Hans-Dietrich Genscher, der Mann, der jahrzehntelang die deutsche Politik mitbestimmt hat, der dienstältester Außenminister in Europa war, legt seine Memoiren vor. Zur Sprache kommt darin nicht ausschließlich Politisches; Genscher blickt zurück auf sein Leben, schreibt von seiner Familie, schildert private Erlebnisse und auch die zahlreichen sehr persönlichen Begegnungen mit politischen Größen unserer Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.1995Außenpolitik als Umweltveränderung
Genscher formt seine Erinnerungen zur historischen Gesamtdarstellung
Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen. Siedler Verlag, Berlin 1995. 1086 Seiten, 78,80 Mark.
Hans-Dietrich Genschers Memoiren kommen höchst gelegen. Die neue Bundesrepublik, wiedervereinigt und handlungsfrei, sucht nach ihrem neuen Platz in Europa und in der Welt, nach dem Selbstverständnis, den Zielen und den Strategien einer ihr angemessenen Außenpolitik. Die Bundesrepublik ist unter allen westeuropäischen Staaten am meisten von den revolutionären Veränderungen der Jahre 1989/90 betroffen worden; sie kann sich auf keine Tradition stützen, kann auch die vergangenen fünfzig Jahre nicht zur Richtschnur nehmen, weil deren Rahmenbedingungen gerade entfallen sind. Was liegt da näher, als den Fachmann zu befragen, der die Bundesrepublik in diese ebenso glückliche wie schwierige Lage versetzt hat? Hans-Dietrich Genscher hat in den 18 Jahren als Außenminister die Handlungsfreiheit, das Ansehen und den Einfluß der Bundesrepublik gründlich vermehrt. Er war der Architekt der deutschen Wiedervereinigung, der mit und unter Helmut Kohl als Baumeister aus dem Fließsand des zusammenbrechenden Sowjetreiches nicht nur die Einheit Deutschlands, sondern auch dessen Einbindung in EU und Nato geschaffen hat. Wen sonst sollte man also nach der Außenpolitik der Mittelmacht Deutschlands fragen, die den Vorgaben der Führungsmacht Amerika und dem Systemtrend folgen muß, beide aber auch geschickt nutzen kann?
Hans-Dietrich Genscher gibt auf mehr als 1000 Seiten (unter denen nach Kissingers Vorbild offenbar kein Außenminister mehr bleiben kann) Antwort. Seine Erinnerungen sind keine Memoiren im traditionellen Sinn; sie sind ein Handbuch der deutschen Außenpolitik, vom Autor selbst schon in die Form einer Darstellung gegossen. Sein Anspruch auf Objektivierung und Entpersönlichung ist so groß, daß er seine Erinnerungen streckenweise bereits zur Geschichtsdarstellung umgearbeitet hat. Ein neuer Memoirentyp ist so entstanden: die Auto-Monographie.
Ihr Quellenwert ist dennoch beeindruckend. Vier Fünftel des Buches sind den 18 Jahren als Außenminister gewidmet; sie umfassen die ereignisreiche Periode von der scheiternden Entspannungspolitik unter Nixon bis zur Partnerschaft mit dem Rußland Jelzins; von der von den beiden Supermächten ausgehandelten und den beiden deutschen Staaten zur Ausführung übergebenen Berlin-Regelung bis zur Souveränität des wiedervereinigten Deutschland. Genscher trat mit der Absicht an, die Handlungsfreiheit und das Ansehen der Bundesrepublik zu erhöhen und die Teilung Deutschlands zu beenden, jedenfalls zu mildern. Das eine Hauptziel hat er erarbeitet, das andere in geschickter Ausnutzung weltpolitischer Strukturveränderungen erreicht. Kein Wunder, daß er und Deutschland befriedigt auf dieses Werk zurückblicken.
Hilfreich für seine Leistung waren eine bemerkenswerte Einsicht und eine ebenso bemerkenswerte strategische Konsequenz. Genscher erkannte sehr früh, daß sich infolge der Interdependenz das Substrat der internationalen Politik geändert hatte. Das erforderte eine "Revolution des außenpolitischen Denkens", die Aufgabe der "traditionelle(n) Logik der Machtpolitik". Außenpolitik kann nicht mehr wie ein Null-summenspiel betrieben werden. Kooperation muß an die Stelle der Konfrontation treten; Genscher hat das gegenüber der Sowjetunion Gorbatschows und Schewardnadses unermüdlich praktiziert und gefordert.
