Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.06.2020Prophet
der Insekten
Ein kulinarischer Abschluss
der Jean-Henri Fabre-Ausgabe
Jean-Henri Fabre liebte seine Insekten. Und er glaubte, dass ihr Treiben auch auf moralischer Ebene lehrreich für uns sein könnte, beispielsweise das des männlichen Rosskäfers, der sich, anders als viele männliche Exemplare der Gattung Homo Sapiens, vorbildlich um seine Kinder kümmert.
Fabres Liebe zu den Insekten, so offenbart jetzt der zehnte und letzte Band der „Erinnerungen eines Insektenforschers“, ging sogar durch den Magen. Angeregt von den Berichten über die Saturnalien des Altertums veranstaltet der in Sérignan-du-Comtat lebende Forscher gemeinsam mit dem örtlichen Lehrer sowie dem blinden Tischler des Dorfes ein kleines Festmahl. Hauptmahlzeit: Die Larve des Mulmbocks, eines großen, auf Eichen lebenden Käfers.
Und siehe da: „Alle sind sich einig. Der Braten ist saftig, zart und hat Hautgoût.“ Fabre war also nicht nur Vorreiter in Erziehungsfragen, er wusste schon vor hundert Jahren, wie man an Proteine kommt, ohne das Klima mit Rinderwinden zu schinden. Vielleicht beschäftigten ihn gegen Ende seines 92jährigen Lebens neben der Blauen Fleischfliege auch deshalb die „vegetarischen Insekten“. Zu ihnen gehört nicht zuletzt der Stierkotfresser, dem ebenso wie dem auch nicht jedermann vertrauten Braunwurzschaber, dem Glühwürnchen und dem Kiefernmaikäfer ein eigenes Kapitel gewidmet ist.
Beigegeben sind diesem abschließenden Band der „Erinnerungen“ zudem Reminiszenzen an die Kindheit und an Fabres Erfahrungen mit der sogenannten Industriechemie. Wie immer ist die Übersetzung makellos, wie immer sind die Zeichnungen Christian Thanhäusers anschaulicher, das heißt von größerer Lebendigkeit als jede Fotografie. So machen viele kleine Tiere ein großes Buch. Seine zehn Teile liegen nun vor. Und sie besitzen Hautgoût.
TOBIAS LEHMKUHL
Jean-Henri Fabre: Erinnerungen eines Insektenforschers X. Übersetzt von Friedrich Koch und Ulrich Kunzmann, bearbeitet von Heide Lipecky. Matthes und Seitz, Berlin 2020. 352 Seiten, 36,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Insekten
Ein kulinarischer Abschluss
der Jean-Henri Fabre-Ausgabe
Jean-Henri Fabre liebte seine Insekten. Und er glaubte, dass ihr Treiben auch auf moralischer Ebene lehrreich für uns sein könnte, beispielsweise das des männlichen Rosskäfers, der sich, anders als viele männliche Exemplare der Gattung Homo Sapiens, vorbildlich um seine Kinder kümmert.
Fabres Liebe zu den Insekten, so offenbart jetzt der zehnte und letzte Band der „Erinnerungen eines Insektenforschers“, ging sogar durch den Magen. Angeregt von den Berichten über die Saturnalien des Altertums veranstaltet der in Sérignan-du-Comtat lebende Forscher gemeinsam mit dem örtlichen Lehrer sowie dem blinden Tischler des Dorfes ein kleines Festmahl. Hauptmahlzeit: Die Larve des Mulmbocks, eines großen, auf Eichen lebenden Käfers.
Und siehe da: „Alle sind sich einig. Der Braten ist saftig, zart und hat Hautgoût.“ Fabre war also nicht nur Vorreiter in Erziehungsfragen, er wusste schon vor hundert Jahren, wie man an Proteine kommt, ohne das Klima mit Rinderwinden zu schinden. Vielleicht beschäftigten ihn gegen Ende seines 92jährigen Lebens neben der Blauen Fleischfliege auch deshalb die „vegetarischen Insekten“. Zu ihnen gehört nicht zuletzt der Stierkotfresser, dem ebenso wie dem auch nicht jedermann vertrauten Braunwurzschaber, dem Glühwürnchen und dem Kiefernmaikäfer ein eigenes Kapitel gewidmet ist.
