1912 erschien mit Hilfe von Ludwig Thoma Christs "Erinnerungen einer Überflüssigen". Darin schildert sie in ungewöhnlich deutlichen Worten ihr Leben, das zerrüttete Verhältnis zu ihrer Mutter und die menschlichen und sexuellen Tragödien ihrer Ehe. Das Buch hatte großen Erfolg auf dem Markt und erzielte gute Kritiken.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.04.2020MÜNCHEN ERLESEN
Grausamkeit und leise Sehnsucht
Lena Christs Autobiografie „Erinnerungen einer Überflüssigen“
München – Doppelt aus der Zeit gefallen, so wirkt diese großartige Szene. Es ist Christbaumfeier in der Münchner Wirtschaft. Die Stammgäste des Lokals sitzen „vergnügt beieinander“ lauschen Vorträgen, kaufen Lose – und versteigern immer wieder denselben Christbaum, bis es schließlich zur Prügelei kommt. Der Bräubursch schleudert den Bäcker über den Tisch. Der stößt ein Kalbsgulasch der Frau des Laternenanzünders in den Schoß, diese kreischt laut auf, sodass ihr Mann sich auf die Übeltäter stürzt. Und dann löscht auch noch ein Boshafter das Licht, indem er den Gasometer abstellt. Mittendrin im Gewühl greift schließlich die Wirtstochter Leni durch: „Sakrament auseinander, sag i! Wer sie net niederhockt, is hi!“
Lena Christ, geboren am 30. Oktober 1818 in Glonn, zeichnete in ihrer Autobiografie „Erinnerungen einer Überflüssigen“ diese kuriose und komische Szene auf. Und obwohl ihre Figuren „Bräuburschen“ und „Laternenanzünder“ sind, ihre Sprache angereichert ist mit Begriffen und Formulierungen um 1900, ist man in diesem Moment mitten im saftigen Duft der Wirtschaft, über ein Jahrhundert zurückversetzt. Zugleich beschleicht einen eine leise Sehnsucht nach einer bayerischen Wirtschaft, in der sich Menschen ohne Scheu begegnen, wenn es sein muss sogar grob. Es ist ein Ort, auf den es momentan eben zu verzichten heißt.
Dabei darf man sich nichts vormachen: „Erinnerungen einer Überflüssigen“ ist kein harmloses Gemälde der Münchner Gesellschaft zur Jahrhundertwende. Es werden hier nicht mehrere literarische Wirtshausszenerien den erwünschten Gang in ein solches Lokal ersetzen können. 1912 erschien die Geschichte, die Lena Christ auf Anregung ihres zweiten Ehemanns aufschrieb, dem Schriftsteller Peter Benedix. Ihre Beschreibungen sind in vielen Punkten hart und brutal – und die Beiläufigkeit, mit der Christ ihr Schicksal schildert, schwächt diesen Eindruck keinesfalls ab.