Noch bedeutender ist die strategische Lehre, die der Außenminister daraus zog. Die Interdependenz macht es möglich, von außen auf ein Land dadurch einzuwirken, daß man seine Umwelt verändert. Das gilt für das eigene Land wie für andere. Der "junge" Außenminister verbesserte die Position der Bundesrepublik dadurch, daß er ihre Mitarbeit in internationalen Organisationen intensivierte und ausbaute. Bonn wurde global präsent. Und der "reife" Außenminister begriff und benutzte die KSZE als Umweltveränderung der Sowjetunion. Immer wieder kommt er in seinen Erinnerungen darauf zu sprechen, daß die in der OSZE institutionalisierte Kooperation mit Rußland, mit Osteuropa und mit den Staaten der GUS die Basis der europäischen Sicherheitsarchitektur sein müsse. Sie könnte "am ehesten einem neuen Europa Struktur und Gewicht verleihen".
Zu beidem, zur Einsicht und zur Lehre, hätte man gern mehr gelesen, wie überhaupt zur Konzeption der deutschen Außenpolitik, zu den Leitbildern einer "liberalen Außenpolitik". Aber die ausgedehnte Reflexion ist des Außenministers Sache nicht; er referiert lieber, zitiert gern aus seinen Tagebuchaufzeichnungen, seinen Gesprächsprotokollen und (leider) auch aus seinen Reden. Die Erinnerungen sind gefüllt mit teilweise minutiösen Schilderungen von Tagesabläufen und Besuchsprogrammen, ähneln mehr einem Arbeitsbericht als einer politischen Rechenschaft. Das Rohmaterial ergibt andererseits unverstellten Einblick in das Pensum des Ministers, der nicht nur die Weltpolitik, sondern auch die Koalitionspolitik betreute, der die Medien hätscheln, die Klientel hofieren, die Partei profilieren und die Intriganten blockieren mußte, das Spiel mit fünf Bällen, als das Bismarck die Außenpolitik gequält beschrieb, muß dagegen ein Kinderspiel gewesen sein.
Allerdings hatte der eiserne Kanzler nicht ein so fähiges Außenamt wie Genscher. Es war - und ist - der Gral liberaler Außenpolitik im Sinne der FDP Genschers. Er hatte es, wie weiland John Foster Dulles das State Department, sozusagen unter seinem Hut. Es half ihm, seine "realistische Außenpolitik" politisch umzusetzen. Der Harmel-Formel von 1967 nachgebildet, setzte sie auf Verteidigungsfähigkeit und Entspannungspolitik. Zu ihren Gunsten brach Genscher 1983 mit der SPD, die sich vom Aufrüstungsteil des Doppelbeschlusses losgesagt hatte. Zu ihren Gunsten kämpfte er nach 1985 gegen die "Traditionalisten" in der CDU/CSU, die den Kooperationsteil von Harmel und den Abrüstungsteil des Doppelbeschlusses nicht mittragen wollten. Die Beibehaltung der Pershing Ia und die Modernisierung der Lance-Raketen erschienen ihm so antiquiert wie gefährlich. Hatte er bei beiden die CDU/CSU und Amerika gegen sich, so hatte er bei der doppelten Null-Lösung die Vereinigten Staaten auf seiner Seite. Daß er diese Abrüstung ganz für sich und seine FDP vereinnahmt, überstrapaziert das Recht des Memoirenschreibers ein bißchen. Die Reagan-Administration taucht bei Genscher ohnehin nur am Rande auf. Erst Präsident Bush und Außenminister Baker werden sichtbar, als Helfer bei der Wiedervereinigung. Dafür sind Frankreichs Politiker voll im politischen Blickfeld des deutschen Außenministers.
