"Wenn ich einen Pinsel in der Hand halte, habe ich das Gefühl, die Welt zu beherrschen", hat Balthus einmal gesagt. Er gilt als einer der geheimnisvollsten Maler des 20. Jahrhunderts, als Widersacher der Moderne und als exzentrischer Außenseiter, der skurrile Auftritte liebte und sich gern mit einer Aura ungelöster Rätsel umgab. Stets ließ er die Bilder für sich sprechen, Zeugen einer somnambulen, traumverlorenen Welt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.06.2002Ein Feind der scheußlichen Quadrate
Die Erinnerungen des Malers Balthus machen seine Bilder harmloser, als sie in Wahrheit sind
Es ist immer erfrischend, wenn man sich bei einem Künstler noch nicht geeinigt hat, was er denn nun wirklich taugt. Kein Fall des 20. Jahrhunderts hängt so unentschieden in der Luft wie der von Balthus. Der Maler selbst macht es einem nicht gerade einfach, zu einem gerecht abwägenden Urteil zu gelangen, wenn er als seinen Bruder und Antipoden nur einen Einzigen gelten lässt. „Picasso liebte mich für mein Anderssein und für die heftige Einsamkeit, die ich pflegte”, hat er zu Protokoll gegeben; und sein Jünger Paul Lombard setzt nach, beflissen: „Eines Tages werden die Kinder des neuen Jahrtausends ihren Blick auf die Malerei unserer Zeit richten und erstaunt feststellen, dass das 20. Jahrhundert, dessen Ruhm so viele Schulen begründeten, von zwei Einzelgängern dominiert wurde: Balthus und Picasso.” Da hat Picasso noch mal Glück gehabt.
Blättert man einen Bildband durch, so stellt man fest, dass Balthus, für einen Maler, der sich an Poussin und den Italienern des 14. und 15. Jahrhunderts geschult hat, auf eine ganz erstaunliche Weise nicht malen kann. Hierin gleicht er Max Ernst, Magritte und noch anderen seiner Zeitgenossen, und überhaupt wird man bei einem Rückblick auf die klassische Moderne finden, dass sie das goldene Zeitalter der Dilettanten war, in dem die unwahrscheinlichsten Talente zum Zuge kamen. Wie bei Balthus’ jungen Mädchen Brüste und Oberschenkel am Rumpf ansetzen und ein Ellenbogen, infolge missglückter perspektivischer Verkürzung, mit Ersparung des Unterarms fast direkt in das Handgelenk münden kann, das ist zuweilen unverzeihlich.
Umso klarer tritt die Qualität des Obsessiven hervor. Der Akt legt den anatomischen Vorwand ab und baut sich kompositorisch so zügellos aus der Scham der schlafenden oder träumenden Halbwüchsigen auf, deren Beine ohne Bewusstsein auseinandergleiten, dass sie ihrerseits fast wie ein Kleidungsstück erscheint, ein eigenwilliger, eng sitzender Slip aus Nacktheit. Man ist verblüfft, bis zu welcher Höhe Balthus in seinen Bildern manchmal allein von der Intensität des lüsternen Belauschens geführt wird – und mit welcher Plötzlichkeit er vom schmalen geländerlosen Pfad des Begehrens in den Abgrund des Kitschs stürzen kann. Ganz wenig genügt: Um einen Hauch zu rot nur müssen die Wangen einer Schlummernden sein, damit der Bezug zu den Rosen links ins Penetrante rutscht und eine Atmosphäre schwüler Altherrenerotik erzeugt. Man muss gesehen haben, wie schlecht die schlechtesten dieser Bilder geraten können, um zu ermessen, wie gut die guten sind.
Die Diskussion um Balthus hat sich jedoch nie auf seine künstlerischen Verdienste beschränkt, sondern immer mitverhandelt, ob man das denn dürfe, den Dreizehnjährigen so unter die Röcke gucken. Klar darf man. Wer wäre denn der Geschädigte? Die Modelle vielleicht? Die behalten von ihrer Unschuld so viel, wie sie eben von Haus aus mitbringen; die Biegung mancher Brauen lässt indessen vermuten, dass dieser Vorrat schon zuvor Einbußen erlitten hat. Nein, die eigentliche Gewalt geht vom Bild in Richtung auf den Betrachter aus, der sich kaum gegen den komplizenhaften Sog, diese Zugluft durchs Schlüsselloch wehren kann. Gelockt und genötigt wird er zum unziemlichen Blick auf das Ende der Kindheit. Am wenigsten gilt dies überraschenderweise noch vom absichtlich provokantesten aller Bilder, das Balthus je gemalt hat, der berüchtigten „Gitarrenstunde” von 1934, die er sarkastisch dem New Yorker Museum of Modern Art vermachte und die sogleich im Magazin verschwand. Wie hier die Lehrerin ihre Schülerin rücklings übers Knie legt und sie am Haar und zwischen den Beinen gepackt hält, als wolle sie, anstatt aus dem achtlos hingeworfenen Instrument, aus dem schmächtigen Mädchenkörper den Flamenco reißen – das hat noch viel vom alten „épater le bourgeois”, dem absinthbeschwingten Lieblingszeitvertreib der Bohème.
