alter begonnen hatten, inzwischen aber ergraut und verbonzt waren. Kohl hat seinen innerparteilichen Aufstieg als der Leitwolf im innerparteilichen Generationskonflikt vollzogen. Damit verband sich eine weltanschauliche Präferenz, die bei einer Gesamtwürdigung nicht vergessen werden darf. Zwar klebten ihm die SPD und zu seinem Kummer Teile der FDP später das Etikett des Konservativen auf. Tatsächlich repräsentierte Kohl den liberalen, pragmatischen, zum Zeitgeist der späten sechziger und der frühen siebziger Jahre demonstrativ, aber dann doch wieder vorsichtig, jedenfalls prinzipiell offenen Parteiflügel. Seinen Weg zur Spitze machte er als energischer Reformer, auch wenn er später, als er niemanden mehr über sich hatte und als die Reformwelle abgerauscht war, von allzu kühnem Reformieren nicht mehr viel wissen wollte.
Interessanter als die längst vergangenen Machtkämpfe sind die bei Lektüre dieser Erinnerungen zu gewinnenden Einblicke in die institutionellen Mechanismen, nach denen die politischen Uhren der Bundesrepublik bis zum heutigen Tag ticken. Manche Kritiker haben Kohl häufig vorgeworfen, er personifiziere geradezu den Triumph des Parteibosses über den Geist der parlamentarischen Demokratie. Das ist allerdings eine einseitige Sicht der Dinge. In Wirklichkeit zeigt gerade diese Autobiographie, wie er Erfolg hatte, weil er beide Rollen gleichzeitig miteinander zu verbinden verstand: die des bald maßgeblichen Parlamentariers und die des Parteiführers, in dem die Parteiaktivisten und Parteifunktionäre Fleisch von ihrem Fleisch erkannten. In beiden Funktionen war er übrigens ein nimmermüder Wahlkämpfer. Aus der Tatsache, daß er fast ein halbes Jahrhundert hindurch seine Erfolge immer wieder in Wahlschlachten errang, resultierte zugleich die selbstbewußte Arroganz, mit der er den ihm mehrheitlich ablehnend gesinnten Journalisten, aber auch Kritikern aus der Wirtschaft oder aus dem akademischen Bereich entgegentrat, von denen die meisten nie nur den Versuch gemacht hatten, ein öffentliches Mandat zu erringen. Dabei vergaß der beim innerparteilichen Integrieren unübertroffene und im Koalitionsgeschäft ausgebuffte Kohl keinen Augenblick, daß es letztlich Individuen sind - Hunderte sowohl ehrgeiziger als auch begeisterungsfähiger Amtsträger -, die unablässig karessiert, gefördert, bedroht, überredet und auf Linie gebracht werden müssen. In seinen besten Jahren war er ein psychologisch hochbegabter Menschenführer, ganz und gar kein Bürokrat oder Technokrat.
Aus den Memoiren wird deutlich, wie er im Rückblick seine Mainzer Jahre als die vielleicht befriedigendste Phase seines Politikerlebens begreift. In Mainz konnte Kohl reformerisch gestalten, seine rheinland-pfälzische CDU als Modell für eine modernisierte Bundes-CDU aufbauen und - jüngster Ministerpräsident, der er war - den Sprung an die Spitze vorbereiten. Entsprechend dicht konzipiert und überzeugend geschrieben ist die Darstellung dieser Jahre. Anders die daran anschließende Periode von 1976 bis 1982, als der Oppositionsführer Kohl in Bonn gegen tausend Widrigkeiten ankämpfte. Man wußte es zwar schon immer, kann es aber nun in den Erinnerungen nachlesen, daß das die wohl unerfreulichste Phase seines später gleichfalls an Unerfreulichkeiten nicht armen Politikerlebens gewesen ist. Rheinland-Pfalz kannte dieser "Konkretist" wie seine Hosentasche, doch die Alltagsrealität der CDU/CSU-Fraktion - "lauter Raubtiere" - nur vom Hörensagen.