Beigegeben sind diesem abschließenden Band der „Erinnerungen“ zudem Reminiszenzen an die Kindheit und an Fabres Erfahrungen mit der sogenannten Industriechemie. Wie immer ist die Übersetzung makellos, wie immer sind die Zeichnungen Christian Thanhäusers anschaulicher, das heißt von größerer Lebendigkeit als jede Fotografie. So machen viele kleine Tiere ein großes Buch. Seine zehn Teile liegen nun vor. Und sie besitzen Hautgoût.
TOBIAS LEHMKUHL
Jean-Henri Fabre: Erinnerungen eines Insektenforschers X. Übersetzt von Friedrich Koch und Ulrich Kunzmann, bearbeitet von Heide Lipecky. Matthes und Seitz, Berlin 2020. 352 Seiten, 36,90 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2020Der Insektendichter
Gemetzel der Goldlaufkäfer und Schmetterlingsschreie - über das Werk des großen Naturforschers Jean-Henri Fabre
Während Jean-Henri Fabre sein Kapitel zur Ernährung der Goldlaufkäfer schrieb, fielen ihm die Schlachthöfe von Chicago ein. Diese entsetzlichen Fleischfabriken, wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts pro Jahr 1,1 Millionen Rinder und 1,75 Millionen Schweine zerlegt wurden, die lebend in die Maschine hinein- und am anderen Ende in Form von Konserven, Schmalz, Würsten und Rollschinken wieder herauskamen, erschienen Fabre als der angemessene Vergleich, um das Tempo der Goldlaufkäfer beim Schlachten zu veranschaulichen.
25 Käfer hatte er für seinen Versuch in einem großen Glaskäfig versammelt. Während die Käfer dort in einem Unterschlupf vor sich hin dämmerten, setzte Fabre etwa 150 Pinien-Prozessionsspinnerraupen in den Käfig, um sehr genau zu beobachten wie sich die "Mörderbande" auf die Raupen stürzte. Da gab es dann Mandibelnhiebe vorn, hinten, in der Mitte der Raupenprozession, auf den Rücken, den Bauch, kurz: Kein Raupenkörperteil blieb ungeschlagen. Die rauhen Raupenhäute rissen, ein Strom von Eingeweiden ergoss sich, grün von den gefressenenen Piniennadeln, und wie die Raupen sich auch wanden, um sich schlugen, bissen, spuckten oder versuchten sich einzugraben - ein Entrinnen gab es nicht.
Wer das Ohr der Phantasie hat, der hätte in dieser stummen Welt der Käfer und Raupen den entsetzlichen Lärm des Mordens in Chicagos Schlachthöfen gehört. Und das mindeste, was man von Fabre sagen kann, ist, das er dieses Ohr hatte. Wie Aristoteles und Jim Morrison hat Jean-Henri Fabre den Schrei des Schmetterlings nicht nur gehört, er wusste auch um seine schrecklichen Bedeutungen. Und das flößt ihm angesichts des Gemetzels, das seine Goldlaufkäfer unter den Raupen angerichtet haben, kurz ein schlechtes Gewissen ein, hindert ihn aber nicht daran festzuhalten, dass das Tötungstempo der Käfer bis dahin noch von keinem Schlachthof erreicht worden ist.
Wenn man einmal kurz von der Eindringlichkeit von Fabres Beschreibung absieht, enthält diese kurze Passage genau das Element, das Fabres bestimmenden Einfluss auf die gesamte Verhaltenforschung des 20. Jahrhunderts erklärt, nämlich die Überführung der Beobachtung im Freiland in ein scheinbar einfaches Experiment. In ein Experiment, das wie oben im Labor stattfinden kann, in der Regel aber vor Ort, im Freiland die Tiere provoziert. So wartet er etwa, bis eine Wespe ihre Beute kurz unbeaufsichtigt ablegt, weil sie in ihr Erdnest absteigen will, entwendet das reglose Beutetier und registriert mit atemloser Neugier den Zorn der Wespe, als sie bemerkt, dass ihr Opfer verschwunden ist.