Genscher informiert umfassend über den Einzugsbereich der deutschen Außenpolitik; weder der Vatikan wird ausgelassen, noch die Entwicklungshilfe. Der Jugoslawien-Konflikt kommt zur Sprache, mit deutlich apologetischem Unterton bei der Beschreibung der Anerkennung Kroatiens. Aber der Schwerpunkt der Erinnerungen liegt eindeutig auf der Deutschland-Politik. Genscher ist beileibe kein Nationalist. Immer wieder wendet er sich gegen Tendenzen der Renationalisierung. Sein Ziel ist die Wiedervereinigung Deutschlands als Teil der Vereinigung Europas. Aber er leitet von seiner Herkunft aus Halle, auf die er immer wieder zu sprechen kommt, eine besondere Selbstverpflichtung auf die Wiedervereinigung ab. Daraus entsteht zu Unrecht ein Schatten für andere deutsche Politiker, die nicht das Glück einer Hallenser Geburt hatten. Kohls Beitrag zur Wiedervereinigungspolitik ist weder mit der kritischen Wiedergabe der Zehn-Punkte-Erklärung vom November 1989 noch der beiläufigen Erwähnung des Treffens zwischen Kohl und Gorbatschow, bei dem die Truppenstärke des wiedervereinigten Deutschland geregelt wurde, angemessen beschrieben. Das würde nicht so sehr auffallen, gingen in dem Buch nicht die "Erinnerungen" so bruchlos mit dem Anspruch einher, auch eine Gesamtdarstellung zu sein. Allerdings haben Bundeskanzler und Bundeskanzleramt ihm die Arbeit auch nicht gerade erleichtert; die für Washington charakteristische Rivalität zwischen Außenminister und Sicherheitsberater zeigte sich zunehmend auch in Bonn - bis hin zu der Praxis, mit Fehlinformationen des Auslands auch Minen für den Außenminister zu legen. Genscher erwähnt solche Reibereien, nennt aber keine Namen. Seine Kritik äußert sich nur darin, daß das Lob fehlt.
Für den Zwei-plus-vier-Prozeß, seine Vor- und Nachgeschichte ist das Buch maßgebend. Hier zeigt Genschers Strategie der Umweltveränderung ihre Höchstform. Die "Europäisierung der deutschen Frage" - nach Westen durch die Weiterentwicklung der EG zur Union, nach Osten durch den Aufbau einer partnerschaftlichen Beziehung zur Sowjetunion im Nordatlantischen Kooperationsrat, vor allem aber in der KSZE - schuf den ganz neuen Kontext, in dem Genscher den Russen die Nato-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands und England und Frankreich das Akzeptieren der Wiedervereinigung abluchsen konnte. Genscher mußte nach allen Seiten kämpfen, mußte in Bonn die zögernde CDU/CSU zur Anerkennung der polnischen Westgrenze "tragen", in Warschau die Anerkennung nicht zur Vorbedingung der deutschen Einheit werden lassen. Er mußte die Amerikaner von der Forderung abhalten, in der DDR Manöver zu veranstalten, die Russen davon, die Enteignungspolitik für sakrosankt zu erklären. Friedensvertragliche Regelungen galt es zu treffen, die doch so nicht genannt werden durften. Und das alles mußte sehr schnell gehen, um die Gunst der Stunde nicht zu verpassen, das Momentum nicht zu verlieren.
Daß es gelang, in den revolutionären Prozeß des sich auflösenden Ost-West-Konflikts die nicht geringere Revolution der deutschen Wiedervereinigung und der Eingliederung Gesamtdeutschlands in die Nato und die Europäische Union einzupassen, war eine Hauptleistung der deutschen Außenpolitik; ihre Darstellung bildet das Kernstück der Memoiren Genschers.
Den entscheidenden Beitrag dazu haben, wie Genscher immer wieder hervorhebt, Gorbatschow und Schewardnadse erbracht. Ihr "neues Denken" hat im Innern den Beginn der Demokratisierung und nach außen, als deren politische Konsequenz, die Beendigung der Konfrontationspolitik hervorgerufen. Genschers Kritik gilt denen im Westen, die diesen Wandel in Moskau und seine Konsequenzen damals und auch später nicht erkannt und schon gar nicht honoriert haben. Für Genscher sind "Demokratisierung . . . und . . . größere Transparenz . . . entscheidende Voraussetzungen für Vertrauensbildung und Berechenbarkeit". Diesen Zusammenhang, kennzeichnend für den Westen, sah Genscher auch in Rußland entstehen.