Während er nach dem Ausscheiden von Peter Altmeier in Mainz keinen Rivalen mehr hatte, fanden sich in Bonn in Partei und Fraktion ein halbes Dutzend selbstbewußte Granden, einige von ihnen mit eindrucksvoller eigener Machtbasis in den Ländern: Alfred Dregger, Karl Carstens, Hans Filbinger, Gerhard Stoltenberg, bald auch Ernst Albrecht, vor allem aber Franz Josef Strauß. Dazu kamen der formidable Kanzler Helmut Schmidt, der den Nichtökonomen Kohl von oben herab behandelte, sowie das insgesamt wenig Kohl-freundliche Bonner Pressecorps und vor allem die Hamburger Blätter, die ihn offen verhöhnten. Jahrelang mußte Kohl im Bonner Milieu befürchten, ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie viel später der gleichfalls aus Mainz kommende Rudolf Scharping. Teil IV der Memoiren, "Oppositionsführer in Bonn", wirkt dementsprechend etwas gequält und ist darstellerisch nicht so schön geglückt wie die Teile über den Aufstieg in Rheinland-Pfalz. Die Überschrift könnte auch lauten: "Überlebenskampf gegen Franz Josef Strauß".
Naturgemäß sind die Schilderung und die rückblickende Verarbeitung dieser Vorgänge aus subjektivem Blickwinkel geschrieben. Wie könnte das auch anders sein! Kohl ist sichtlich um eine einigermaßen faire Darstellung der vielen Kräche in jener Phase brüderlicher Unionsgeschichte bemüht. Der breit erörterte Kreuther Trennungsbeschluß von 1976 und das folgende Fingerhakeln mit Strauß würden heute freilich nur noch Kohl selbst und ein paar Historiker interessieren, wäre die endemische Spannung zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU nicht bis zum heutigen Tage ein Dauerthema deutscher Innenpolitik. Jedenfalls macht er kein Hehl aus seinen Gefühlen, wenn er auf "die Eiseskälte" zu sprechen kommt, "die um so mehr zunahm, je höhere Ämter ich erlangte". Spätestens seit diesem lange unentschiedenen Machtkampf hat sich jener Grundzug nie ruhenden Mißtrauens, gekoppelt mit einem Elefantengedächtnis für Verrat und Illoyalität, stark bei ihm ausgeprägt, wofür er bald berühmt war, wovon die Erinnerungen aber nur sehr gedämpft Kunde geben.
Neben beiderseitigem Ehrgeiz lag den Zwistigkeiten mit Strauß eine in der Tat grundlegende Meinungsverschiedenheit über die richtige Oppositionsstrategie zugrunde. Strauß wollte die FDP, aus der heraus er zunehmend als unsteuerbares Sicherheitsrisiko verunglimpft wurde, irgendwie aus dem Spiel stoßen, am liebsten politisch vernichten. Kohl pflegte demgegenüber seit seinen Mainzer Anfängen ein gutes Verhältnis zu den Freien Demokraten, unterhielt auch verschiedenste Duzfreundschaften mit Politikern dieses Lagers. Ganz besonders stimmt offenbar die Chemie zwischen ihm und Hans-Dietrich Genscher, dem er in den Schlußsätzen des Memoirenbandes mit freundlichstem Augurenlächeln zublinzelt. Anders als Strauß war er durchgehend fest davon überzeugt, die Union könne nur im Bündnis mit der FDP wieder an die Macht zurückfinden und sich nur so der kritischen Meinungsmedien erwehren. Dieser Ansicht ist er übrigens bis heute und sieht darin eine der aktuellen Botschaften seiner Memoiren. Eine andere Botschaft, wen wundert's, ist natürlich Europa sowie die Versöhnung mit Frankreich. Uneingeschränkt räumt er hier ein, worauf er aus war und immer noch aus ist: "weiterzugehen auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat". Zugleich bezeichnet er es als sein damaliges und heutiges Credo, die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik müsse auf "zwei gleichwertigen Säulen" ruhen: "der europäischen Einigung und der transatlantischen Brücke".