"Beobachtung stellt vor ein Problem, das Experiment löst es auf", schrieb Fabre und formulierte damit einen Leitsatz, der seine volle wissenschaftliche Entfaltung und Anerkennung erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Arbeiten des Bienentanzentdeckers Karl von Frisch, des Gänsevaters Konrad Lorenz und des niederländischen Möwenkenners und Begründers der Verhaltensökologie Niko Tinbergen finden wird, die 1973 mit dem Nobelpreis für Medizin oder Physiologie ausgezeichnet werden. Ein Preis, der an die drei ausdrücklich für ihre allgemeinverständliche Forschung verliehen wurde, die die Geheimnisse tierischer Existenz erhellte und weitreichende Einsichten in das menschliche Wesen versprach. Dabei wussten die Nobelpreisträger sehr genau, wer die Wurzeln ihres Erfolges gesetzt hatte, der wesentlich darin bestand, dass sie alle ihre Forschungen immer in populärwissenschaftlichen Büchern unter die Leute gebracht hatten.
Im Grunde war dieser Nobelpreis auch eine verschobene Anerkennung für Fabre, der schon Schulbücher und populärwissenschaftliche Bücher schrieb, als diese Gattung kaum Bedeutung hatte, und der die ersten Nachweise von Orientierungsbewegungen bei Tieren überhaupt geliefert hatte. Und dass man diesen Einfluss Fabres und seine Grundlegung einer auf Beobachtung und Experiment beruhenden Schreibweise über das Verhalten von Tieren nachvollziehen kann, ist eines der großen Verdienste des jetzt mit dem zehnten Band ans Ende gekommenen Projekts der vollständigen Übersetzung von Fabres "Erinnerungen eines Insektenforschers" im Verlag Matthes & Seitz. Wobei dem Übersetzer Friedrich Koch und dem Zeichner Christian Thanhäuser, dessen Federzeichnungen gerade in ihrer Zurückhaltung Fabres Sprachmacht angemessen tragen, mindestens so viel Lob gebührt wie dem Verlag für seine Ausdauer.
Was 2010 mit dem ersten Band begann, ist jetzt unter anderem mit der Erzählung vom großen Goldlaufkäfergemetzel an ein Ende gekommen, dessen Wirkung noch kaum absehbar ist. Die "Erinnerungen eines Insektenforschers" fallen nämlich in eine Zeit, in der die Methode der Beobachtung und des Experiments an Tieren im Freien immer mehr aus den Wissenschaften verschwindet und in Kunst und Literatur abwandert. In zwei Gattungen also, die Fabre schon zu schätzen wusste, als die Wissenschaftler der Akademien noch die Nase rümpften, wenn nur der Name fiel.
Was aber nicht heißen soll, dass Fabre nicht auch zu Lebzeiten von Wissenschaftlern geschätzt wurde. Die in den Bänden der Übersetzung dokumentierte Korrespondenz mit Charles Darwin zeugt davon. Der Briefwechsel zeigt aber noch ein anderes Phänomen, das Fabres Leben wie Nachleben in der Wissenschaft immer begleitete: eine riesige Wertschätzung über einen scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz hinaus.
Fabre war ein entschiedener Gegner jeder Evolutiontheorie. Die Transformation der Arten, die Veränderung von Tieren und Pflanzen als Produkt der Anpassung an veränderte Lebensumstände, lehnte er entschieden ab. Für ihn taten die Tiere, vor allem natürlich seine Insekten und unter ihnen besonders die geliebten Raub- und Grabwespen, was sie immer taten, von Anfang an. Wenn eine bestimmte Wespenart über die Generationen, die er beobachtet hatte, bei der Jagd immer wieder ihren Beutelarven an einem bestimmten Glied des Körpers den tödlichen Stich versetzte, dann war es der Instinkt, der sie leitete und nicht Evolution und Anpassung. Und dieser Instinkt war so etwas wie die Maschine, die die ewige Wiederkehr des Immergleichen antrieb.
