Produktdetails
- Verlag: ars una
- 1994.
- Seitenzahl: 376
- Deutsch
- Abmessung: 230mm
- Gewicht: 554g
- ISBN-13: 9783893913541
- ISBN-10: 3893913548
- Artikelnr.: 05408292
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2017Seele statt Kalkül
Die Erinnerungen des Schriftstellers François-René de Chateaubriand sind ein großartiger Roman, der in dem Moment beginnt, wo Napoleon auftaucht
Im Oktober 1811 beginnt François-René de Chateaubriand damit, sein Leben aufzuschreiben. Er ist 43 Jahre alt und sitzt in seinem Schloss im Vallée-aux-Loups auf der Île-de-France. Er war nicht sterbenskrank, er war nicht in Gefahr. Was trieb ihn an? Er starb erst im Juli 1848. Über 37 Jahre seines Lebens, fast die Hälfte, begleiten ihn seine Memoiren, die in die Nähe von Tagebüchern rücken würden, wenn es dem Autor, der so früh mit der Niederschrift begann, darum zu tun gewesen wäre, nur aufzuschreiben, was er erlebt hatte. Es ging ihm um viel mehr.
Wenige Monate nach seinem Tod werden die Memoiren im Feuilleton der Zeitung "La Presse" abgedruckt, so berühmt war Chateaubriand unter seinen Zeitgenossen. Der Titel, den sie tragen, "Erinnerungen von jenseits des Grabes", lässt aufhorchen. Hier schreibt einer sein Leben auf, nicht am Ende, nachdem er als aktiver Bürger und neugieriger Mensch gestorben ist und gleichsam zu Grabe getragen wurde, sondern im Wissen über die Hinfälligkeit allen menschlichen Liebens, Leidens und Strebens. Das Grab, von dem hier programmatisch die Rede ist, beschreibt eine Philosophie, es ist eine Metapher für ein Leben, das überall, auf den Gipfeln des Ehrgeizes, der Leidenschaften und des Erfolgs sowie in den Tälern der Neigungen und der Sorgen den Tod, den Niedergang, den Verfall, die Ruinen sieht.
Kaum hat er mitgeteilt, wann er den Entschluss fasste, die Memoiren zu schreiben, taucht der Mann auf, der nicht nur Chateaubriand, sondern alle Zeitgenossen in Europa zu Bewunderung und Hass hinriss, sie verwirrte und erbitterte, befreite und besiegte, beschämte und erhob: Napoleon. Die wegen ihrer Schönheit berühmte und bewunderte Juliette Récamier mag die große Liebe von Chateaubriand, der verheiratet war, gewesen sein, Napoleon, der aus dem Nichts kam und sich die Welt unterwarf, blieb für ihn die größte Herausforderung seiner seelischen Konstitution, eine ständige Mahnung daran, was es heißt, dem Willen zum Leben radikal nachzugeben, es diesseits des Grabes zu führen, ohne dass der Gedanke an Tod und Verfall ihm in die Quere kam. Konnte es sein, durfte es sein, dass Napoleon recht hatte und ein Leben sich vergeudete, das sich nicht bedingungslos verausgabte?
Am 14. Juli 1789, als die Bastille gestürmt wird, ist Chateaubriand in Paris. Er wohnt in einem Hotel und weiß nicht, was aus ihm werden soll, er hat einen Termin, er soll sich beim König vorstellen. Er ist ein schüchterner junger Mann, der dichtet und schwärmt und den Vögeln zuhört. Er sehnt sich nach der Liebe der Frauen, kennt aber nur Schwester und Mutter und kriegt kein Wort heraus, wenn er einer gegenübersteht. Eine Frau wird ihn bei einer zufälligen Gelegenheit an sich drücken und ihn, der drauf und dran war, sich in sich selbst zu vergraben und zu einem Bündel von Verhaltensauffälligkeiten zu werden, auf den Weg der Erlösung durch Austausch, Mischung und Mitteilung setzen.