Wer in diesen Erinnerungen nach Aufschlüssen über Kohls deutschlandpolitische Zielvorstellungen sucht, stößt gleichfalls auf wohlbekannte Ideen, die geboten unscharf formuliert sind. Denn nicht zuletzt die flexibel-unscharfe Programmatik war es, mit der er paradoxerweise innen- und außenpolitisch Erfolg hatte. Unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts und in Würdigung der weitverbreiteten Ängste vor neuem deutschem Nationalismus liege - so lesen wir - dem politischen Verständnis von der Einheit der Nation "nicht der Primat der territorialen Einheit" zugrunde, "sondern der Primat der Freiheit" - Freiheit also vor nationaler Einheit. Adenauers luftige Vorstellungen von einer Österreich-Lösung für das geteilte Deutschland haben ihn anscheinend beeindruckt. Ob und von welchem Zeitpunkt an Kohl erkannt hat, daß sich beim ersten Auflodern der Freiheit in der DDR alsbald die Frage des deutschen Nationalstaates erneut stellen würde, mag er uns vielleicht im nächsten Band dokumentieren.
Insgesamt verbleiben die außen- und deutschlandpolitischen Kapitel des Erinnerungsbandes stark im Allgemeinen. Dafür sind die Darstellungen und Reflexionen zur Innenpolitik - anders als in Adenauers Memoiren - so "süffig", um das auf gut badisch zu formulieren, daß man die etwas verwaschenen Ausführungen zur Außen-, Sicherheits- und Europapolitik gerne in Kauf nimmt - in der Hoffnung, daß Kohl im zweiten Memoirenband entsprechend nachlegt. Der darstellerisch schwierigste Teil des Erinnerungswerkes bleibt noch zu schreiben. Niemandem ist es bisher gelungen, sich 16 lange Jahre als Bundeskanzler im Sattel zu halten - eine im nachhinein kaum glaubliche Leistung. Und niemand sah sich bisher so wie Helmut Kohl mit der Aufgabe konfrontiert, nach dem geglückten Auftakt noch die ereignisprallen Vorgänge, Beobachtungen und Gestalten der Kanzlerjahre in ein Buch zu bannen, das bleibt. Man darf respektvoll viel Kraft zur Arbeit an dem Folgeband wünschen, nicht zuletzt den eingangs erwähnten "eisernen Willen". An geneigten Lesern wird es nicht fehlen.
Helmut Kohl: "Erinnerungen 1930-1982". Droemer Verlag, München 2004. 684 S., 28,- [Euro].
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Von der Wiege bis zur Bundeskanzlerwahl: Helmut Kohl legt den ersten Band seiner Erinnerungen vor / Von Hans-Peter Schwarz
Ein Foto sagt oft mehr als tausend Worte. Im Feuilleton dieser Zeitung war er vor kurzem zu bestaunen: Helmut Kohl at the end of the day. Man sieht ihn im Keller seines Wohnhauses zu Ludwigshafen-Oggersheim sitzen, nach Abschluß der Arbeiten am ersten Memoirenband - massig die Gestalt, eine Gesichtslandschaft, in die sich das Leben eingegraben hat, leicht mürrisch das Mienenspiel, doch immer noch voll gesammelter, den Betrachter ausblendender Konzentration. Konrad Adenauer hat einstmals in gleicher Lage seufzend das Wort "Memoiren-Fron" geprägt. Es gibt keine bessere Illustration dafür als dieses Foto. Somit fragt man sich wieder einmal, was eigentlich Bundeskanzler, Präsidenten oder Premierminister - kaum daß sie das gräßlich angespannte Leben in höchsten Ämtern endlich hinter sich haben - veranlaßt, wiederum in Aktenbergen zu wühlen, gewaltige Mengen von Tonbandstoff zu diktieren und von ungenannt bleibenden Ghostwritern teilweise erste Fassungen verfertigen zu lassen, um letzten Endes Kapitel um Kapitel selbstverantwortlich in die gewünschte Form zu gießen?