In den besten von Balthus’ Gemälden ist das Unheil diffus anwesend, wie im Einstieg eines guten Horrorfilms. (Und sind nicht in der ersten halben Stunde alle Horrorfilme gut?) Noch die Stilleben, wo Messer waghalsig balancierend in Brötchen stecken und Äpfel vor dem Korb, in dem sie eigentlich liegen müssten, schweben, atmen eine Luft von telekinetischer Gewalt. Stärker als die beschworenen Kronzeugen Giotto und Piero della Francesca haben Alice im Wunderland und der Struwwelpeter diese Kunst beeinflusst. Ja man könnte behaupten, was an Balthus’ berühmtestem Bild, „Die Straße”, in einem akademischen Sinn nicht gekonnt ist (so dass man geradezu Ausschau hält nach kleinen Brettchen, mit denen das Personal am Boden festgemacht wäre), ist von der Qualität des Bildes nicht abzulösen. Zweifellos geschieht hier etwas. Doch was? Das Bild verweigert die Auskunft der Anekdote (die Balthus in den Bildern Chagalls zurecht verachtet) und behält es sich vor, ein Rätsel zu bleiben.
Pygmalion spielen
Wer hofft, über all dies Zweideutige und Sinistre eine Antwort vom Meister selbst zu bekommen, der wird enttäuscht sein, wenn er Balthus’ „Erinnerungen” in die Hand nimmt. Balthus hat sie ein Jahr vor seinem Tod, zweiundneunzig Jahre alt, Alain Vircondelet diktiert. „Es werden sich zwar”, lässt er sich vernehmen, „Biografen und Kunstkritiker finden (es gab sie bereits!), die bei meinen Modellen erotische Posen entdecken, um die Arbeit der Unschuld, die ich leisten wollte, und meine Suche nach Ewigkeit zu beschmutzen. Aber was soll’s! Sie werden auch sagen, ich hätte Pygmalion gespielt. Aber sie beweisen dadurch nur, dass sie nichts von meinerArbeit begriffen haben.” Das ist in seinem Ton zu heiter und zu beiläufig, als dass man den Maler der Heuchelei bezichtigen möchte. Auch ob Eros gleichbedeutend mit Beschmutzung ist und was von diesem wesentlich spukhaften Werk denn bliebe, wenn es in ihm ausschließlich mit rechten Dingen zuginge, lässt sich mit ihm offenbar nicht erörtern.
Man muss den Meister schon nehmen, wie er sich gibt, wenn nicht mit Ehrfurcht, dann doch mit der Gelassenheit, die er selbst ausstrahlt: als eine Figur der zen-artigen Ruhe, der kimono-gekleidet in seinem riesigen hölzernen Chalet in den Walliser Alpen wandelt, gestützt auf den Arm seiner vier Jahrzehnte jüngeren japanischen Gattin. Alle, alle hat er sie gekannt: Rilke natürlich, den Geliebten seiner Mutter; André Derain, den er als kolossalischen Lustmolch, und Joan Miró, den er in zweideutiger Gruppierung mit der kleinen Tochter gemalt hat. Gerne sieht er sich auf dem häuslichen Großbildschirm Filme mit Richard Gere, Sharon Stone oder Tony Curtis an, „meine Freunde, oft besuchen sie mich hier im Grand Chalet”; auch Bono kommt gelegentlich, „ich glaube er ist der Sänger der Gruppe U2. Wandel, alles ist Wandel.” Camus schickte ihm am Tag vor seinem tödlichen Unfall sein letztes Buch mit einer „hellseherischen” Widmung, Saint-Exupéry am Tag vor seinem Absturz in Patagonien die letzte Postkarte. Es war, wie es scheint, nicht ganz unbedenklich, an Balthus Karten und Bücher zu schicken. Wie steht es mit Mondrian? „Mondrian habe ich sehr gut gekannt und es tut mir leid um all das, was er anfänglich schuf, sehr schöne Bäume zum Beispiel. Er betrachtete die Natur. Er konnte sie malen. Und eines Tages dann verfiel er der Abstraktion. Ich besuchte ihn mit Giacometti an einem sehr schönen Tag, gegen Abend, als das Licht gerade schwächer zu werden begann. Alberto und ich schauten auf die Herrlichkeit, die am Fenster vorbeizog. Das Spiel des Lichts in der Dämmerung. Mondrian zog die Vorhänge zu und sagte, er wolle das nicht mehr sehen.. .” Verräter des Lichts: Das sind sie alle, die abstrakten Künstler des 20. Jahrhunderts, mit ihren „kleinen, scheußlichen Quadraten”.