Chateaubriand stammt aus einer bretonischen Adelsfamilie, die ihren Niedergang und den Einzug der Armut aufzuhalten versucht. Zwei Jahre seiner Jugend, vom sechzehnten bis zum achtzehnten Lebensjahr, wohnt er mit seiner Familie, Vater, Mutter, Schwester, in einem großen Schloss, das den ganzen Tag schweigt und nachts Schauermärchen erzählt, er träumt vor sich hin, streift durch die Gegend, liest, schaut in den Mond und unterhält sich mit seinen Phantasiegestalten, unter denen sich die schönste aller Frauen befindet, die gar nicht anders kann, als ihm zu winken und ihm zuzulächeln. Zur Marine wollte er nicht gehen, das heißt, er ging und kam nach kurzer Zeit wieder zurück.
In Paris fasst er unter den Intellektuellen ein wenig Fuß. Das reicht nicht, er will mehr, er weiß nicht, was. Im April 1791 besteigt er ein Schiff und fährt in die Vereinigten Staaten. Die Reise sieht aus wie eine Flucht aus der Zeit, deren epochalen Herausforderungen sich einer nur entziehen kann, wenn er den Kontinent wechselt. Er habe mit George Washington geredet, schreibt er in seinen Memoiren, aber das stimmt nicht, wie Forscher viel später herausfanden. Er reist ins Landesinnere und sitzt mit den Letzten einer von der christlichen Zivilisation ausgerotteten Urbevölkerung am Feuer. Als er in einer Zeitung liest, dass Ludwig XVI. aus Paris geflohen sei, packt ihn in der Wildnis ein Gefühl der Verantwortung für sein Land, für dessen Geschichte und Tradition, und er fährt nach Frankreich zurück. Im Januar 1792 betritt er wieder europäischen Boden. Napoleon macht gerade Urlaub auf Korsika.
Er wird viel reisen, nach Venedig, Rom, Jerusalem, Prag, London, Genf, Neapel. Im Juli 1792 verlässt er Frankreich und schließt sich dem Emigrantenheer an, das gegen die Revolution in den Kampf zieht. Er wird verwundet, ist schwerkrank und landet in London. Dort lebt er sieben Jahre in bitterer Armut. Im Mai 1800, Napoleons Stern steigt unaufhaltsam, kehrt Chateaubriand nach Frankreich zurück, im Gepäck sein Manuskript über den Geist des Christentums. Das Buch erscheint zwei Jahre darauf, im selben Jahr, in dem Napoleon sich mit dem Vatikan aussöhnt, und macht ihn berühmt. Frankreich scheint wieder offen katholisch werden zu können.
Chateaubriand tritt in den Staatsdienst ein und geht 1803 nach Rom, er tritt aus dem Staatsdienst aus und reist im Juli 1806 in den Orient, nach Griechenland, Konstantinopel, Kairo, Karthago, den Nil rauf. Im April 1807 ist er wieder in Frankreich. Wenige Monate später kauft er das Schloss, in dem er mit der Niederschrift der Memoiren beginnt. Er hat etwas zu erzählen, er hat etwas erlebt, er ist ein Zeuge seiner Zeit, ein Dichter, ein Intellektueller. Auf welcher Seite steht er?
Er lebt in vollen Zügen, aber den Verfall, die Wiederkehr des Gleichen sieht er überall. Er ist kein Anhänger Napoleons, aber er gehört zu seinen Bewunderern. Napoleon ist ein Genie der Selbstverwirklichung. Er selbst sei nicht ehrgeizig, beteuert er, aber er liebt den Ruhm genug, um sich rechtzeitig um seinen Nachruhm zu kümmern und seine Erinnerungen aufzuschreiben. Er verteidigt die konstitutionelle Monarchie und besteht darauf, dass die Rechte des Volkes, der Regierung eingehalten werden. Ein Intellektueller gehört keiner Partei an, der er nach dem Mund reden müsste, sondern dem Recht, das er bewahrt, fordert und auslegt. Er tritt für die Pressefreiheit ein, die neue Gewalt auf der politischen Bühne, die lobt, kritisiert und kontrolliert, was passiert. Ein Schriftsteller muss frei reden und schreiben dürfen, wenn er ein Schriftsteller sein möchte, ein Souverän der Worte. Er steht nicht auf der Seite der Royalisten, die sich der neuen Zeit, die nicht aufzuhalten ist, in den Weg stellen und die proklamierten Rechte behandeln wie ihre Diener, die sie einstellen oder entlassen, wie es ihnen gefällt. Den König würde er loben, der es verstünde, zur rechten Zeit, die unweigerlich mit dem Fortschritt kommt, abzudanken.