Eine erste Antwort gibt Kohl selbst. Er will, so schreibt er im Vorwort, die bereits im Umlauf befindlichen "Clichés" über seinen Werdegang und die Regierungsarbeit korrigieren. Selbstbewußt vertraut er darauf, daß die Nachwelt in 100 oder 200 Jahren kaum mehr kritisch mäkelnde Biographien studieren wird, wohl aber begierig sein mag, die von der großen Geschichtsgestalt selbst als authentisch festgehaltene Wahrheit kennenzulernen. Wie viele zeitgeschichtliche Größen sagt auch er sich also: "Wer schreibt, bleibt!" Daß Kohl diesen Memoirenband zugleich als ein Denkmal stiller Trauer verfaßt hat, ist aus der Widmung und auf vielen Seiten des Buchs zu erkennen - Gedenken an die verstorbene Frau, aber auch an die Eltern. Und natürlich ist so ein Band über die eigenen Anfangsjahrzehnte immer auch ein Gedenkbuch an jene Jahre, in denen man noch voll von überströmendem Elan, voller Unbedenklichkeit und voll unerfüllter Hoffnungen gewesen ist. Ein weiteres Motiv war offenkundig das Pflichtgefühl eines Mannes von ziemlich beispielloser physischer und psychischer Kraft, der 43 lange Jahre als Parlamentarier meist rund um die Uhr tätig war und noch viel länger erst im Dienst der CDU, dann als deren harter Herr. "Kärrnerarbeit und eiserner Wille", schreibt er schon beim Blick auf die Anfänge in Rheinland-Pfalz, seien vonnöten gewesen. Wer so wie er ein halbes Jahrhundert lang als Landespolitiker, als Oppositionsführer und 16 Jahre im Amt des Bundeskanzlers einen großen Teil bundesdeutscher Geschichte mitgestaltete, hat in der Tat nicht nur das Recht, sondern gegenüber der Öffentlichkeit fast eine Bringschuld zum autobiographischen Rückblick. Man braucht nicht wie Kohl promovierter Historiker sein, um das zu wissen.
Wie immer es sich auch mit seinen gemischten Motiven verhalten haben mag, entstanden ist jedenfalls ein in jeder Hinsicht einzigartiger Memoirenband. Das zeigt schon der Vergleich mit den Memoiren vorhergehender Bundeskanzler. Einige von diesen, Adenauer zuvörderst, haben sich dabei auf den Bericht über besonders wichtige Vorgänge der Kanzlerjahre konzentriert. Die Jugendjahre und der Weg zur Spitze blieben meist ausgeblendet oder wurden - wie bei Willy Brandt - irgendwie und etwas verlegen dazwischengepackt. Helmut Kohl, der alles in allem eher liberal regierte, aber stets den traditionellen Lebenszuschnitt schätzte, verhält sich auch darin konservativ. Er hat sich deshalb entschlossen, sein Leben - wie sich das eigentlich bei Autobiographien gehört - der Reihe nach zu erzählen: familiäres Umfeld, Kriegsjahre, Nachkriegszeit und ein nicht zu bremsender Aufstieg bis zum Wahltag am 6. März 1983, "der der bedeutsamste in meinem politischen Leben war". Carl Jacob Burckhardt hat dieses Konzept einmal in einem Brief an Theodor Heuss mit den folgenden Worten beschrieben: "Bei einem in die Geschichte eingegangenen Leben sind Gestalt des Autors, sein Herkommen, seine Voraussetzungen, seine Entscheide, seine Erfahrungen und Erlebnisse, sind die von außen auf ihn einwirkenden Ereignisse gleichermaßen wichtig." Das könnte auch auf Helmut Kohls Erinnerungen gemünzt sein, der - wie immer man sein Werk beurteilt - über lange Jahre hinweg für die Bundesrepublik eine Schicksalsgestalt geworden ist.