Der zweite Eintrag ins Stammbuch der deutschen Außenpolitik betrifft deren Tendenz zur Renationalisierung, zum Alleingang. Genscher setzt ihm ein vehementes Plädoyer für den Multilateralismus und die institutionalisierte Kooperation entgegen. Beide bildeten nicht nur unentbehrliche Voraussetzungen der deutschen Wiedervereinigung, sondern sind überhaupt die geeigneten Strategien einer auf Evolution bedachten modernen Außenpolitik. Deswegen hat Genscher die KSZE nicht nur als bequemes Vehikel für den Transfer westlicher Werte in das Sowjetreich begriffen, sondern in ihr nach 1990 den "Stabilitätsrahmen" erkannt, der für das Entstehen der europäischen Einigung entscheidend sein kann. Genscher regt regelmäßige KSZE-Treffen der Staatschefs und der Minister an, den weiteren Ausbau der Institutionen.
Solche konzeptionellen Hinweise zur Gestaltung einer "Verantwortungspolitik statt Machtpolitik" hat Genscher über die ganze Länge seiner Erinnerungen gestreut; will man ihrer ansichtig werden, muß man das Buch vollständig lesen. Es zeigt dann, daß es doch sehr viel mehr ist als nur ein detailreicher Arbeitsbericht, nämlich der Erfolgsnachweis für die von Genscher dynamisch-evolutionär geführte Außenpolitik. "Realistische Außenpolitik", verstanden als "Verantwortungspolitik", ist nicht nur möglich; sie ist nötig, weil nur sie durchsetzungsfähig und erfolgreich verläuft.
Dieser mahnende Unterton durchzieht die gesamten Erinnerungen. Ihre emotionsfrei sachliche, gelegentlich die Verschleierungssprache der Diplomatie übernehmende Diktion täuscht: die Beschreibung will durchaus als Vermächtnis gelesen werden, jedenfalls kann sie es. Was als "Genscherismus" kritisiert und verniedlicht worden ist, stellt sich dar als Ausfluß früher und richtiger Einsicht in die kostenreiche Vergeblichkeit traditioneller, gerade deutscher Machtpolitik, von der Genscher, Jahrgang 1927, noch ein Erfahrungsstück mitgenommen hat. Der Politiker hat aber ebenso früh und richtig erkannt, daß die Wandlung des internationalen Systems und die Rolle Deutschlands darin mit verstärktem Nachdruck eine neue Außenpolitik einfordern. Daß er sie manchmal, wie in der Konfrontationspolitik der ersten Reagan-Administration und gegenüber manchen Widerständen der deutschen Rechten, nur als One-man-Show gestalten konnte, aber als "Genscherismus" eben gestaltet hat, ist ein Ruhmesblatt für ihn - und ein wichtiges Legat für seine Nachfolger. ERNST-OTTO CZEMPIEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Genscher formt seine Erinnerungen zur historischen Gesamtdarstellung
Hans-Dietrich Genscher: Erinnerungen. Siedler Verlag, Berlin 1995. 1086 Seiten, 78,80 Mark.
Hans-Dietrich Genschers Memoiren kommen höchst gelegen. Die neue Bundesrepublik, wiedervereinigt und handlungsfrei, sucht nach ihrem neuen Platz in Europa und in der Welt, nach dem Selbstverständnis, den Zielen und den Strategien einer ihr angemessenen Außenpolitik. Die Bundesrepublik ist unter allen westeuropäischen Staaten am meisten von den revolutionären Veränderungen der Jahre 1989/90 betroffen worden; sie kann sich auf keine Tradition stützen, kann auch die vergangenen fünfzig Jahre nicht zur Richtschnur nehmen, weil deren Rahmenbedingungen gerade entfallen sind. Was liegt da näher, als den Fachmann zu befragen, der die Bundesrepublik in diese ebenso glückliche wie schwierige Lage versetzt hat? Hans-Dietrich Genscher hat in den 18 Jahren als Außenminister die Handlungsfreiheit, das Ansehen und den Einfluß der Bundesrepublik gründlich vermehrt. Er war der Architekt der deutschen Wiedervereinigung, der mit und unter Helmut Kohl als Baumeister aus dem Fließsand des zusammenbrechenden Sowjetreiches nicht nur die Einheit Deutschlands, sondern auch dessen Einbindung in EU und Nato geschaffen hat. Wen sonst sollte man also nach der Außenpolitik der Mittelmacht Deutschlands fragen, die den Vorgaben der Führungsmacht Amerika und dem Systemtrend folgen muß, beide aber auch geschickt nutzen kann?