Weniger erquicklich sind die Fotostrecken der „Erinnerungen”. Man erblickt unter anderem: „Balthus und seine Gattin, Gräfin Setsuko. Dank des unvergänglichen Bandes, das sie vereinte, konnte Balthus stets völlig ungestört malen.” Schlimm ist, dass Balthus zu sagen pflegte: „Malen heißt beten”, schlimmer indes, dass er sich zur Illustration dieses Satzes im Großformat hat ablichten lassen, die Hände gerungen und den Blick empor. Der Vollständigkeit halber hätte man ihm noch einen Pinsel zwischen die frommen Finger klemmen sollen. So geht der Meister in die Ewigkeit hinüber. Ein schöner Kitsch ist das!
BURKHARD MÜLLER
BALTHUS: Erinnerungen. Aufgezeichnet von Alain Vircondelet. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Ullstein Verlag, München, 2002, 263 S., 22 Euro.
Wo sind die Brettchen, die das Personal am Boden festhalten? Das Gemälde „Der Salon” (1941-1943) entnehmen wir dem Bildband Claude Roys „Balthus. Leben und Werk” (Schirmer / Mosel, München 1996).
Bild: The
Minneapolis Institute of Arts
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Die Erinnerungen des Malers Balthus machen seine Bilder harmloser, als sie in Wahrheit sind
Es ist immer erfrischend, wenn man sich bei einem Künstler noch nicht geeinigt hat, was er denn nun wirklich taugt. Kein Fall des 20. Jahrhunderts hängt so unentschieden in der Luft wie der von Balthus. Der Maler selbst macht es einem nicht gerade einfach, zu einem gerecht abwägenden Urteil zu gelangen, wenn er als seinen Bruder und Antipoden nur einen Einzigen gelten lässt. „Picasso liebte mich für mein Anderssein und für die heftige Einsamkeit, die ich pflegte”, hat er zu Protokoll gegeben; und sein Jünger Paul Lombard setzt nach, beflissen: „Eines Tages werden die Kinder des neuen Jahrtausends ihren Blick auf die Malerei unserer Zeit richten und erstaunt feststellen, dass das 20. Jahrhundert, dessen Ruhm so viele Schulen begründeten, von zwei Einzelgängern dominiert wurde: Balthus und Picasso.” Da hat Picasso noch mal Glück gehabt.
Blättert man einen Bildband durch, so stellt man fest, dass Balthus, für einen Maler, der sich an Poussin und den Italienern des 14. und 15. Jahrhunderts geschult hat, auf eine ganz erstaunliche Weise nicht malen kann. Hierin gleicht er Max Ernst, Magritte und noch anderen seiner Zeitgenossen, und überhaupt wird man bei einem Rückblick auf die klassische Moderne finden, dass sie das goldene Zeitalter der Dilettanten war, in dem die unwahrscheinlichsten Talente zum Zuge kamen. Wie bei Balthus’ jungen Mädchen Brüste und Oberschenkel am Rumpf ansetzen und ein Ellenbogen, infolge missglückter perspektivischer Verkürzung, mit Ersparung des Unterarms fast direkt in das Handgelenk münden kann, das ist zuweilen unverzeihlich.
Umso klarer tritt die Qualität des Obsessiven hervor. Der Akt legt den anatomischen Vorwand ab und baut sich kompositorisch so zügellos aus der Scham der schlafenden oder träumenden Halbwüchsigen auf, deren Beine ohne Bewusstsein auseinandergleiten, dass sie ihrerseits fast wie ein Kleidungsstück erscheint, ein eigenwilliger, eng sitzender Slip aus Nacktheit. Man ist verblüfft, bis zu welcher Höhe Balthus in seinen Bildern manchmal allein von der Intensität des lüsternen Belauschens geführt wird – und mit welcher Plötzlichkeit er vom schmalen geländerlosen Pfad des Begehrens in den Abgrund des Kitschs stürzen kann. Ganz wenig genügt: Um einen Hauch zu rot nur müssen die Wangen einer Schlummernden sein, damit der Bezug zu den Rosen links ins Penetrante rutscht und eine Atmosphäre schwüler Altherrenerotik erzeugt. Man muss gesehen haben, wie schlecht die schlechtesten dieser Bilder geraten können, um zu ermessen, wie gut die guten sind.