Die Erfahrung, dass das Grab, in das das Leben sinkt, allgegenwärtig ist, der Verfall dem Werden innewohnt wie die Nacht dem Tag, macht Chateaubriand beweglich, er klammert sich nicht an die Geländer einer Tradition, die sich überlebt hat. Aus dem abendlichen Vorschein der Ruinen, in die sich alle Formen des Lebens verwandeln, zieht seine Seele die Kraft, aufzubrechen und ins Ungewisse zu schauen. In manchen Stunden der Geschichte hielt er sich für einen politischen Propheten, der Entwicklungen voraussah, den Verfall der Individualität, die Ankunft der Arbeitsbienen.
War er nicht, so weit geht er, ohne es mit einem Wort zu sagen, Napoleon in gewissem Sinne überlegen, dem Beherrscher der Gegenwart, und allen anderen, die sich der Gegenwart unterwarfen, um aus ihr einen Nutzen zu ziehen? War er ihm nicht überlegen als Intellektueller, der sich dank seiner romantischen Verfallsstimmung, dank seiner aufschäumenden Melancholie aus der Umklammerung der unmittelbaren Interessen zu lösen glaubte und deswegen in der Lage war, nach den Pflichten zu suchen, die die Geschichte ihm und seinen Zeitgenossen stellte?
Als politischer Publizist macht er sich einen Namen, Freunde und Feinde. Ohne ihn, sagt er mit einem Selbstbewusstsein, das an träumerische Vermessenheit grenzt, hätten sich die Segel, die die Ereignisse vorantreiben, nicht immer so gebläht, wie es notwendig war. Er wird unter Louis VIII. Staatsminister und in den Hochadel erhoben, dann zieht er sich den Zorn der Regierenden zu. Er wird Gesandter in Berlin, dann Gesandter in London und Botschafter in Rom. Als Karl X. im Jahr 1830 abdanken muss, legt der Schriftsteller im Staatsdienst alle Ämtern nieder. Vier Jahre später zieht er sich aus dem öffentlichen politischen Leben zurück. Mit seiner Ehefrau wohnt er in einem kleinen Haus in Paris.
Müssen wir alles glauben, was Chateaubriand in seinen Memoiren erzählt? Das Buch ist ein Kunstwerk, ein Denkmal von eigener Hand, um das eigene Nachleben zu sichern, es vor dem restlosen Vergehen zu schützen und in Worten, die noch da sein werden, wenn von den Taten, die Jahrhunderte prägen, nur schwache Erinnerungen übrig sind, seinen Glanz zu bewahren, seine Individualität und Größe.
Wie und wann wurde aus dem jungen Schwärmer ein Intellektueller, der sich engagierte? Die Revolution holte ihn aus seinen Träumereien und riss ihn in die Wirklichkeit. Die Ereignisse zwangen ihn, etwas zu tun, sich zu zeigen. Der Tod des Königs trieb ihn aus der neuen Welt, wo er nichts verloren hatte, in die alte, nach Frankreich zurück, mitten in den Kampf. Er war Franzose, ein Adliger. Das Land zerfiel in Anhänger und Gegner der Revolution, in Franzosen, die blieben, und in Franzosen, die emigrierten. Sein Buch über den Geist des Christentums kam zur rechten Zeit, es war mehr als eine historische Studie, es war ein geistiger Akt, der soziale und politische Kräfte mobilisierte. Er hat sich nicht kaufen lassen, sein Leben verlief nicht kontinuierlich, dem Aufstieg folgte der Niedergang, auf Armut folgten Reichtum und dann wieder tiefe Bescheidenheit.
