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Franz Overbeck war Nietzsches bester Freund. Er blieb es über dessen geistigen Zusammenbruch im Januar 1889 hinaus, weil er nie zum Apostel des Philosophen wurde. Den Freund betrachtet er in diesen Erinnerungen nicht als Genie, sondern als einen sensiblen, vielfach gebrochenen Menschen. Nietzsche erscheint hier nicht als Ausnahmemensch, sondern als Zeitgenosse, weniger seiner Zeit voraus als vielmehr ganz und gar ein Teil von ihr. Neben den Erinnerungen stehen auch die Briefe, die Overbeck zur Zeit von Nietzsches Zusammenbruch an dessen ergebenen Jünger Heinrich Köselitz (Peter Gast) schrieb.…mehr

Produktbeschreibung
Franz Overbeck war Nietzsches bester Freund. Er blieb es über dessen geistigen Zusammenbruch im Januar 1889 hinaus, weil er nie zum Apostel des Philosophen wurde. Den Freund betrachtet er in diesen Erinnerungen nicht als Genie, sondern als einen sensiblen, vielfach gebrochenen Menschen. Nietzsche erscheint hier nicht als Ausnahmemensch, sondern als Zeitgenosse, weniger seiner Zeit voraus als vielmehr ganz und gar ein Teil von ihr. Neben den Erinnerungen stehen auch die Briefe, die Overbeck zur Zeit von Nietzsches Zusammenbruch an dessen ergebenen Jünger Heinrich Köselitz (Peter Gast) schrieb. Sie erscheinen hier, ebenso wie die Erinnerungen, zum ersten Mal als Buch.
Autorenporträt
Franz Overbeck (1837 - 1905) war Professor für Neues Testament und Kirchengeschichte an der Universität Basel. Mit Nüchternheit und Präzision beschreibt er die Problematik des Christentums in der Moderne.

Heinrich Detering, geboren 1959, ist nach Lehrtätigkeit an den Universitäten in Irvine, München und Kiel Professor für Neuere deutsche Literatur an der Georg-August-Universität Göttingen. 2003 erhielt er den "Preis der Kritik" von Hoffmann und Campe und 2009 wurde er mit dem "Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis" der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet.

Heinrich Detering, geboren 1959, ist nach Lehrtätigkeit an den Universitäten in Irvine, München und Kiel Professor für Neuere deutsche Literatur an der Georg-August-Universität Göttingen. 2003 erhielt er den "Preis der Kritik" von Hoffmann und Campe und 2009 wurde er mit dem "Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis" der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2011

Zarathustras nüchterner Gefährte

Strenge Prüfung einer Freundschaft und Kampf gegen Heroenkult: Franz Overbecks "Erinnerungen an Friedrich Nietzsche" in einer neuen Ausgabe.

Bei Franz Overbecks "Erinnerungen an Nietzsche" handelt es sich um eine Neuedition mehr als hundert Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung. Overbecks Schüler Carl Albrecht Bernoulli hatte sie 1906 in der "Neuen Rundschau" publiziert. Als sie erschienen, war der Basler Theologe gerade gestorben. Er hatte Bernoulli damit beauftragt, aus seinem Nachlass Erinnerungen an Nietzsche auszuwählen. Das Ergebnis war von ihm im Voraus autorisiert worden. Damit wollte Overbeck sicherstellen, dass sein aus lebenslanger Freundschaft gewachsenes Bild des Freundes in der Öffentlichkeit wirksam werden konnte. Denn nach Nietzsches Zusammenbruch hatte ein Kampf um Nietzsche begonnen, in den das von seiner Schwester geleitete Archiv unheilvoll eingriff.

Dass Franz Overbeck seinem Lieblingsschüler den Auftrag erteilte, seine umfangreichen Notizen in eine lesbare Form zu bringen, war nicht nur der Sorge um Nietzsches Nachleben geschuldet. Seine Aufzeichnungen selbst zu ordnen und in lesbare Form zu bringen ging über seine Kräfte. Bernoullis Text liest sich, obwohl zusammengefügt aus unterschiedlichen Aufzeichnungen, wie ein Originaltext. Die Anschlüsse und Übergänge passen so gut, dass man meint, eine Komposition Overbecks vor sich zu haben.