Um diesen Instinktanleitungen bis ins kleinste Detail nachzugehen, hatte Fabre sich 1879 im Alter von 56 Jahren in Serignan-du-Comtat, in der Nähe von Orange, zweieinhalb Morgen Land mit einem prächtigen Haus gekauft, in dem er bis zu seinem Tod im Jahr 1915 lebte. Das Haus und den Garten, mit einer dicken Mauer versehen, hat er danach kaum noch verlassen, allerdings grundlegend über die Jahre umgestaltet. Die "Erinnerungen" sind auch eine Auseinandersetzung mit diesem Grundstück. Fabre nannte den Insektengarten "L'Harmas", wie steinige, von Thymian überwachsene Brachen hießen, und er ist der erste Dokumentarist der Besiedlung von halbfertigen Mauern um Grundstücke. Denn wenn der Sand für die Mauer eine Zeitlang liegen geblieben war, begann die Besiedlung durch Käfer, Wespen und andere sofort, und die Beobachtung der Tiere wurde wichtiger als die Fertigstellung des Bauobjekts.
Die Maden, die dann irgendwann im Zyklus der Insektenentwicklung auftraten, hatten so auch Macht über Fabres Welt, indem sie seine Aufmerksamkeit fesselten. Die Geheimnisse, die die Insektennachbarn mit sich herumtrugen, wollte er allen zugänglich machen, ihre Erforschung blieb aber den geduldigen Biographen, die mit Geschick den Tieren folgten, vorbehalten. Fabre verachtete Gelegenheitsbeobachter. Wenn so ein Beobachter ihm erzähle, ein Ding sei schwarz, denke er sofort, es sei bestimmt weiß. Ohne eine Kritik der Augen gab es für Fabre kein genaues Sehen, und der Schlüssel zur Genauigkeit waren Ausdauer, Geduld und ewige Wiederholung, jedenfalls so weit das Augenlicht trug.
Ähnlich streng hielt er es mit dem Schreiben. Über Tiere könnten nur die wenigsten schreiben, weil es dazu einer bestimmten Intuition bedürfe, die das Verhältnis von Fremdheit und Nähe, die jedes Tier in uns auslösen könne, immer in Bezug auf das spezifische Tier formulieren müsse. Nur wer wirklich auch experimentierend hingesehen hat, weiß überhaupt, wen er vor sich hat. Im Unterschied zu den Akademiewissenschaftlern war den Literaten unter den Zeitgenossen auch aufgefallen, wie weit Fabre mit seinem Schreiben gekommen war. Victor Hugo nannte ihn den Homer der Insekten, und für den Autor des "Cyrano de Bergerac", Edmond Rostand, war er der "Vergil der Insekten". Unter Dichtern ging die Verehrung so weit, dass Frédéric Mistral Fabres Nominierung für den Literaturnobelpreis 1911 unterstützte, den dann Maurice Maeterlinck, ein anderer Insektendichter, bekam. Fabre hinterließ aber auch Spuren in großen Werken der Literatur. So kann man die ersten Seiten von Prousts "Sodom und Gomorrha", auf denen Monsieur de Charlus seine "künstliche Munterkeit" ablegt, weil er wie ein Insekt eine neue, bisher unbekannte Blüte in Form eines jungen Mannes entdeckt, bis in die Beobachterposition des Erzählers hinein als Hommage an Fabre lesen.
Das Problem war nur, dass sich Fabre für diese Wertschätzung nichts kaufen konnte. Da war es gut, dass er einen wohlhabenden englischen Philosophen, John Stuart Mill, zum Freund gewinnen konnte. Mill, der in die Provence gezogen war, weil er in der Nähe des Grabs seiner Frau, der Feministin Harriet Taylor, sein wollte, finanzierte Fabre über Jahre, als dieser aufgrund des klerikalen Widerstands gegen die Erziehungsreform unter Napoleon III. aus dem Schuldienst entlassen worden war. Fabre hatte seine Kurse in Naturwissenschaften ausdrücklich auch für Mädchen angeboten und damit wohl doppelten Ärger heraufbeschworen.
Woraus folgt, dass für den Theoretiker des Instinkts, der jeden Lernprozess für das Leben der Insekten ablehnte und in Kontrast zum Denkvermögen stellte, der Kampf für die Emanzipation von Frauen und ihren Zugang zu Bildung und wissenschaftlichem Arbeiten kein Widerspruch war. Fabres Eindringen in die seiner Meinung nach mechanische und selbstregulative Welt der Insekten hat ihm nie den Blick für die emanzipatorischen Kräfte der Natur versperrt, die sich unter anderem dadurch ausdrückten, dass sie Menschen hervorbrachte, die wie John Stuart Mill in Sklaven Menschen erkannten und für deren Befreiung kämpften.