Vor den Torheiten der Mittelmäßigen und der Machtbesessenen, die sich an ihre Posten klammern und darüber sich selbst vergessen, schützte ihn der Blick auf den Verfall des Lebens, sein christliches Gemüt, dass sich vom Weltlichen nicht gefangennehmen ließ. Er behielt die Ewigkeit im Blick, die Nichtigkeit allen Strebens, die Unerbittlichkeit der Zeit, die alles fraß. Dass er Napoleon überlebte, dass er ihm einen Nachruf in seinen Memoiren nachschicken konnte, muss ihn nicht befriedigt, aber in seiner existentiellen Neigung, dass er sich dem Leben nicht völlig überließ, bestätigt haben. Der Dichter und nicht der Täter, die Vergänglichkeit und nicht die Macht, das Vergehen und nicht das Beharren, die romantische Seele und nicht der kalkulierende Geist hatten in seinem Fall das letzte Wort, in einem großartigen Roman der Erinnerungen an eine Gegenwart, die verging, kaum dass sie aufgetaucht war.
EBERHARD RATHGEB
François-René de Chateaubriand: "Erinnerungen von jenseits des Grabes". Herausgegeben und mit einem Nachwort von Sigrid von Massenbach. Mit einem Essay von Ursula Pia Jauch. Matthes & Seitz, 895 Seiten, 38 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Erinnerungen des Schriftstellers François-René de Chateaubriand sind ein großartiger Roman, der in dem Moment beginnt, wo Napoleon auftaucht
Im Oktober 1811 beginnt François-René de Chateaubriand damit, sein Leben aufzuschreiben. Er ist 43 Jahre alt und sitzt in seinem Schloss im Vallée-aux-Loups auf der Île-de-France. Er war nicht sterbenskrank, er war nicht in Gefahr. Was trieb ihn an? Er starb erst im Juli 1848. Über 37 Jahre seines Lebens, fast die Hälfte, begleiten ihn seine Memoiren, die in die Nähe von Tagebüchern rücken würden, wenn es dem Autor, der so früh mit der Niederschrift begann, darum zu tun gewesen wäre, nur aufzuschreiben, was er erlebt hatte. Es ging ihm um viel mehr.
Wenige Monate nach seinem Tod werden die Memoiren im Feuilleton der Zeitung "La Presse" abgedruckt, so berühmt war Chateaubriand unter seinen Zeitgenossen. Der Titel, den sie tragen, "Erinnerungen von jenseits des Grabes", lässt aufhorchen. Hier schreibt einer sein Leben auf, nicht am Ende, nachdem er als aktiver Bürger und neugieriger Mensch gestorben ist und gleichsam zu Grabe getragen wurde, sondern im Wissen über die Hinfälligkeit allen menschlichen Liebens, Leidens und Strebens. Das Grab, von dem hier programmatisch die Rede ist, beschreibt eine Philosophie, es ist eine Metapher für ein Leben, das überall, auf den Gipfeln des Ehrgeizes, der Leidenschaften und des Erfolgs sowie in den Tälern der Neigungen und der Sorgen den Tod, den Niedergang, den Verfall, die Ruinen sieht.
Kaum hat er mitgeteilt, wann er den Entschluss fasste, die Memoiren zu schreiben, taucht der Mann auf, der nicht nur Chateaubriand, sondern alle Zeitgenossen in Europa zu Bewunderung und Hass hinriss, sie verwirrte und erbitterte, befreite und besiegte, beschämte und erhob: Napoleon. Die wegen ihrer Schönheit berühmte und bewunderte Juliette Récamier mag die große Liebe von Chateaubriand, der verheiratet war, gewesen sein, Napoleon, der aus dem Nichts kam und sich die Welt unterwarf, blieb für ihn die größte Herausforderung seiner seelischen Konstitution, eine ständige Mahnung daran, was es heißt, dem Willen zum Leben radikal nachzugeben, es diesseits des Grabes zu führen, ohne dass der Gedanke an Tod und Verfall ihm in die Quere kam. Konnte es sein, durfte es sein, dass Napoleon recht hatte und ein Leben sich vergeudete, das sich nicht bedingungslos verausgabte?