Erst seit 1999, als die in Overbecks Nachlass befindlichen Aufzeichnungen zum ersten Mal ungekürzt veröffentlicht wurden, weiß man, dass Bernoullis Destillat zwar aus getreu wiedergegebenen Notaten Overbecks besteht, aber deren Umfang und Eigenart bleiben im Dunkeln. Bernoulli hatte sich auf sprachlich durchgearbeitete und stilistisch überzeugende Passagen beschränkt. Trotzdem bleibt die Frage, ob nach der philologisch getreuen Edition des gesamten Konvoluts von Aufzeichnungen das Destillat Bernoullis nicht überholt ist.

Während der Text der "Erinnerungen" in der vorliegenden Ausgabe rund fünfzig Seiten umfasst, sind es in der Werkausgabe etwa zweihundert. Vor allem ist die literarische Form des Overbeckschen Nachlasses nicht zu erkennen. Overbeck legte ihn insgesamt, auch den kirchengeschichtlichen Teil, in lexikalischer Form an. Das erlaubte ihm, seine Gedanken zu einem bestimmten Thema zu sammeln, jedem Stichwort ein Eigenrecht zu lassen und die Verknüpfung seiner Gedanken so weit wie möglich hinauszuschieben. Bernoulli hat dieses Verfahren abgekürzt und alles beiseitegelassen, was sich der essayistischen Form seines Entwurfs nicht fügte. Über das Gewicht der Gedanken war damit freilich nicht entschieden. Manches Bedeutsame ist ihm dadurch entgangen.

Was wollte Franz Overbeck, als er seine Notizen über Nietzsche verfasste? Jedenfalls sollten es nicht nur Erinnerungen sein. Vielmehr ging es ihm um eine strenge Prüfung seiner Beziehung zu Nietzsche und Nietzsches zu ihm. Die Frage, ob er als Freund im Licht dieser unnachsichtigen Prüfung bestehen würde, war der Antrieb, der Overbeck in seinen Aufzeichnungen leitete. Es ging ums Ganze, um die Integrität und Echtheit ihrer Beziehung zueinander.

Darüber hinaus handelte es sich um Vorbereitungen für eine Kampfschrift. Denn das Bild von Nietzsche, das Overbeck in seinen Notizen zu gewinnen suchte, stand in scharfem Gegensatz zu der fatalen Heroisierung, die sich in der deutschen Öffentlichkeit abzuzeichnen begann. Das Weimarer Nietzsche-Archiv, mit dem Overbeck zunächst zusammenzuarbeiten suchte, entwickelte schon bald ein seinen eigenen Zielen dienliches Nietzschebild. Overbecks Aufzeichnungen sind ein eindrucksvolles Zeugnis für den Widerstand gegen diese Deformationen. Dafür bediente er sich der Instrumente seines Metiers, der historischen Philologie. Sie sollte es ihm ermöglichen, den unter einem Gewirr von Lebenstatsachen und Fiktionen verborgenen echten Nietzsche freizulegen. Im Licht dieser Aufgabe hatten nicht nur seine persönlichen Eindrücke, sondern auch die Zeugnisse anderer, mit denen Nietzsche zusammengetroffen war, Gewicht. Auch sie waren einer skrupulösen Echtheitsprüfung zu unterwerfen.

Wie sehr dieses Unterfangen, sich aller Sicherheiten zu entledigen, ins Unabsehbare führte, wird am Disparaten der Aufzeichnungen sichtbar. Man sieht, wie Overbeck immer wieder ins Stocken gerät und sich neuer Wege zu versichern sucht. Eher als einem, der sich seinen Erinnerungen hingibt, gleicht der Autor einem Spurenleser, für den jede Einzelheit Schlüsselcharakter gewinnen kann. Kaum je dürfte eine Freundschaft einer so eindringlichen Prüfung unterworfen worden sein. Dieses Wagnis Overbecks konnte das ganze Gebäude ihrer Beziehung zum Einsturz bringen. Am Ende meint man das Aufatmen eines noch einmal Davongekommenen zu vernehmen.

Das Radikale dieses Unternehmens wird schon im ersten Satz dieser "Erinnerungen" deutlich. Er lautet: "Nietzsche war kein im eigentlichen Sinne großer Mensch." Man möchte darin einen Protest gegen die zeitgenössische Konjunktur der Größe sehen, die auch Nietzsche auf ihre Flügel nehmen wollte. Aber Overbeck intensiviert seine Aussage noch, wenn er bestreitet, dass keines der Talente Nietzsches ihm Größe gesichert habe. Allenfalls seiner "Gabe der Selbstanalyse" will Overbeck Größe zusprechen. Auf ihn selbst angewandt, sei sie Nietzsche "tödlich gefährlich" geworden und habe ihn "entseelt". Das Motiv der im Übermaß ausgebildeten Kritik und Selbstkritik hebt Overbeck auch im Weiteren hervor. Für ihn standen sie im Widerspruch zu den Eigenschaften, die Nietzsche sich selbst zuzusprechen pflegte. So sei ihm Willensstärke, die er prätendierte, durchaus nicht eigen gewesen, allenfalls ein ungeheurer Ehrgeiz, im Lebenskampf zu bestehen. Auch hier Gewaltsamkeit gegen sich selbst.