Hans-Dietrich Genscher gibt auf mehr als 1000 Seiten (unter denen nach Kissingers Vorbild offenbar kein Außenminister mehr bleiben kann) Antwort. Seine Erinnerungen sind keine Memoiren im traditionellen Sinn; sie sind ein Handbuch der deutschen Außenpolitik, vom Autor selbst schon in die Form einer Darstellung gegossen. Sein Anspruch auf Objektivierung und Entpersönlichung ist so groß, daß er seine Erinnerungen streckenweise bereits zur Geschichtsdarstellung umgearbeitet hat. Ein neuer Memoirentyp ist so entstanden: die Auto-Monographie.
Ihr Quellenwert ist dennoch beeindruckend. Vier Fünftel des Buches sind den 18 Jahren als Außenminister gewidmet; sie umfassen die ereignisreiche Periode von der scheiternden Entspannungspolitik unter Nixon bis zur Partnerschaft mit dem Rußland Jelzins; von der von den beiden Supermächten ausgehandelten und den beiden deutschen Staaten zur Ausführung übergebenen Berlin-Regelung bis zur Souveränität des wiedervereinigten Deutschland. Genscher trat mit der Absicht an, die Handlungsfreiheit und das Ansehen der Bundesrepublik zu erhöhen und die Teilung Deutschlands zu beenden, jedenfalls zu mildern. Das eine Hauptziel hat er erarbeitet, das andere in geschickter Ausnutzung weltpolitischer Strukturveränderungen erreicht. Kein Wunder, daß er und Deutschland befriedigt auf dieses Werk zurückblicken.
Hilfreich für seine Leistung waren eine bemerkenswerte Einsicht und eine ebenso bemerkenswerte strategische Konsequenz. Genscher erkannte sehr früh, daß sich infolge der Interdependenz das Substrat der internationalen Politik geändert hatte. Das erforderte eine "Revolution des außenpolitischen Denkens", die Aufgabe der "traditionelle(n) Logik der Machtpolitik". Außenpolitik kann nicht mehr wie ein Null-summenspiel betrieben werden. Kooperation muß an die Stelle der Konfrontation treten; Genscher hat das gegenüber der Sowjetunion Gorbatschows und Schewardnadses unermüdlich praktiziert und gefordert.
Noch bedeutender ist die strategische Lehre, die der Außenminister daraus zog. Die Interdependenz macht es möglich, von außen auf ein Land dadurch einzuwirken, daß man seine Umwelt verändert. Das gilt für das eigene Land wie für andere. Der "junge" Außenminister verbesserte die Position der Bundesrepublik dadurch, daß er ihre Mitarbeit in internationalen Organisationen intensivierte und ausbaute. Bonn wurde global präsent. Und der "reife" Außenminister begriff und benutzte die KSZE als Umweltveränderung der Sowjetunion. Immer wieder kommt er in seinen Erinnerungen darauf zu sprechen, daß die in der OSZE institutionalisierte Kooperation mit Rußland, mit Osteuropa und mit den Staaten der GUS die Basis der europäischen Sicherheitsarchitektur sein müsse. Sie könnte "am ehesten einem neuen Europa Struktur und Gewicht verleihen".
Zu beidem, zur Einsicht und zur Lehre, hätte man gern mehr gelesen, wie überhaupt zur Konzeption der deutschen Außenpolitik, zu den Leitbildern einer "liberalen Außenpolitik". Aber die ausgedehnte Reflexion ist des Außenministers Sache nicht; er referiert lieber, zitiert gern aus seinen Tagebuchaufzeichnungen, seinen Gesprächsprotokollen und (leider) auch aus seinen Reden. Die Erinnerungen sind gefüllt mit teilweise minutiösen Schilderungen von Tagesabläufen und Besuchsprogrammen, ähneln mehr einem Arbeitsbericht als einer politischen Rechenschaft. Das Rohmaterial ergibt andererseits unverstellten Einblick in das Pensum des Ministers, der nicht nur die Weltpolitik, sondern auch die Koalitionspolitik betreute, der die Medien hätscheln, die Klientel hofieren, die Partei profilieren und die Intriganten blockieren mußte, das Spiel mit fünf Bällen, als das Bismarck die Außenpolitik gequält beschrieb, muß dagegen ein Kinderspiel gewesen sein.