Ihre Kindheit indes skizziert sie im ersten Kapitel der „Erinnerungen einer Überflüssigen“ als glücklich. Geboren als uneheliches Kind wächst sie auf dem Land auf, bei ihren Großeltern in Glonn. Insbesondere mit dem Großvater ist sie tief verbunden. Das bäuerliche Leben ist für das Kind unbeschwert, bis eines Tages die „Münkara Mutter“ ihre Tochter nach München holt. Diese ist mittlerweile verheiratet mit einem Gastwirt, ihr erstes Kind, Lena, bleibt für sie dennoch ein Dorn im Auge. Obwohl die Mutter vermeintlich fromm ist, misshandelt sie ihr Kind. „Darauf musste ich mich niederknien und nun schlug sie mich und trat mich mit den Füßen wider die Brust und den Körperteil, mit dem ich gesündigt hatte. Da schrie ich um Hilfe, worauf sie mir ein Tuch in den Mund stopfte und abermals auf mich einschlug.“
Die Prügelei der Mutter treibt Lena immer wieder zur Flucht – und doch kehrt sie stets zurück nach Hause. Die längste Zeit fern von daheim verbringt sie im Kloster Bärenberg. Als 17-Jährige glaubt sie, dort Ruhe und Seelenheil zu finden. Doch wird sie enttäuscht. Was sie für „herzliche Kameradschaft“ hält, entpuppt sich als Drill. „Bigotterie paarte sich mit Stolz, Selbstsucht mit dem Ehrgeiz, vor den Oberen schön dazustehen und als angehende Heilige bewundert zu werden.“
Eineinhalb Jahre verbringt Lena Christ im Kloster, bis sie zur Familie heim möchte, bis sie wieder zur „Wirtsleni“ wird. Doch die Quälerei der Mutter hat noch kein Ende, sie treibt ihre Tochter bis zum Selbstmordversuch. Deren letzte Flucht ist jene in die Ehe, mehr aus Vernunft denn aus Liebe. Doch auch hier hat sie kein Glück, ihr Mann trinkt, misshandelt sie. Sechsmal wird sie schwanger, drei Kinder überleben. Sie verlieren Wohnung und Wohlstand und alle Hoffnung. Das Buch schließt leise: „Doch das Leben hielt mich fest und suchte mir zu zeigen, dass ich nicht das sei, wofür ich mich so oft gehalten, eine Überflüssige.“
Christs Autobiografie zu lesen, bedeutet, mit einem harten Lebensweg konfrontiert zu werden. Zugleich verfolgt man das Erwachen einer literarischen Stimme, die die bisweilen aneinandergereihten Szenen mit kräftiger Farbe auszugestalten weiß. „Erinnerungen einer Überflüssigen“ ist der Beginn von Lena Christs Schaffen und der Anfang des modernen Heimatromans, angesiedelt im groben, lebensprallen – und darum in den heutigen Tagen so entrückten – München.
YVONNE POPPEK
Lena Christ: Erinnerungen einer Überflüssigen, dtv-Taschenbuch 9,90 Euro, E-Book 0,49 Euro
Romane über eine Stadt
SZ-Serie • Folge 3
Der Text ist der Beginn
ihres Schaffens und Anfang
des modernen Heimatromans
Als dieses Bild um 1914 entstand, hatte Lena Christ die vielen Misshandlungen, die sie in ihrer Autobiografie schildert, schon durchlebt.
Foto: SZ Photo
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Grausamkeit und leise Sehnsucht
Lena Christs Autobiografie „Erinnerungen einer Überflüssigen“
München – Doppelt aus der Zeit gefallen, so wirkt diese großartige Szene. Es ist Christbaumfeier in der Münchner Wirtschaft. Die Stammgäste des Lokals sitzen „vergnügt beieinander“ lauschen Vorträgen, kaufen Lose – und versteigern immer wieder denselben Christbaum, bis es schließlich zur Prügelei kommt. Der Bräubursch schleudert den Bäcker über den Tisch. Der stößt ein Kalbsgulasch der Frau des Laternenanzünders in den Schoß, diese kreischt laut auf, sodass ihr Mann sich auf die Übeltäter stürzt. Und dann löscht auch noch ein Boshafter das Licht, indem er den Gasometer abstellt. Mittendrin im Gewühl greift schließlich die Wirtstochter Leni durch: „Sakrament auseinander, sag i! Wer sie net niederhockt, is hi!“
Lena Christ, geboren am 30. Oktober 1818 in Glonn, zeichnete in ihrer Autobiografie „Erinnerungen einer Überflüssigen“ diese kuriose und komische Szene auf. Und obwohl ihre Figuren „Bräuburschen“ und „Laternenanzünder“ sind, ihre Sprache angereichert ist mit Begriffen und Formulierungen um 1900, ist man in diesem Moment mitten im saftigen Duft der Wirtschaft, über ein Jahrhundert zurückversetzt. Zugleich beschleicht einen eine leise Sehnsucht nach einer bayerischen Wirtschaft, in der sich Menschen ohne Scheu begegnen, wenn es sein muss sogar grob. Es ist ein Ort, auf den es momentan eben zu verzichten heißt.