Solche Detaillierung und Auflösung von Eigenschaften, die Nietzsche sich selbst zusprach oder seiner Umgebung rhetorisch aufzudrängen suchte, machen Overbecks Arbeit an Nietzsche aus. So wirft er die Frage der Echtheit seiner Persönlichkeit auf und findet doch nur ein "theatralisches Gebaren". Bis zum Extravaganten habe Nietzsche auf sich selbst gehalten. Auch hier hebt er das Gewaltsame von Nietzsches Natur hervor, einer der Gründe für Zusammenbruch und Wahnsinn. Letzterer war für Overbeck keinesfalls ein hereditärer, sondern aus der Gewaltsamkeit im Umgang mit sich selbst entsprungen.

Auch die Frage von Nietzsches Genialität wird von Overbeck gleichsam umgebogen. Nicht einzigartige Gaben, ob philosophische oder künstlerische, hätten Nietzsche ausgezeichnet. Am höchsten entwickelt sei dagegen auch in dieser Hinsicht die rücksichtslose Selbstanalyse gewesen. Nietzsche hatte dafür das pathetische Wort der "Selbstüberwindung". Für Overbeck dagegen war diese wieder nichts anderes als die auf sich selbst angewandte Kritik, die "Energie gegen sich selbst", die den Weg zu Wahnsinn und Selbstzerstörung bahnte.

Das alles ist von Nietzsches Ende her gedacht, dem Overbeck das Schicksalhafte nimmt, um es in den hervorstechenden Eigenschaften seines Freundes zu verankern. Dass Nietzsches philosophische Lehre jenseits von Rhetorik und Kritik für Overbeck gewichtslos bleibt, kann da nicht verwundern. Die Lehre von der Ewigen Wiederkunft erscheint ihm als eine Mystifikation, und die Lehre vom Übermenschen ein haltloser Gedanke, der in der Wiederkunftslehre zergehen musste.

Und so hält auch eine der stärksten Überzeugungen Nietzsches nicht stand: seine Einsamkeit. Sie war nicht nur eine zentrale existentielle Erfahrung, sondern ein tragendes Element seines philosophischen Selbstverständnisses. Overbeck bestreitet ihre Bedeutung: Nietzsche sei lange nicht so einsam gewesen, wie er sich vorkam. Das muss etwas salopp klingen angesichts der pathetischen Einsamkeitslitanei, die Nietzsche angestimmt hatte. Von ihr gibt ein Brief an Overbeck ein bewegendes Zeugnis: "daß nicht auch Ein Mensch mich ,entdeckt' hat, mich nötig gehabt hat, mich geliebt hat, und daß ich diese lange erbärmliche schmerzensübereiche Zeit durchlebt habe, ohne durch eine echte Liebe getröstet worden zu sein." Diese Klage bezog auch den Freund Overbeck mit ein. Als dieser die Probe auf ihre Freundschaft machen wollte, musste er Nietzsches Einsamkeit opfern, um ihre Freundschaft zu retten.

HENNING RITTER

Franz Overbeck: "Erinnerungen an Friedrich Nietzsche". Mit Briefen an Heinrich Köselitz (Peter Gast) und einem Essay von Heinrich Detering.

Berenberg Verlag, Berlin 2011. 160 S., geb., 20,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2011