Die Diskussion um Balthus hat sich jedoch nie auf seine künstlerischen Verdienste beschränkt, sondern immer mitverhandelt, ob man das denn dürfe, den Dreizehnjährigen so unter die Röcke gucken. Klar darf man. Wer wäre denn der Geschädigte? Die Modelle vielleicht? Die behalten von ihrer Unschuld so viel, wie sie eben von Haus aus mitbringen; die Biegung mancher Brauen lässt indessen vermuten, dass dieser Vorrat schon zuvor Einbußen erlitten hat. Nein, die eigentliche Gewalt geht vom Bild in Richtung auf den Betrachter aus, der sich kaum gegen den komplizenhaften Sog, diese Zugluft durchs Schlüsselloch wehren kann. Gelockt und genötigt wird er zum unziemlichen Blick auf das Ende der Kindheit. Am wenigsten gilt dies überraschenderweise noch vom absichtlich provokantesten aller Bilder, das Balthus je gemalt hat, der berüchtigten „Gitarrenstunde” von 1934, die er sarkastisch dem New Yorker Museum of Modern Art vermachte und die sogleich im Magazin verschwand. Wie hier die Lehrerin ihre Schülerin rücklings übers Knie legt und sie am Haar und zwischen den Beinen gepackt hält, als wolle sie, anstatt aus dem achtlos hingeworfenen Instrument, aus dem schmächtigen Mädchenkörper den Flamenco reißen – das hat noch viel vom alten „épater le bourgeois”, dem absinthbeschwingten Lieblingszeitvertreib der Bohème.
In den besten von Balthus’ Gemälden ist das Unheil diffus anwesend, wie im Einstieg eines guten Horrorfilms. (Und sind nicht in der ersten halben Stunde alle Horrorfilme gut?) Noch die Stilleben, wo Messer waghalsig balancierend in Brötchen stecken und Äpfel vor dem Korb, in dem sie eigentlich liegen müssten, schweben, atmen eine Luft von telekinetischer Gewalt. Stärker als die beschworenen Kronzeugen Giotto und Piero della Francesca haben Alice im Wunderland und der Struwwelpeter diese Kunst beeinflusst. Ja man könnte behaupten, was an Balthus’ berühmtestem Bild, „Die Straße”, in einem akademischen Sinn nicht gekonnt ist (so dass man geradezu Ausschau hält nach kleinen Brettchen, mit denen das Personal am Boden festgemacht wäre), ist von der Qualität des Bildes nicht abzulösen. Zweifellos geschieht hier etwas. Doch was? Das Bild verweigert die Auskunft der Anekdote (die Balthus in den Bildern Chagalls zurecht verachtet) und behält es sich vor, ein Rätsel zu bleiben.
Pygmalion spielen
Wer hofft, über all dies Zweideutige und Sinistre eine Antwort vom Meister selbst zu bekommen, der wird enttäuscht sein, wenn er Balthus’ „Erinnerungen” in die Hand nimmt. Balthus hat sie ein Jahr vor seinem Tod, zweiundneunzig Jahre alt, Alain Vircondelet diktiert. „Es werden sich zwar”, lässt er sich vernehmen, „Biografen und Kunstkritiker finden (es gab sie bereits!), die bei meinen Modellen erotische Posen entdecken, um die Arbeit der Unschuld, die ich leisten wollte, und meine Suche nach Ewigkeit zu beschmutzen. Aber was soll’s! Sie werden auch sagen, ich hätte Pygmalion gespielt. Aber sie beweisen dadurch nur, dass sie nichts von meinerArbeit begriffen haben.” Das ist in seinem Ton zu heiter und zu beiläufig, als dass man den Maler der Heuchelei bezichtigen möchte. Auch ob Eros gleichbedeutend mit Beschmutzung ist und was von diesem wesentlich spukhaften Werk denn bliebe, wenn es in ihm ausschließlich mit rechten Dingen zuginge, lässt sich mit ihm offenbar nicht erörtern.