CORD RIECHELMANN.
Jean-Henri Fabre: "Erinnerungen eines Insektenforschers X". Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, Friedrich Koch, Heide Lipecky, Milena Adam. Matthes & Seitz, 400 Seiten, 36,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gemetzel der Goldlaufkäfer und Schmetterlingsschreie - über das Werk des großen Naturforschers Jean-Henri Fabre
Während Jean-Henri Fabre sein Kapitel zur Ernährung der Goldlaufkäfer schrieb, fielen ihm die Schlachthöfe von Chicago ein. Diese entsetzlichen Fleischfabriken, wo zu Beginn des 20. Jahrhunderts pro Jahr 1,1 Millionen Rinder und 1,75 Millionen Schweine zerlegt wurden, die lebend in die Maschine hinein- und am anderen Ende in Form von Konserven, Schmalz, Würsten und Rollschinken wieder herauskamen, erschienen Fabre als der angemessene Vergleich, um das Tempo der Goldlaufkäfer beim Schlachten zu veranschaulichen.
25 Käfer hatte er für seinen Versuch in einem großen Glaskäfig versammelt. Während die Käfer dort in einem Unterschlupf vor sich hin dämmerten, setzte Fabre etwa 150 Pinien-Prozessionsspinnerraupen in den Käfig, um sehr genau zu beobachten wie sich die "Mörderbande" auf die Raupen stürzte. Da gab es dann Mandibelnhiebe vorn, hinten, in der Mitte der Raupenprozession, auf den Rücken, den Bauch, kurz: Kein Raupenkörperteil blieb ungeschlagen. Die rauhen Raupenhäute rissen, ein Strom von Eingeweiden ergoss sich, grün von den gefressenenen Piniennadeln, und wie die Raupen sich auch wanden, um sich schlugen, bissen, spuckten oder versuchten sich einzugraben - ein Entrinnen gab es nicht.
Wer das Ohr der Phantasie hat, der hätte in dieser stummen Welt der Käfer und Raupen den entsetzlichen Lärm des Mordens in Chicagos Schlachthöfen gehört. Und das mindeste, was man von Fabre sagen kann, ist, das er dieses Ohr hatte. Wie Aristoteles und Jim Morrison hat Jean-Henri Fabre den Schrei des Schmetterlings nicht nur gehört, er wusste auch um seine schrecklichen Bedeutungen. Und das flößt ihm angesichts des Gemetzels, das seine Goldlaufkäfer unter den Raupen angerichtet haben, kurz ein schlechtes Gewissen ein, hindert ihn aber nicht daran festzuhalten, dass das Tötungstempo der Käfer bis dahin noch von keinem Schlachthof erreicht worden ist.
Wenn man einmal kurz von der Eindringlichkeit von Fabres Beschreibung absieht, enthält diese kurze Passage genau das Element, das Fabres bestimmenden Einfluss auf die gesamte Verhaltenforschung des 20. Jahrhunderts erklärt, nämlich die Überführung der Beobachtung im Freiland in ein scheinbar einfaches Experiment. In ein Experiment, das wie oben im Labor stattfinden kann, in der Regel aber vor Ort, im Freiland die Tiere provoziert. So wartet er etwa, bis eine Wespe ihre Beute kurz unbeaufsichtigt ablegt, weil sie in ihr Erdnest absteigen will, entwendet das reglose Beutetier und registriert mit atemloser Neugier den Zorn der Wespe, als sie bemerkt, dass ihr Opfer verschwunden ist.
"Beobachtung stellt vor ein Problem, das Experiment löst es auf", schrieb Fabre und formulierte damit einen Leitsatz, der seine volle wissenschaftliche Entfaltung und Anerkennung erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Arbeiten des Bienentanzentdeckers Karl von Frisch, des Gänsevaters Konrad Lorenz und des niederländischen Möwenkenners und Begründers der Verhaltensökologie Niko Tinbergen finden wird, die 1973 mit dem Nobelpreis für Medizin oder Physiologie ausgezeichnet werden. Ein Preis, der an die drei ausdrücklich für ihre allgemeinverständliche Forschung verliehen wurde, die die Geheimnisse tierischer Existenz erhellte und weitreichende Einsichten in das menschliche Wesen versprach. Dabei wussten die Nobelpreisträger sehr genau, wer die Wurzeln ihres Erfolges gesetzt hatte, der wesentlich darin bestand, dass sie alle ihre Forschungen immer in populärwissenschaftlichen Büchern unter die Leute gebracht hatten.