Die Komposition des Buches ist geglückt. Der schon für die Anfänge ziemlich uferlose Stoff wurde in 79 kurze, pointierte Kapitel gegliedert. Packende Kurzüberschriften machen dem Leser Appetit. Der Scheinwerfer des Interesses richtet sich dabei auf den Lebensweg Kohls, auf die schon zeitgenössisch oft umstrittenen Vorgänge, auf die Mitspieler und Gegenspieler des Lebensdramas, auf das, was der Autor als seine wichtigsten Motive hervorheben möchte. Zusammenfassende Ausblicke auf die Geschichte der Bundesrepublik, auf den Kalten Krieg in Deutschland oder auf die weltpolitische Lage, manche nicht ganz so zwingend formuliert wie der eigentliche Lebensbericht, sind vielfach an die einzelnen Kapitel angehängt oder als eigene Kapitel eingeblendet. Auch die Einbeziehung der Kurzkapitel in vier umfassende Teile ist rundum geglückt: I. Wurzeln und Prägungen (1930-1959), II. Landespolitiker in Rheinland-Pfalz (1959-1969), III. Ministerpräsident in Mainz (1969-1976), IV. Oppositionsführer in Bonn (1976-1982).
Kohl schreibt einen schnörkellosen Sachstil. Anekdoten werden eingestreut, aber eher sparsam. Es dominiert die Schilderung der jeweils wesentlichen Entscheidungen, vieles recht detailliert, anderes mehr im pauschalen Drüber-hinweg-Gleiten. Bemerkenswert dicht und niveauvoll ist die Reflexion zu den eigenen Motiven. Daß zeitgenössische Journalisten oder Gegner hier einhaken werden, weil sie manches anders und vieles kritischer sehen, versteht sich. Um so anerkennenswerter, wie sich Kohl hier selbstbewußt exponiert, wohl wissend, daß er nach dem Abschied von allen Ämtern weiterhin wie gewohnt in einem Haifischbecken umherschwimmt. Viele haben ihn in Erinnerung, wie er in kleinerem Kreis temperamentvoll, oft nur in vernichtenden Halbsätzen, bald genüßlich, bald mit einer Ironie, die manchmal den Haß nicht ganz verbarg, über seine innerparteilichen Gegner oder über die Größen der Opposition loszog. Im Vergleich damit wirken die hier eingestreuten Charakteristiken derer bemerkenswert gedämpft, die ihm entgegentraten oder länger mit ihm zusammenarbeiteten, um dann abzufallen und verstoßen zu werden. Altersweisheit? Fairneß? Niemals ruhende Vorsicht? Er zeigt sich jedenfalls bemüht, die Altmeier, Barzel, Biedenkopf, Geißler, Weizsäcker, Strauß und wie sie alle heißen durchweg aus einstmals zeitgenössischer Perspektive unvoreingenommen zu bewerten und ihre Leistungen anzuerkennen. Wo sein eigener Machtwille mit dem anderer zusammenstieß, räumt er die Tatsache des Machtkampfes durchaus ein und erläutert wie ein guter Sportreporter die kampfentscheidenden Judogriffe, dabei gelegentlich hinzufügend, "die Chemie" habe eben nicht gestimmt.
Unversöhnlich grimmig erweist er sich schon in diesem ersten Band der Memoiren vorzugsweise zwei Personen gegenüber: Johannes Rau und Richard von Weizsäcker. Ersterer habe 1980 in Nordrhein-Westfalen "die schmutzigste Wahlschlacht geführt, die ich je erleben mußte", indem er "den blanken Haß" geschürt habe. Letzterem kreidet er an, er habe ihn mehr oder weniger ausschlaggebend in alle seine politischen Ämter gehievt, um zum Dank dafür mit Schelte gegen das "System Kohl" bedient worden zu sein. Überhaupt vergißt dieser übergroße Patron der CDU selten den Hinweis, dieser oder jener - Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, auch Rainer Barzel als Bundestagspräsident - hätten das eine oder andere schöne Amt letztlich ihm zu verdanken.