Man muss den Meister schon nehmen, wie er sich gibt, wenn nicht mit Ehrfurcht, dann doch mit der Gelassenheit, die er selbst ausstrahlt: als eine Figur der zen-artigen Ruhe, der kimono-gekleidet in seinem riesigen hölzernen Chalet in den Walliser Alpen wandelt, gestützt auf den Arm seiner vier Jahrzehnte jüngeren japanischen Gattin. Alle, alle hat er sie gekannt: Rilke natürlich, den Geliebten seiner Mutter; André Derain, den er als kolossalischen Lustmolch, und Joan Miró, den er in zweideutiger Gruppierung mit der kleinen Tochter gemalt hat. Gerne sieht er sich auf dem häuslichen Großbildschirm Filme mit Richard Gere, Sharon Stone oder Tony Curtis an, „meine Freunde, oft besuchen sie mich hier im Grand Chalet”; auch Bono kommt gelegentlich, „ich glaube er ist der Sänger der Gruppe U2. Wandel, alles ist Wandel.” Camus schickte ihm am Tag vor seinem tödlichen Unfall sein letztes Buch mit einer „hellseherischen” Widmung, Saint-Exupéry am Tag vor seinem Absturz in Patagonien die letzte Postkarte. Es war, wie es scheint, nicht ganz unbedenklich, an Balthus Karten und Bücher zu schicken. Wie steht es mit Mondrian? „Mondrian habe ich sehr gut gekannt und es tut mir leid um all das, was er anfänglich schuf, sehr schöne Bäume zum Beispiel. Er betrachtete die Natur. Er konnte sie malen. Und eines Tages dann verfiel er der Abstraktion. Ich besuchte ihn mit Giacometti an einem sehr schönen Tag, gegen Abend, als das Licht gerade schwächer zu werden begann. Alberto und ich schauten auf die Herrlichkeit, die am Fenster vorbeizog. Das Spiel des Lichts in der Dämmerung. Mondrian zog die Vorhänge zu und sagte, er wolle das nicht mehr sehen.. .” Verräter des Lichts: Das sind sie alle, die abstrakten Künstler des 20. Jahrhunderts, mit ihren „kleinen, scheußlichen Quadraten”.
Weniger erquicklich sind die Fotostrecken der „Erinnerungen”. Man erblickt unter anderem: „Balthus und seine Gattin, Gräfin Setsuko. Dank des unvergänglichen Bandes, das sie vereinte, konnte Balthus stets völlig ungestört malen.” Schlimm ist, dass Balthus zu sagen pflegte: „Malen heißt beten”, schlimmer indes, dass er sich zur Illustration dieses Satzes im Großformat hat ablichten lassen, die Hände gerungen und den Blick empor. Der Vollständigkeit halber hätte man ihm noch einen Pinsel zwischen die frommen Finger klemmen sollen. So geht der Meister in die Ewigkeit hinüber. Ein schöner Kitsch ist das!
BURKHARD MÜLLER
BALTHUS: Erinnerungen. Aufgezeichnet von Alain Vircondelet. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Ullstein Verlag, München, 2002, 263 S., 22 Euro.
Wo sind die Brettchen, die das Personal am Boden festhalten? Das Gemälde „Der Salon” (1941-1943) entnehmen wir dem Bildband Claude Roys „Balthus. Leben und Werk” (Schirmer / Mosel, München 1996).
Bild: The
Minneapolis Institute of Arts
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Burkhard Müller ist ein bisschen enttäuscht von diesen Lebenserinnerungen, die der Maler Balthus ein Jahr vor seinem Tod mit 92 Jahren Alain Vircondelet in die Feder diktierte. Denn die Auslassungen des Meisters geben keine Auskunft über die Zweideutigkeit in seinen Bildern, sondern sind stets "heiter" und strahlen "Gelassenheit" aus, so der Rezensent etwas irritiert. Trotzdem hat er das Buch mit Interesse gelesen, zumal Balthus eigentlich alle wichtigen Künstler des 20. Jahrhunderts gekannt hat und etwas über sie zu berichten weiß. Lediglich die Fotos, die dem Buch beigegeben worden sind, moniert Müller als schrecklich kitschig. Es sei schon "schlimm", dass Balthus das Malen mit dem Beten vergleicht, so der Rezensent entsetzt, doch diesem Ausspruch auch noch ein Bild zur Seite zu stellen, in dem der Maler im "Großformat", die "Hände gerungen und den Blick empor" dargestellt werde, sei "schlimmer".
© Perlentaucher Medien GmbH
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