Allerdings hatte der eiserne Kanzler nicht ein so fähiges Außenamt wie Genscher. Es war - und ist - der Gral liberaler Außenpolitik im Sinne der FDP Genschers. Er hatte es, wie weiland John Foster Dulles das State Department, sozusagen unter seinem Hut. Es half ihm, seine "realistische Außenpolitik" politisch umzusetzen. Der Harmel-Formel von 1967 nachgebildet, setzte sie auf Verteidigungsfähigkeit und Entspannungspolitik. Zu ihren Gunsten brach Genscher 1983 mit der SPD, die sich vom Aufrüstungsteil des Doppelbeschlusses losgesagt hatte. Zu ihren Gunsten kämpfte er nach 1985 gegen die "Traditionalisten" in der CDU/CSU, die den Kooperationsteil von Harmel und den Abrüstungsteil des Doppelbeschlusses nicht mittragen wollten. Die Beibehaltung der Pershing Ia und die Modernisierung der Lance-Raketen erschienen ihm so antiquiert wie gefährlich. Hatte er bei beiden die CDU/CSU und Amerika gegen sich, so hatte er bei der doppelten Null-Lösung die Vereinigten Staaten auf seiner Seite. Daß er diese Abrüstung ganz für sich und seine FDP vereinnahmt, überstrapaziert das Recht des Memoirenschreibers ein bißchen. Die Reagan-Administration taucht bei Genscher ohnehin nur am Rande auf. Erst Präsident Bush und Außenminister Baker werden sichtbar, als Helfer bei der Wiedervereinigung. Dafür sind Frankreichs Politiker voll im politischen Blickfeld des deutschen Außenministers.
Genscher informiert umfassend über den Einzugsbereich der deutschen Außenpolitik; weder der Vatikan wird ausgelassen, noch die Entwicklungshilfe. Der Jugoslawien-Konflikt kommt zur Sprache, mit deutlich apologetischem Unterton bei der Beschreibung der Anerkennung Kroatiens. Aber der Schwerpunkt der Erinnerungen liegt eindeutig auf der Deutschland-Politik. Genscher ist beileibe kein Nationalist. Immer wieder wendet er sich gegen Tendenzen der Renationalisierung. Sein Ziel ist die Wiedervereinigung Deutschlands als Teil der Vereinigung Europas. Aber er leitet von seiner Herkunft aus Halle, auf die er immer wieder zu sprechen kommt, eine besondere Selbstverpflichtung auf die Wiedervereinigung ab. Daraus entsteht zu Unrecht ein Schatten für andere deutsche Politiker, die nicht das Glück einer Hallenser Geburt hatten. Kohls Beitrag zur Wiedervereinigungspolitik ist weder mit der kritischen Wiedergabe der Zehn-Punkte-Erklärung vom November 1989 noch der beiläufigen Erwähnung des Treffens zwischen Kohl und Gorbatschow, bei dem die Truppenstärke des wiedervereinigten Deutschland geregelt wurde, angemessen beschrieben. Das würde nicht so sehr auffallen, gingen in dem Buch nicht die "Erinnerungen" so bruchlos mit dem Anspruch einher, auch eine Gesamtdarstellung zu sein. Allerdings haben Bundeskanzler und Bundeskanzleramt ihm die Arbeit auch nicht gerade erleichtert; die für Washington charakteristische Rivalität zwischen Außenminister und Sicherheitsberater zeigte sich zunehmend auch in Bonn - bis hin zu der Praxis, mit Fehlinformationen des Auslands auch Minen für den Außenminister zu legen. Genscher erwähnt solche Reibereien, nennt aber keine Namen. Seine Kritik äußert sich nur darin, daß das Lob fehlt.
Für den Zwei-plus-vier-Prozeß, seine Vor- und Nachgeschichte ist das Buch maßgebend. Hier zeigt Genschers Strategie der Umweltveränderung ihre Höchstform. Die "Europäisierung der deutschen Frage" - nach Westen durch die Weiterentwicklung der EG zur Union, nach Osten durch den Aufbau einer partnerschaftlichen Beziehung zur Sowjetunion im Nordatlantischen Kooperationsrat, vor allem aber in der KSZE - schuf den ganz neuen Kontext, in dem Genscher den Russen die Nato-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands und England und Frankreich das Akzeptieren der Wiedervereinigung abluchsen konnte. Genscher mußte nach allen Seiten kämpfen, mußte in Bonn die zögernde CDU/CSU zur Anerkennung der polnischen Westgrenze "tragen", in Warschau die Anerkennung nicht zur Vorbedingung der deutschen Einheit werden lassen. Er mußte die Amerikaner von der Forderung abhalten, in der DDR Manöver zu veranstalten, die Russen davon, die Enteignungspolitik für sakrosankt zu erklären. Friedensvertragliche Regelungen galt es zu treffen, die doch so nicht genannt werden durften. Und das alles mußte sehr schnell gehen, um die Gunst der Stunde nicht zu verpassen, das Momentum nicht zu verlieren.