Das todwunde, edle Tier
hat sich zurückgezogen
Neue Bücher über Friedrich Nietzsche führen es vor:
Bei keinem sind Denken und Leben schwerer zu trennen
Erst im Wahnsinn wurde der Philosoph Friedrich Nietzsche richtig berühmt. Nicht der Wahnsinn als solcher, der ihn zum Jahreswechsel 1888/1889 in Turin ergriff, hatte diese Wirkung; denn an irre Gewordenen und Seelenkranken gab es zur Zeit von „Europas Edelfäule“ (Gottfried Benn) ja keinen Mangel. Aber erst der Umstand, einen großen Kopf und einsamen Wanderer in rätselhafter Umnachtung zu wissen, verlieh für das zeitgenössische Publikum der denkerischen Freiheit und Ungeheuerlichkeit in Nietzsches Schriften ihren besonderen Reiz.
Zwar hatte die Mischung aus harter Unnahbarkeit und gesteigerter Feinfühligkeit, aus Hammer und Spiel, welche zumal in den Texten der letzten Jahre zu finden war, Nietzsches Bekanntheit schon vor seinem Zusammenbruch langsam zu weiten begonnen; so hatte ihn noch im Jahr des euphorischen Ausstoßes überspannter letzter Werke, im Jahr 1888, Georg Brandes in Kopenhagen zum großen europäischen Intellektuellen ausgerufen. Doch größeren Absatz fanden Nietzsches Bücher erst, als er selber keine mehr schreiben konnte; als der beurlaubte Basler Professor für Klassische Philologie von Italien aus zuerst in die Irrenanstalt in Basel, dann in die Irrenanstalt in Jena, dann heim nach Naumburg in die Pflege der Mutter und schließlich noch als zentrales Ausstellungsstück des neuen Nietzsche-Kultes zur Schwester nach Weimar gebracht wurde, wo er im August 1900 nun auch leiblich verstarb.
Es waren also jene Jahre, als Nietzsche, zwischen Phasen von verwirrter, aber ausnehmender Höflichkeit, laut herumbrüllte und nackt herumtanzte, bis er in immer größerer Stille des Bewusstseins dahindämmerte – es waren gerade jene Jahre, in denen der Autor des „Zarathustra“ als bedeutender Philosoph und Prophet ins allgemeine Bewusstsein trat. Deshalb ist das Verhältnis von Krankheit und unerhörtem Denken des Wahrheitszertrümmerers seit jeher eine viel debattierte Frage der Interpretation: War der zerstörerische Wahnsinn ein Bruch? Oder etwa nur der Paukenschlag nach längerem Crescendo?
„Bis in die Wahnsinnszettel hinein ist der Geist gegenwärtig, durch den noch der Wahn einen Sinn erhält“, so formulierte es Karl Jaspers. Und Nietzsches Leben ist „ein lyrisch-tragisches Schauspiel von höchster Faszination“ – so Thomas Mann 1947 – erst recht deshalb, weil es ja ein entscheidender Wesenszug seiner antiakademischen und zeitgemäß unzeitgemäßen Philosophie ist, Leben und Denken zusammenzudenken. Wir sollten selbst die Dichter unseres Lebens werden, forderte Nietzsche; immer wieder reflektierte er, von allerlei Gebrechen geplagt, über den Umgang mit der Krankheit und stellte allgemeine ästhetische, psychologische und klimatische Bedingungen für große und vitale Philosophen auf, die er vor allem für sich selbst als günstig ansah; und in der unbescheidenen Selbstbeschreibung „Ecce homo“ von 1888 heißt es: „Ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie . . .“ Angesichts dieser komplexen Problemlage kann es nur als schlicht bezeichnet werden, wenn Nietzsches jüngste Biographin Sabine Appel zu seiner Zerrüttung ohne allzu viel weitere Überlegung postuliert: „Nichts von diesem Wahn ist ohne Zusammenhang mit Nietzsches Denken und Leben. Es ist so etwas wie die letzte Stufe davon.“
Äußerst skrupulös hingegen versuchte sich Nietzsches bester, treuester und öffentlich unauffälligster Freund, der Basler Theologe Franz Overbeck, über den verlorenen Freund und seine Beziehung zu ihm im Klaren zu werden. Overbeck, ein paar Jahre älter, hatte im Jahr 1870 mit dem philologischen Wunderkind in Basel eine Professoren-WG bezogen, Adresse: Schützengraben Nr. 45, „Baumannshöhle“ genannt nach dem Namen der Vermieterin. Fünf Jahre wohnten beide dort, bis Overbeck heiratete, und sie hielten weiter zusammen, als Nietzsche auf seine Wanderschaft in felsige Höhen ging und Overbeck von Basel aus als sein Briefpartner, Finanzassistent, Literaturagent und Seelenberater fungierte.