Am 14. Juli 1789, als die Bastille gestürmt wird, ist Chateaubriand in Paris. Er wohnt in einem Hotel und weiß nicht, was aus ihm werden soll, er hat einen Termin, er soll sich beim König vorstellen. Er ist ein schüchterner junger Mann, der dichtet und schwärmt und den Vögeln zuhört. Er sehnt sich nach der Liebe der Frauen, kennt aber nur Schwester und Mutter und kriegt kein Wort heraus, wenn er einer gegenübersteht. Eine Frau wird ihn bei einer zufälligen Gelegenheit an sich drücken und ihn, der drauf und dran war, sich in sich selbst zu vergraben und zu einem Bündel von Verhaltensauffälligkeiten zu werden, auf den Weg der Erlösung durch Austausch, Mischung und Mitteilung setzen.
Chateaubriand stammt aus einer bretonischen Adelsfamilie, die ihren Niedergang und den Einzug der Armut aufzuhalten versucht. Zwei Jahre seiner Jugend, vom sechzehnten bis zum achtzehnten Lebensjahr, wohnt er mit seiner Familie, Vater, Mutter, Schwester, in einem großen Schloss, das den ganzen Tag schweigt und nachts Schauermärchen erzählt, er träumt vor sich hin, streift durch die Gegend, liest, schaut in den Mond und unterhält sich mit seinen Phantasiegestalten, unter denen sich die schönste aller Frauen befindet, die gar nicht anders kann, als ihm zu winken und ihm zuzulächeln. Zur Marine wollte er nicht gehen, das heißt, er ging und kam nach kurzer Zeit wieder zurück.
In Paris fasst er unter den Intellektuellen ein wenig Fuß. Das reicht nicht, er will mehr, er weiß nicht, was. Im April 1791 besteigt er ein Schiff und fährt in die Vereinigten Staaten. Die Reise sieht aus wie eine Flucht aus der Zeit, deren epochalen Herausforderungen sich einer nur entziehen kann, wenn er den Kontinent wechselt. Er habe mit George Washington geredet, schreibt er in seinen Memoiren, aber das stimmt nicht, wie Forscher viel später herausfanden. Er reist ins Landesinnere und sitzt mit den Letzten einer von der christlichen Zivilisation ausgerotteten Urbevölkerung am Feuer. Als er in einer Zeitung liest, dass Ludwig XVI. aus Paris geflohen sei, packt ihn in der Wildnis ein Gefühl der Verantwortung für sein Land, für dessen Geschichte und Tradition, und er fährt nach Frankreich zurück. Im Januar 1792 betritt er wieder europäischen Boden. Napoleon macht gerade Urlaub auf Korsika.
Er wird viel reisen, nach Venedig, Rom, Jerusalem, Prag, London, Genf, Neapel. Im Juli 1792 verlässt er Frankreich und schließt sich dem Emigrantenheer an, das gegen die Revolution in den Kampf zieht. Er wird verwundet, ist schwerkrank und landet in London. Dort lebt er sieben Jahre in bitterer Armut. Im Mai 1800, Napoleons Stern steigt unaufhaltsam, kehrt Chateaubriand nach Frankreich zurück, im Gepäck sein Manuskript über den Geist des Christentums. Das Buch erscheint zwei Jahre darauf, im selben Jahr, in dem Napoleon sich mit dem Vatikan aussöhnt, und macht ihn berühmt. Frankreich scheint wieder offen katholisch werden zu können.