Im Grunde war dieser Nobelpreis auch eine verschobene Anerkennung für Fabre, der schon Schulbücher und populärwissenschaftliche Bücher schrieb, als diese Gattung kaum Bedeutung hatte, und der die ersten Nachweise von Orientierungsbewegungen bei Tieren überhaupt geliefert hatte. Und dass man diesen Einfluss Fabres und seine Grundlegung einer auf Beobachtung und Experiment beruhenden Schreibweise über das Verhalten von Tieren nachvollziehen kann, ist eines der großen Verdienste des jetzt mit dem zehnten Band ans Ende gekommenen Projekts der vollständigen Übersetzung von Fabres "Erinnerungen eines Insektenforschers" im Verlag Matthes & Seitz. Wobei dem Übersetzer Friedrich Koch und dem Zeichner Christian Thanhäuser, dessen Federzeichnungen gerade in ihrer Zurückhaltung Fabres Sprachmacht angemessen tragen, mindestens so viel Lob gebührt wie dem Verlag für seine Ausdauer.
Was 2010 mit dem ersten Band begann, ist jetzt unter anderem mit der Erzählung vom großen Goldlaufkäfergemetzel an ein Ende gekommen, dessen Wirkung noch kaum absehbar ist. Die "Erinnerungen eines Insektenforschers" fallen nämlich in eine Zeit, in der die Methode der Beobachtung und des Experiments an Tieren im Freien immer mehr aus den Wissenschaften verschwindet und in Kunst und Literatur abwandert. In zwei Gattungen also, die Fabre schon zu schätzen wusste, als die Wissenschaftler der Akademien noch die Nase rümpften, wenn nur der Name fiel.
Was aber nicht heißen soll, dass Fabre nicht auch zu Lebzeiten von Wissenschaftlern geschätzt wurde. Die in den Bänden der Übersetzung dokumentierte Korrespondenz mit Charles Darwin zeugt davon. Der Briefwechsel zeigt aber noch ein anderes Phänomen, das Fabres Leben wie Nachleben in der Wissenschaft immer begleitete: eine riesige Wertschätzung über einen scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz hinaus.
Fabre war ein entschiedener Gegner jeder Evolutiontheorie. Die Transformation der Arten, die Veränderung von Tieren und Pflanzen als Produkt der Anpassung an veränderte Lebensumstände, lehnte er entschieden ab. Für ihn taten die Tiere, vor allem natürlich seine Insekten und unter ihnen besonders die geliebten Raub- und Grabwespen, was sie immer taten, von Anfang an. Wenn eine bestimmte Wespenart über die Generationen, die er beobachtet hatte, bei der Jagd immer wieder ihren Beutelarven an einem bestimmten Glied des Körpers den tödlichen Stich versetzte, dann war es der Instinkt, der sie leitete und nicht Evolution und Anpassung. Und dieser Instinkt war so etwas wie die Maschine, die die ewige Wiederkehr des Immergleichen antrieb.
Um diesen Instinktanleitungen bis ins kleinste Detail nachzugehen, hatte Fabre sich 1879 im Alter von 56 Jahren in Serignan-du-Comtat, in der Nähe von Orange, zweieinhalb Morgen Land mit einem prächtigen Haus gekauft, in dem er bis zu seinem Tod im Jahr 1915 lebte. Das Haus und den Garten, mit einer dicken Mauer versehen, hat er danach kaum noch verlassen, allerdings grundlegend über die Jahre umgestaltet. Die "Erinnerungen" sind auch eine Auseinandersetzung mit diesem Grundstück. Fabre nannte den Insektengarten "L'Harmas", wie steinige, von Thymian überwachsene Brachen hießen, und er ist der erste Dokumentarist der Besiedlung von halbfertigen Mauern um Grundstücke. Denn wenn der Sand für die Mauer eine Zeitlang liegen geblieben war, begann die Besiedlung durch Käfer, Wespen und andere sofort, und die Beobachtung der Tiere wurde wichtiger als die Fertigstellung des Bauobjekts.