In seinen Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, an denen der glaubenslose Theologe bis zu seinem eigenen Tod im Juni 1905 arbeitete, wollte Overbeck die festlegende Deutung Nietzsches von der Katastrophe des Wahnsinns her – beziehungsweise die festlegende Deutung des Wahnsinns von Nietzsches Werken her – tunlichst vermeiden. Denn die Zurückweisung Nietzsches wie auch die unkritische Heroisierung arbeiteten beide jeweils gerne mit der vulgärpsychologischen Betonung jenes Zusammenhangs.
Die selbstauferlegte Distanznahme war indes eine fast übermenschliche Aufgabe, stand doch besonders Overbeck unter dem Eindruck der letzten Jahre. Nietzsche hatte ihm noch am 13. November 1888 von jenseits der Alpen geschrieben: „Es geht fort und fort in einem tempo fortissimo der Arbeit und der guten Laune“, aber dann war es wenige Wochen später derselbe Overbeck, der den zusammengebrochenen Nietzsche aus Turin abholte, der sich rührend um seine Unterbringung in den Kliniken und vieles andere kümmerte, der ihn 1895 nach fünf Jahren Pause in Naumburg wiedersah und dort „den Eindruck eines todeswunden, edlen Tieres“ empfing, „das sich in den Winkel zurückgezogen in dem es nur noch zu verenden denkt“. Gerade die letzten grässlichen Bilder des Freundes aber will Overbeck im Schreiben über Nietzsche in die richtige Relation zum Ganzen setzen, indem er eine ausgewogene Gesamtwürdigung versucht.
Um der Aufgabe Herr zu werden, will Overbeck einerseits natürlich der Bedeutung Nietzsches gerecht werden – er erkennt ausdrücklich dessen Überlegenheit an –, andererseits aber will er, mit den philologischen Mitteln des modernen Kirchenhistorikers ausgestattet, Kritikfähigkeit beweisen. (Die Kirchengeschichte ist, schrieb Overbeck einmal, „die eigentliche Schule des Scepticismus für Theologen.“) Solche schonungslose Unbestechlichkeit meinte Franz Overbeck gleich drei Instanzen schuldig zu sein: erstens Nietzsche, denn wahre Freundschaft heißt zwischen kritischen Intellektuellen, ohne Rücksicht auch Skepsis zu formulieren, und wenn es posthum geschieht; zweitens sich selbst, denn mit dem Freundschaftsporträt geht auch immer wieder die Bilanzierung der eigenen Geschichte einher; und drittens der Vereinnahmung durch das „Nietzsche-Archiv“ der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar, wo an der Umwandlung des Philosophen in eine völkisch-antisemitische Heldenfigur gearbeitet wurde.
So kommt es, dass sich in Overbecks einsichtsvollem Text über Nietzsche auch ebenso einsichtsvolle Einschränkungen finden wie diese: „Seine Künstlerbegabung ist eine zu beschränkt rhetorische gewesen.“ – „Die Neukultivierung der Menschheit, die er unternommen, ist nur unter dem Zeichen der Desperation zu unternehmen: das beweist Nietzsche nicht am wenigsten eindringlich mit dem Einfall, sich mit dem Übermenschen zu identifizieren, und der praktischen Durchführung, die er ihm in seinem Leben gegeben hat.“ – „Er hat vielleicht den ,Willen zur Macht‘ mit solcher Beredsamkeit zum Ideal entwickelt, wie es nur einem möglich war, dem dieses Ideal so sehr als solches vorschwebte und in ihm selbst nicht eigentlich Fleisch geworden war.“ Das Wort „Ideal“ ist da beinahe gemein, denn nichts wollte Nietzsche weniger sein als ein Idealist („Jeder Satz meiner Schriften enthält die Verachtung des Idealismus“, hieß es in einem Brief).