Dabei darf man sich nichts vormachen: „Erinnerungen einer Überflüssigen“ ist kein harmloses Gemälde der Münchner Gesellschaft zur Jahrhundertwende. Es werden hier nicht mehrere literarische Wirtshausszenerien den erwünschten Gang in ein solches Lokal ersetzen können. 1912 erschien die Geschichte, die Lena Christ auf Anregung ihres zweiten Ehemanns aufschrieb, dem Schriftsteller Peter Benedix. Ihre Beschreibungen sind in vielen Punkten hart und brutal – und die Beiläufigkeit, mit der Christ ihr Schicksal schildert, schwächt diesen Eindruck keinesfalls ab.
Ihre Kindheit indes skizziert sie im ersten Kapitel der „Erinnerungen einer Überflüssigen“ als glücklich. Geboren als uneheliches Kind wächst sie auf dem Land auf, bei ihren Großeltern in Glonn. Insbesondere mit dem Großvater ist sie tief verbunden. Das bäuerliche Leben ist für das Kind unbeschwert, bis eines Tages die „Münkara Mutter“ ihre Tochter nach München holt. Diese ist mittlerweile verheiratet mit einem Gastwirt, ihr erstes Kind, Lena, bleibt für sie dennoch ein Dorn im Auge. Obwohl die Mutter vermeintlich fromm ist, misshandelt sie ihr Kind. „Darauf musste ich mich niederknien und nun schlug sie mich und trat mich mit den Füßen wider die Brust und den Körperteil, mit dem ich gesündigt hatte. Da schrie ich um Hilfe, worauf sie mir ein Tuch in den Mund stopfte und abermals auf mich einschlug.“
Die Prügelei der Mutter treibt Lena immer wieder zur Flucht – und doch kehrt sie stets zurück nach Hause. Die längste Zeit fern von daheim verbringt sie im Kloster Bärenberg. Als 17-Jährige glaubt sie, dort Ruhe und Seelenheil zu finden. Doch wird sie enttäuscht. Was sie für „herzliche Kameradschaft“ hält, entpuppt sich als Drill. „Bigotterie paarte sich mit Stolz, Selbstsucht mit dem Ehrgeiz, vor den Oberen schön dazustehen und als angehende Heilige bewundert zu werden.“
Eineinhalb Jahre verbringt Lena Christ im Kloster, bis sie zur Familie heim möchte, bis sie wieder zur „Wirtsleni“ wird. Doch die Quälerei der Mutter hat noch kein Ende, sie treibt ihre Tochter bis zum Selbstmordversuch. Deren letzte Flucht ist jene in die Ehe, mehr aus Vernunft denn aus Liebe. Doch auch hier hat sie kein Glück, ihr Mann trinkt, misshandelt sie. Sechsmal wird sie schwanger, drei Kinder überleben. Sie verlieren Wohnung und Wohlstand und alle Hoffnung. Das Buch schließt leise: „Doch das Leben hielt mich fest und suchte mir zu zeigen, dass ich nicht das sei, wofür ich mich so oft gehalten, eine Überflüssige.“
Christs Autobiografie zu lesen, bedeutet, mit einem harten Lebensweg konfrontiert zu werden. Zugleich verfolgt man das Erwachen einer literarischen Stimme, die die bisweilen aneinandergereihten Szenen mit kräftiger Farbe auszugestalten weiß. „Erinnerungen einer Überflüssigen“ ist der Beginn von Lena Christs Schaffen und der Anfang des modernen Heimatromans, angesiedelt im groben, lebensprallen – und darum in den heutigen Tagen so entrückten – München.
YVONNE POPPEK
Lena Christ: Erinnerungen einer Überflüssigen, dtv-Taschenbuch 9,90 Euro, E-Book 0,49 Euro
Romane über eine Stadt
SZ-Serie • Folge 3
Der Text ist der Beginn
ihres Schaffens und Anfang
des modernen Heimatromans
Als dieses Bild um 1914 entstand, hatte Lena Christ die vielen Misshandlungen, die sie in ihrer Autobiografie schildert, schon durchlebt.
Foto: SZ Photo
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