Daß es gelang, in den revolutionären Prozeß des sich auflösenden Ost-West-Konflikts die nicht geringere Revolution der deutschen Wiedervereinigung und der Eingliederung Gesamtdeutschlands in die Nato und die Europäische Union einzupassen, war eine Hauptleistung der deutschen Außenpolitik; ihre Darstellung bildet das Kernstück der Memoiren Genschers.
Den entscheidenden Beitrag dazu haben, wie Genscher immer wieder hervorhebt, Gorbatschow und Schewardnadse erbracht. Ihr "neues Denken" hat im Innern den Beginn der Demokratisierung und nach außen, als deren politische Konsequenz, die Beendigung der Konfrontationspolitik hervorgerufen. Genschers Kritik gilt denen im Westen, die diesen Wandel in Moskau und seine Konsequenzen damals und auch später nicht erkannt und schon gar nicht honoriert haben. Für Genscher sind "Demokratisierung . . . und . . . größere Transparenz . . . entscheidende Voraussetzungen für Vertrauensbildung und Berechenbarkeit". Diesen Zusammenhang, kennzeichnend für den Westen, sah Genscher auch in Rußland entstehen.
Der zweite Eintrag ins Stammbuch der deutschen Außenpolitik betrifft deren Tendenz zur Renationalisierung, zum Alleingang. Genscher setzt ihm ein vehementes Plädoyer für den Multilateralismus und die institutionalisierte Kooperation entgegen. Beide bildeten nicht nur unentbehrliche Voraussetzungen der deutschen Wiedervereinigung, sondern sind überhaupt die geeigneten Strategien einer auf Evolution bedachten modernen Außenpolitik. Deswegen hat Genscher die KSZE nicht nur als bequemes Vehikel für den Transfer westlicher Werte in das Sowjetreich begriffen, sondern in ihr nach 1990 den "Stabilitätsrahmen" erkannt, der für das Entstehen der europäischen Einigung entscheidend sein kann. Genscher regt regelmäßige KSZE-Treffen der Staatschefs und der Minister an, den weiteren Ausbau der Institutionen.
Solche konzeptionellen Hinweise zur Gestaltung einer "Verantwortungspolitik statt Machtpolitik" hat Genscher über die ganze Länge seiner Erinnerungen gestreut; will man ihrer ansichtig werden, muß man das Buch vollständig lesen. Es zeigt dann, daß es doch sehr viel mehr ist als nur ein detailreicher Arbeitsbericht, nämlich der Erfolgsnachweis für die von Genscher dynamisch-evolutionär geführte Außenpolitik. "Realistische Außenpolitik", verstanden als "Verantwortungspolitik", ist nicht nur möglich; sie ist nötig, weil nur sie durchsetzungsfähig und erfolgreich verläuft.
Dieser mahnende Unterton durchzieht die gesamten Erinnerungen. Ihre emotionsfrei sachliche, gelegentlich die Verschleierungssprache der Diplomatie übernehmende Diktion täuscht: die Beschreibung will durchaus als Vermächtnis gelesen werden, jedenfalls kann sie es. Was als "Genscherismus" kritisiert und verniedlicht worden ist, stellt sich dar als Ausfluß früher und richtiger Einsicht in die kostenreiche Vergeblichkeit traditioneller, gerade deutscher Machtpolitik, von der Genscher, Jahrgang 1927, noch ein Erfahrungsstück mitgenommen hat. Der Politiker hat aber ebenso früh und richtig erkannt, daß die Wandlung des internationalen Systems und die Rolle Deutschlands darin mit verstärktem Nachdruck eine neue Außenpolitik einfordern. Daß er sie manchmal, wie in der Konfrontationspolitik der ersten Reagan-Administration und gegenüber manchen Widerständen der deutschen Rechten, nur als One-man-Show gestalten konnte, aber als "Genscherismus" eben gestaltet hat, ist ein Ruhmesblatt für ihn - und ein wichtiges Legat für seine Nachfolger. ERNST-OTTO CZEMPIEL
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main