Eine gewisse Selbstkritik, die man in den Jahrzehnten seiner Macht eher selten vernahm, ist nun da oder dort durchaus zu lesen. Ja, nicht ganz zu Unrecht habe man ihm in den Anfängen im Pfälzer Landtag "hinter vorgehaltener Hand" vorgeworfen, er sei "frech", "vorlaut" und "eigensinnig", außerdem auch "zu liberal in manchen weltanschaulichen Fragen". Und beim Rückblick auf seinen mißglückten Versuch, den diskussionsfreudigen Mainzer Führungsstil auf die CDU/CSU-Fraktion in Bonn zu übertragen, kommen ihm im nachhinein selbst die Zweifel: "Mögen andere darüber urteilen." Karl Carstens, der vom Rezensenten im Jahr 1974 gelegentlich auf ähnliche Erfahrungen mit der Fraktion angesprochen wurde, antwortete nach kurzer Überlegung: "Das sind alles Raubtiere." Auch Kohl hatte im Mainzer Landtag seine Karriere als junges Raubtier begonnen. Das Milieu, dem er entstammt, war so unspektakulär wie das der meisten unserer heutigen Spitzenpolitiker. Was Johannes Gross einstmals über ihn schrieb, läßt sich im vorliegenden Memoirenband im einzelnen verifizieren: "Kohl und seine Freunde kommen nicht aus der Arbeiterschaft und nicht aus der Großbourgeoisie, sondern rekrutieren sich aus dem strebsamen Aufsteigermilieu der Beamten-, der Kleinbürgerschaft, die überhaupt den Führungstypus der Nachkriegsgesellschaft stellt, in der Patrizier kaum vorkommen, sondern homines novi."
Damals, im guten alten, auch schon leicht korrupten Rheinland-Pfalz der frühen sechziger Jahre, stieß der ungebärdige Nachwuchs auf eine Schicht älterer Politiker, die 1945 im besten Alter begonnen hatten, inzwischen aber ergraut und verbonzt waren. Kohl hat seinen innerparteilichen Aufstieg als der Leitwolf im innerparteilichen Generationskonflikt vollzogen. Damit verband sich eine weltanschauliche Präferenz, die bei einer Gesamtwürdigung nicht vergessen werden darf. Zwar klebten ihm die SPD und zu seinem Kummer Teile der FDP später das Etikett des Konservativen auf. Tatsächlich repräsentierte Kohl den liberalen, pragmatischen, zum Zeitgeist der späten sechziger und der frühen siebziger Jahre demonstrativ, aber dann doch wieder vorsichtig, jedenfalls prinzipiell offenen Parteiflügel. Seinen Weg zur Spitze machte er als energischer Reformer, auch wenn er später, als er niemanden mehr über sich hatte und als die Reformwelle abgerauscht war, von allzu kühnem Reformieren nicht mehr viel wissen wollte.
Interessanter als die längst vergangenen Machtkämpfe sind die bei Lektüre dieser Erinnerungen zu gewinnenden Einblicke in die institutionellen Mechanismen, nach denen die politischen Uhren der Bundesrepublik bis zum heutigen Tag ticken. Manche Kritiker haben Kohl häufig vorgeworfen, er personifiziere geradezu den Triumph des Parteibosses über den Geist der parlamentarischen Demokratie. Das ist allerdings eine einseitige Sicht der Dinge. In Wirklichkeit zeigt gerade diese Autobiographie, wie er Erfolg hatte, weil er beide Rollen gleichzeitig miteinander zu verbinden verstand: die des bald maßgeblichen Parlamentariers und die des Parteiführers, in dem die Parteiaktivisten und Parteifunktionäre Fleisch von ihrem Fleisch erkannten. In beiden Funktionen war er übrigens ein nimmermüder Wahlkämpfer. Aus der Tatsache, daß er fast ein halbes Jahrhundert hindurch seine Erfolge immer wieder in Wahlschlachten errang, resultierte zugleich die selbstbewußte Arroganz, mit der er den ihm mehrheitlich ablehnend gesinnten Journalisten, aber auch Kritikern aus der Wirtschaft oder aus dem akademischen Bereich entgegentrat, von denen die meisten nie nur den Versuch gemacht hatten, ein öffentliches Mandat zu erringen. Dabei vergaß der beim innerparteilichen Integrieren unübertroffene und im Koalitionsgeschäft ausgebuffte Kohl keinen Augenblick, daß es letztlich Individuen sind - Hunderte sowohl ehrgeiziger als auch begeisterungsfähiger Amtsträger -, die unablässig karessiert, gefördert, bedroht, überredet und auf Linie gebracht werden müssen. In seinen besten Jahren war er ein psychologisch hochbegabter Menschenführer, ganz und gar kein Bürokrat oder Technokrat.