Die Maden, die dann irgendwann im Zyklus der Insektenentwicklung auftraten, hatten so auch Macht über Fabres Welt, indem sie seine Aufmerksamkeit fesselten. Die Geheimnisse, die die Insektennachbarn mit sich herumtrugen, wollte er allen zugänglich machen, ihre Erforschung blieb aber den geduldigen Biographen, die mit Geschick den Tieren folgten, vorbehalten. Fabre verachtete Gelegenheitsbeobachter. Wenn so ein Beobachter ihm erzähle, ein Ding sei schwarz, denke er sofort, es sei bestimmt weiß. Ohne eine Kritik der Augen gab es für Fabre kein genaues Sehen, und der Schlüssel zur Genauigkeit waren Ausdauer, Geduld und ewige Wiederholung, jedenfalls so weit das Augenlicht trug.
Ähnlich streng hielt er es mit dem Schreiben. Über Tiere könnten nur die wenigsten schreiben, weil es dazu einer bestimmten Intuition bedürfe, die das Verhältnis von Fremdheit und Nähe, die jedes Tier in uns auslösen könne, immer in Bezug auf das spezifische Tier formulieren müsse. Nur wer wirklich auch experimentierend hingesehen hat, weiß überhaupt, wen er vor sich hat. Im Unterschied zu den Akademiewissenschaftlern war den Literaten unter den Zeitgenossen auch aufgefallen, wie weit Fabre mit seinem Schreiben gekommen war. Victor Hugo nannte ihn den Homer der Insekten, und für den Autor des "Cyrano de Bergerac", Edmond Rostand, war er der "Vergil der Insekten". Unter Dichtern ging die Verehrung so weit, dass Frédéric Mistral Fabres Nominierung für den Literaturnobelpreis 1911 unterstützte, den dann Maurice Maeterlinck, ein anderer Insektendichter, bekam. Fabre hinterließ aber auch Spuren in großen Werken der Literatur. So kann man die ersten Seiten von Prousts "Sodom und Gomorrha", auf denen Monsieur de Charlus seine "künstliche Munterkeit" ablegt, weil er wie ein Insekt eine neue, bisher unbekannte Blüte in Form eines jungen Mannes entdeckt, bis in die Beobachterposition des Erzählers hinein als Hommage an Fabre lesen.
Das Problem war nur, dass sich Fabre für diese Wertschätzung nichts kaufen konnte. Da war es gut, dass er einen wohlhabenden englischen Philosophen, John Stuart Mill, zum Freund gewinnen konnte. Mill, der in die Provence gezogen war, weil er in der Nähe des Grabs seiner Frau, der Feministin Harriet Taylor, sein wollte, finanzierte Fabre über Jahre, als dieser aufgrund des klerikalen Widerstands gegen die Erziehungsreform unter Napoleon III. aus dem Schuldienst entlassen worden war. Fabre hatte seine Kurse in Naturwissenschaften ausdrücklich auch für Mädchen angeboten und damit wohl doppelten Ärger heraufbeschworen.
Woraus folgt, dass für den Theoretiker des Instinkts, der jeden Lernprozess für das Leben der Insekten ablehnte und in Kontrast zum Denkvermögen stellte, der Kampf für die Emanzipation von Frauen und ihren Zugang zu Bildung und wissenschaftlichem Arbeiten kein Widerspruch war. Fabres Eindringen in die seiner Meinung nach mechanische und selbstregulative Welt der Insekten hat ihm nie den Blick für die emanzipatorischen Kräfte der Natur versperrt, die sich unter anderem dadurch ausdrückten, dass sie Menschen hervorbrachte, die wie John Stuart Mill in Sklaven Menschen erkannten und für deren Befreiung kämpften.
CORD RIECHELMANN.
Jean-Henri Fabre: "Erinnerungen eines Insektenforschers X". Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, Friedrich Koch, Heide Lipecky, Milena Adam. Matthes & Seitz, 400 Seiten, 36,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main