Chateaubriand tritt in den Staatsdienst ein und geht 1803 nach Rom, er tritt aus dem Staatsdienst aus und reist im Juli 1806 in den Orient, nach Griechenland, Konstantinopel, Kairo, Karthago, den Nil rauf. Im April 1807 ist er wieder in Frankreich. Wenige Monate später kauft er das Schloss, in dem er mit der Niederschrift der Memoiren beginnt. Er hat etwas zu erzählen, er hat etwas erlebt, er ist ein Zeuge seiner Zeit, ein Dichter, ein Intellektueller. Auf welcher Seite steht er?
Er lebt in vollen Zügen, aber den Verfall, die Wiederkehr des Gleichen sieht er überall. Er ist kein Anhänger Napoleons, aber er gehört zu seinen Bewunderern. Napoleon ist ein Genie der Selbstverwirklichung. Er selbst sei nicht ehrgeizig, beteuert er, aber er liebt den Ruhm genug, um sich rechtzeitig um seinen Nachruhm zu kümmern und seine Erinnerungen aufzuschreiben. Er verteidigt die konstitutionelle Monarchie und besteht darauf, dass die Rechte des Volkes, der Regierung eingehalten werden. Ein Intellektueller gehört keiner Partei an, der er nach dem Mund reden müsste, sondern dem Recht, das er bewahrt, fordert und auslegt. Er tritt für die Pressefreiheit ein, die neue Gewalt auf der politischen Bühne, die lobt, kritisiert und kontrolliert, was passiert. Ein Schriftsteller muss frei reden und schreiben dürfen, wenn er ein Schriftsteller sein möchte, ein Souverän der Worte. Er steht nicht auf der Seite der Royalisten, die sich der neuen Zeit, die nicht aufzuhalten ist, in den Weg stellen und die proklamierten Rechte behandeln wie ihre Diener, die sie einstellen oder entlassen, wie es ihnen gefällt. Den König würde er loben, der es verstünde, zur rechten Zeit, die unweigerlich mit dem Fortschritt kommt, abzudanken.
Die Erfahrung, dass das Grab, in das das Leben sinkt, allgegenwärtig ist, der Verfall dem Werden innewohnt wie die Nacht dem Tag, macht Chateaubriand beweglich, er klammert sich nicht an die Geländer einer Tradition, die sich überlebt hat. Aus dem abendlichen Vorschein der Ruinen, in die sich alle Formen des Lebens verwandeln, zieht seine Seele die Kraft, aufzubrechen und ins Ungewisse zu schauen. In manchen Stunden der Geschichte hielt er sich für einen politischen Propheten, der Entwicklungen voraussah, den Verfall der Individualität, die Ankunft der Arbeitsbienen.
War er nicht, so weit geht er, ohne es mit einem Wort zu sagen, Napoleon in gewissem Sinne überlegen, dem Beherrscher der Gegenwart, und allen anderen, die sich der Gegenwart unterwarfen, um aus ihr einen Nutzen zu ziehen? War er ihm nicht überlegen als Intellektueller, der sich dank seiner romantischen Verfallsstimmung, dank seiner aufschäumenden Melancholie aus der Umklammerung der unmittelbaren Interessen zu lösen glaubte und deswegen in der Lage war, nach den Pflichten zu suchen, die die Geschichte ihm und seinen Zeitgenossen stellte?
Als politischer Publizist macht er sich einen Namen, Freunde und Feinde. Ohne ihn, sagt er mit einem Selbstbewusstsein, das an träumerische Vermessenheit grenzt, hätten sich die Segel, die die Ereignisse vorantreiben, nicht immer so gebläht, wie es notwendig war. Er wird unter Louis VIII. Staatsminister und in den Hochadel erhoben, dann zieht er sich den Zorn der Regierenden zu. Er wird Gesandter in Berlin, dann Gesandter in London und Botschafter in Rom. Als Karl X. im Jahr 1830 abdanken muss, legt der Schriftsteller im Staatsdienst alle Ämtern nieder. Vier Jahre später zieht er sich aus dem öffentlichen politischen Leben zurück. Mit seiner Ehefrau wohnt er in einem kleinen Haus in Paris.