Aus den Memoiren wird deutlich, wie er im Rückblick seine Mainzer Jahre als die vielleicht befriedigendste Phase seines Politikerlebens begreift. In Mainz konnte Kohl reformerisch gestalten, seine rheinland-pfälzische CDU als Modell für eine modernisierte Bundes-CDU aufbauen und - jüngster Ministerpräsident, der er war - den Sprung an die Spitze vorbereiten. Entsprechend dicht konzipiert und überzeugend geschrieben ist die Darstellung dieser Jahre. Anders die daran anschließende Periode von 1976 bis 1982, als der Oppositionsführer Kohl in Bonn gegen tausend Widrigkeiten ankämpfte. Man wußte es zwar schon immer, kann es aber nun in den Erinnerungen nachlesen, daß das die wohl unerfreulichste Phase seines später gleichfalls an Unerfreulichkeiten nicht armen Politikerlebens gewesen ist. Rheinland-Pfalz kannte dieser "Konkretist" wie seine Hosentasche, doch die Alltagsrealität der CDU/CSU-Fraktion - "lauter Raubtiere" - nur vom Hörensagen.
Während er nach dem Ausscheiden von Peter Altmeier in Mainz keinen Rivalen mehr hatte, fanden sich in Bonn in Partei und Fraktion ein halbes Dutzend selbstbewußte Granden, einige von ihnen mit eindrucksvoller eigener Machtbasis in den Ländern: Alfred Dregger, Karl Carstens, Hans Filbinger, Gerhard Stoltenberg, bald auch Ernst Albrecht, vor allem aber Franz Josef Strauß. Dazu kamen der formidable Kanzler Helmut Schmidt, der den Nichtökonomen Kohl von oben herab behandelte, sowie das insgesamt wenig Kohl-freundliche Bonner Pressecorps und vor allem die Hamburger Blätter, die ihn offen verhöhnten. Jahrelang mußte Kohl im Bonner Milieu befürchten, ein ähnliches Schicksal zu erleiden wie viel später der gleichfalls aus Mainz kommende Rudolf Scharping. Teil IV der Memoiren, "Oppositionsführer in Bonn", wirkt dementsprechend etwas gequält und ist darstellerisch nicht so schön geglückt wie die Teile über den Aufstieg in Rheinland-Pfalz. Die Überschrift könnte auch lauten: "Überlebenskampf gegen Franz Josef Strauß".
Naturgemäß sind die Schilderung und die rückblickende Verarbeitung dieser Vorgänge aus subjektivem Blickwinkel geschrieben. Wie könnte das auch anders sein! Kohl ist sichtlich um eine einigermaßen faire Darstellung der vielen Kräche in jener Phase brüderlicher Unionsgeschichte bemüht. Der breit erörterte Kreuther Trennungsbeschluß von 1976 und das folgende Fingerhakeln mit Strauß würden heute freilich nur noch Kohl selbst und ein paar Historiker interessieren, wäre die endemische Spannung zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU nicht bis zum heutigen Tage ein Dauerthema deutscher Innenpolitik. Jedenfalls macht er kein Hehl aus seinen Gefühlen, wenn er auf "die Eiseskälte" zu sprechen kommt, "die um so mehr zunahm, je höhere Ämter ich erlangte". Spätestens seit diesem lange unentschiedenen Machtkampf hat sich jener Grundzug nie ruhenden Mißtrauens, gekoppelt mit einem Elefantengedächtnis für Verrat und Illoyalität, stark bei ihm ausgeprägt, wofür er bald berühmt war, wovon die Erinnerungen aber nur sehr gedämpft Kunde geben.