Wenn die Kontextualisierung in wissenschaftlicher Manier für Overbeck eine Ordnungs- und Trostfunktion haben sollte, so tat er sich doch mit der Ausführung nicht leicht. In der kritischen Ausgabe der Werke Overbecks, wo sie vor einigen Jahren ediert wurden, nehmen die disparaten Nietzsche-Notizen mehrere hundert Seiten ein. Daraus machte Carl Albrecht Bernoulli, Overbecks Schüler und von diesem dazu autorisiert, eine bündige Lesefassung, die 1906, nach Overbecks Tod, in der Neuen Rundschau publiziert wurde. Auch Bernoulli hatte die Schule der neutestamentlichen Philologie durchlaufen: Da lernt man nicht nur das Gespür für vielstimmiges, zu scheidendes Quellenmaterial, sondern eben auch umgekehrt das Gespür für die geschickte Redaktion zu einem Ganzen. Diese Lesefassung ist nun in einer der schönen Ausgaben des Berenberg Verlages neu zu lesen, zusammen mit den Briefen an Heinrich Köselitz (Peter Gast) und einem Nachwort des Germanisten Heinrich Detering; dieser stellt die hübsche Frage, was wohl herausgekommen wäre, wenn Friedrich Nietzsche umgekehrt einen derartigen Erinnerungstext über Franz Overbeck hätte schreiben sollen.
In solche Was-wäre-wenn-Sphären begibt sich auch Ludger Lütkehaus mit einem sonderbaren Text mit dem Titel „Die Heimholung“. Auch hier geht es um die Jahre des Wahns: Wie der große Antichrist Nietzsche in der Pflege der Mutter wieder zum kleinen Naumburger Pfarrerssohn wird, von der Witwe 1890 bis 1897 aufopferungsvoll umhegt. Lütkehaus, der die Briefe Nietzsches an die Mutter herausgegeben und sonst viel für das Verständnis von Nietzsche, Schopenhauer und anderen getan hat, probiert eine „Erzählung“ aus der Perspektive der Mutter; der erste Satz lautet: „Fast immer war er ihr guter Sohn, ihr innigst geliebtes Herzenskind gewesen . . .“ Das bis ins Vokabular zwitterhafte Ergebnis kann weder literarisch noch als Sachtext recht überzeugen, auch wenn wir immerhin lernen, dass Nietzsches Mutter offenbar von der Matriarchatstheorie Johann Jakob Bachofens, des Basler Kollegen Nietzsches, gehört hat.
Auch in der Läppischkeit ist Lütkehaus’ „Heimholung“ eine weitere Erinnerung, dass bei keinem Denker Philosophie und Biographie schwerer zu trennen sind. Bleibt also noch das dritte neue Nietzsche-Buch, die Biographie von Sabine Appel. Leider ist sie kaum der Rede wert. Das Buch ist arg oberflächlich (im negativen, nicht in dem positiven Sinne, in dem Nietzsche die Oberflächlichkeit der Griechen lobte), und es zeugt davon, dass man ohne gewisse Einblicke in zwei Disziplinen wohl keine befriedigende Nietzsche-Biographie schreiben kann: nämlich in Philologie und Theologie.
Aber es gibt ja noch Kilometer an Forschungsliteratur sowie den Philosophen selbst zu lesen. Aber Vorsicht – dessen Denken, warnt Karl Jaspers, „ist leer, wenn man etwas haben will, das gilt und besteht; es ist erfüllt, wenn man in die Teilnahme an der Bewegung kommt.“ JOHAN SCHLOEMANN
FRANZ OVERBECK: Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Mit Briefen an Heinrich Köselitz und mit einem Essay von Heinrich Detering. Berenberg Verlag, Berlin 2011. 156 Seiten, 20 Euro.
SABINE APPEL: Friedrich Nietzsche. Wanderer und freier Geist. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2011. 272 Seiten, 19,95 Euro.
LUDGER LÜTKEHAUS: Die Heimholung. Nietzsches Jahre im Wahn. Eine Erzählung. Schwabe Verlag, Basel 2011. 110 Seiten, 13,80 Euro.
„Ich machte aus meinem Willen
zur Gesundheit, zum Leben,
meine Philosophie . . .“
„Jeder Satz meiner Schriften
enthält die
Verachtung des Idealismus“
Der norwegische Maler Edvard Munch schrieb in einem Brief: „Es hat ja seine Schwierigkeiten, einen Toten zu malen – aber es wird ja leichter bei einem wie ihm, der in seinen Werken lebt.“ Und so malte er Friedrich Nietzsche – hier die Osloer Fassung von 1906.
Der Theologe Franz Overbeck (1837-1905) war Nietzsches treuester Freund.
Fotos: AKG / VG Bildkunst, Bonn 2011, Archiv der Universitätsbibliothek Basel
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Sehr angetan zeigt sich Johan Schloemann von dieser schönen Ausgabe der Erinnerungen des Theologen Franz Overbeck an Friedrich Nietzsche. Er beschreibt Overbeck als besten und treuesten Freund des Philosophen. Auch schätzt er ihn als umsichtigen Kommentator, der sich gegen jede vulgärpsychologische Deutung von Nietzsches Werk und dessen Wahn wandte. Die Erinnerungen Overbecks werden Nietzsches Bedeutung seines Erachtens vollauf gerecht und bieten zudem eine Reihe von auch kritischen Einsichten.

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