Müssen wir alles glauben, was Chateaubriand in seinen Memoiren erzählt? Das Buch ist ein Kunstwerk, ein Denkmal von eigener Hand, um das eigene Nachleben zu sichern, es vor dem restlosen Vergehen zu schützen und in Worten, die noch da sein werden, wenn von den Taten, die Jahrhunderte prägen, nur schwache Erinnerungen übrig sind, seinen Glanz zu bewahren, seine Individualität und Größe.
Wie und wann wurde aus dem jungen Schwärmer ein Intellektueller, der sich engagierte? Die Revolution holte ihn aus seinen Träumereien und riss ihn in die Wirklichkeit. Die Ereignisse zwangen ihn, etwas zu tun, sich zu zeigen. Der Tod des Königs trieb ihn aus der neuen Welt, wo er nichts verloren hatte, in die alte, nach Frankreich zurück, mitten in den Kampf. Er war Franzose, ein Adliger. Das Land zerfiel in Anhänger und Gegner der Revolution, in Franzosen, die blieben, und in Franzosen, die emigrierten. Sein Buch über den Geist des Christentums kam zur rechten Zeit, es war mehr als eine historische Studie, es war ein geistiger Akt, der soziale und politische Kräfte mobilisierte. Er hat sich nicht kaufen lassen, sein Leben verlief nicht kontinuierlich, dem Aufstieg folgte der Niedergang, auf Armut folgten Reichtum und dann wieder tiefe Bescheidenheit.
Vor den Torheiten der Mittelmäßigen und der Machtbesessenen, die sich an ihre Posten klammern und darüber sich selbst vergessen, schützte ihn der Blick auf den Verfall des Lebens, sein christliches Gemüt, dass sich vom Weltlichen nicht gefangennehmen ließ. Er behielt die Ewigkeit im Blick, die Nichtigkeit allen Strebens, die Unerbittlichkeit der Zeit, die alles fraß. Dass er Napoleon überlebte, dass er ihm einen Nachruf in seinen Memoiren nachschicken konnte, muss ihn nicht befriedigt, aber in seiner existentiellen Neigung, dass er sich dem Leben nicht völlig überließ, bestätigt haben. Der Dichter und nicht der Täter, die Vergänglichkeit und nicht die Macht, das Vergehen und nicht das Beharren, die romantische Seele und nicht der kalkulierende Geist hatten in seinem Fall das letzte Wort, in einem großartigen Roman der Erinnerungen an eine Gegenwart, die verging, kaum dass sie aufgetaucht war.
EBERHARD RATHGEB
François-René de Chateaubriand: "Erinnerungen von jenseits des Grabes". Herausgegeben und mit einem Nachwort von Sigrid von Massenbach. Mit einem Essay von Ursula Pia Jauch. Matthes & Seitz, 895 Seiten, 38 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Fasziniert hat sich Rezensent Eberhard Rathgeb auf die Spuren von Francois-Rene de Chateaubriand begeben. Der Kritiker vermag zwar nicht zu sagen, ob alles stimmt, was Chateaubriand in seinen Memoiren erzählt, als meisterhaften Roman über die Entwicklung eines jungen Träumers zum großen Intellektuellen und die Prägung durch die Französische Revolution kann er das Buch aber nachdrücklich empfehlen. So begleitet der Rezensent den Autor auf seinen zahlreichen Reisen quer durch Europa, die Vereinigten Staaten und den Orient, liest, wie jener sich zerrissen zwischen Bewunderung und Abneigung an Napoleon abarbeitet und erlebt, wie der romantische Dichter sein Leben stets aus dem Geist des Todes heraus betrachtete.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Damit ist, wenn auch nur in einer Auswahl, einer der wichtigsten französischen Klassiker wieder erhältlich, noch dazu in einer schönen Ausgabe.« - Tobias Schwartz, Der Tagesspiegel Tobias Schwartz Der Tagesspiegel 20180401