Neben beiderseitigem Ehrgeiz lag den Zwistigkeiten mit Strauß eine in der Tat grundlegende Meinungsverschiedenheit über die richtige Oppositionsstrategie zugrunde. Strauß wollte die FDP, aus der heraus er zunehmend als unsteuerbares Sicherheitsrisiko verunglimpft wurde, irgendwie aus dem Spiel stoßen, am liebsten politisch vernichten. Kohl pflegte demgegenüber seit seinen Mainzer Anfängen ein gutes Verhältnis zu den Freien Demokraten, unterhielt auch verschiedenste Duzfreundschaften mit Politikern dieses Lagers. Ganz besonders stimmt offenbar die Chemie zwischen ihm und Hans-Dietrich Genscher, dem er in den Schlußsätzen des Memoirenbandes mit freundlichstem Augurenlächeln zublinzelt. Anders als Strauß war er durchgehend fest davon überzeugt, die Union könne nur im Bündnis mit der FDP wieder an die Macht zurückfinden und sich nur so der kritischen Meinungsmedien erwehren. Dieser Ansicht ist er übrigens bis heute und sieht darin eine der aktuellen Botschaften seiner Memoiren. Eine andere Botschaft, wen wundert's, ist natürlich Europa sowie die Versöhnung mit Frankreich. Uneingeschränkt räumt er hier ein, worauf er aus war und immer noch aus ist: "weiterzugehen auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat". Zugleich bezeichnet er es als sein damaliges und heutiges Credo, die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik müsse auf "zwei gleichwertigen Säulen" ruhen: "der europäischen Einigung und der transatlantischen Brücke".
Wer in diesen Erinnerungen nach Aufschlüssen über Kohls deutschlandpolitische Zielvorstellungen sucht, stößt gleichfalls auf wohlbekannte Ideen, die geboten unscharf formuliert sind. Denn nicht zuletzt die flexibel-unscharfe Programmatik war es, mit der er paradoxerweise innen- und außenpolitisch Erfolg hatte. Unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts und in Würdigung der weitverbreiteten Ängste vor neuem deutschem Nationalismus liege - so lesen wir - dem politischen Verständnis von der Einheit der Nation "nicht der Primat der territorialen Einheit" zugrunde, "sondern der Primat der Freiheit" - Freiheit also vor nationaler Einheit. Adenauers luftige Vorstellungen von einer Österreich-Lösung für das geteilte Deutschland haben ihn anscheinend beeindruckt. Ob und von welchem Zeitpunkt an Kohl erkannt hat, daß sich beim ersten Auflodern der Freiheit in der DDR alsbald die Frage des deutschen Nationalstaates erneut stellen würde, mag er uns vielleicht im nächsten Band dokumentieren.
Insgesamt verbleiben die außen- und deutschlandpolitischen Kapitel des Erinnerungsbandes stark im Allgemeinen. Dafür sind die Darstellungen und Reflexionen zur Innenpolitik - anders als in Adenauers Memoiren - so "süffig", um das auf gut badisch zu formulieren, daß man die etwas verwaschenen Ausführungen zur Außen-, Sicherheits- und Europapolitik gerne in Kauf nimmt - in der Hoffnung, daß Kohl im zweiten Memoirenband entsprechend nachlegt. Der darstellerisch schwierigste Teil des Erinnerungswerkes bleibt noch zu schreiben. Niemandem ist es bisher gelungen, sich 16 lange Jahre als Bundeskanzler im Sattel zu halten - eine im nachhinein kaum glaubliche Leistung. Und niemand sah sich bisher so wie Helmut Kohl mit der Aufgabe konfrontiert, nach dem geglückten Auftakt noch die ereignisprallen Vorgänge, Beobachtungen und Gestalten der Kanzlerjahre in ein Buch zu bannen, das bleibt. Man darf respektvoll viel Kraft zur Arbeit an dem Folgeband wünschen, nicht zuletzt den eingangs erwähnten "eisernen Willen". An geneigten Lesern wird es nicht fehlen.
Helmut Kohl: "Erinnerungen 1930-1982". Droemer Verlag, München 2004. 684 S., 28,- [Euro].
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