Die Art und Weise, wie man sich an die Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus erinnert, steht seit einiger Zeit auf der Agenda der Intellektuellen im In- und Ausland. Dies hat auch mit dem Generationswechsel derer zu tun, die sich aus diversen Gründen mit Erinnerung zu beschäftigen haben. Die Herausgeber des Bandes haben 21 Beiträge aus Deutschland, Italien und Japan zusammengetragen, die sich mit folgenden Themenkreisen befassen: - Kriegsverbrecherprozesse, politische und spontane Säuberungen, Demilitarisierung -Geschichtswissenschaft im Umgang mit Krieg und Diktatur - Gedenken an Krieg und Diktatur in politischen Reden 19455 - die Medien und Institutionen der kollektiven Erinnerung - Generationswechsel und Erinnerungskulturen - Opfermythos und Täterbewusstsein Historiker, Juristen, Politologen, Literatur- und Sozialwissenschaftler bereiten den Stoff interdisziplinär und vergleichend auf.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.12.2003Das missbrauchte Gedächtnis
Wie Deutschland, Japan und Italien den Zweiten Weltkrieg verdrängten
Ein Jahr nach Kriegsende schrieb Alfred Weber, Deutschland müsse der „Überwinder seines eigenen Schattens” werden. Mit dem Zweiten Weltkrieg sei die Epoche „rivalisierender Staatsnationen” beendet; „Kulturnationen” müssten aus dem „katastrophalen geschichtlichen Zusammenbruch” hervorgehen, bevorzugtes Mittel hierfür sei tätige Erinnerung. Ohne es auszusprechen, hatte Alfred Weber einen Begriff vorweg genommen, der 50 Jahre später en vogue wurde: den Begriff der Erinnerungskultur. Dass diese auf einem umfassenden und keinem selektiven Gedenken ruhen muss, wurde in Deutschland, Japan, Italien erst mit zeitlicher Verzögerung und eher halbherzig anerkannt. Nirgends ist es so schwer, den falschen Weg zu meiden, wie auf dem Gebiet der Gedächtnispolitik.
Im Herbst 2001 wurde in der Gemäldegalerie von Triest das Porträt des Antisemiten Cesare Pagnini wieder aufgehängt, und man benannte eine Straße nach dem Faschisten Giorgio Almirante. In einem Nachbarort brachte der Bürgermeister Mussolinis Formel „Glauben, Gehorchen, Kämpfen” am Portal der Schule wieder an. Mit diesen und weiteren Beispielen belegt der Turiner Historiker Brunello Mantelli die These von der Rückkehr des Revisionismus. Der Kollaps der SU und der Niedergang der Christdemokraten und Sozialisten habe zur „Normalisierung der faschistischen Vergangenheit” beigetragen – obwohl, wie Mantellis Münchner Kollege Hans Woller nachweist, „in keinem Land Europas die Gerichte nach dem Krieg so rasch und massiv gegen belastete Faschisten vorgegangen sind wie in Italien.” Von juristischen Maßnahmen aber kann nie auf den Zustand der Erinnerungskultur geschlossen werden. Diese ist das Kind eines langen, schmerzhaften Nachdenkens.
Italien, als „faschistische Ursprungsdiktatur” (Wolfgang Schieder) Vorbild für die Regime in Deutschland und Japan, ist vorne mit dabei, wenn es darum geht, die „guten Gründe” einer Unrechtsdiktatur herauszustellen. „Aussöhnung mit der Vergangenheit” heißt dieses ideologische Programm der neunziger Jahre. In Japan betreibt man „Aufrechnung” und verfolgt den selben Zweck: die Exkulpation. Die italienische Öffentlichkeit mag nicht an die Konzentrationslager in Libyen, Albanien, Jugoslawien erinnert werden. Japaner sprachen Ende der siebziger Jahre erstmals offiziell vom „Massaker” statt vom „Zwischenfall von Nanking”, dem 1937 rund 200 000 Chinesen zum Opfer fielen. Anders als in Italien hat man in Japan begonnen, sich allmählich von der Opferrolle zu verabschieden. Noch immer aber dominiert in dieser, so Kenichi Mishima, „mehrheitlich starrköpfigen Nation” eine „Kultur des Sich-Absperrens”. Man warte schweigsam, „bis der Zahn der Zeit diesen Teil der Geschichte zernagt hat”.
Mit Hegel zur Siegermacht
„Aufrechnung” bedeutet, die 20 Millionen ermordeten Chinesen in Relation zu setzen mit dem westlichen Kolonialismus – nach dem Motto: „Warum sollen sich die Japaner allein dafür entschuldigen, dass sie an der vom Westen begonnenen kolonialen Aufteilung der Welt teilnehmen wollten?” Ähnlich überwog in Westdeutschland lange das öffentliche Erinnern an die eigenen Opfer, ehe es Ende der sechziger Jahre zu einer „Bewusstseinsrevolution” kam: so Edgar Wolfrum im spannendsten, vielschichtigsten Beitrag dieses durchweg interessanten, stellenweise aber zu sehr in der Beschreibung verharrenden Sammelbandes.
Der Darmstäder Historiker untersucht das „Übergangsjahr” 1965. Zum 20. Jahrestag des Kriegsendes sah sich die Bundesrepublik „überall im Osten auf die Anklagebank gesetzt”, und die Westmächte verweigerten auf französischen Druck hin eine gemeinsame Note zugunsten des „geläuterten” Partners. Derart isoliert, rückten die bundesdeutschen Politiker zusammen und riefen gemeinsam mit Kanzler Erhard das „Ende der Nachkriegszeit” aus. Gleichzeitig brach die Evangelische Kirche ein Tabu, indem sie sich für die Oder-Neiße-Grenze aussprach und der Vertriebenen „Recht auf Heimat” sacht kritisierte. Die DDR hingegen stilisierte sich zur Siegermacht. Laut Walter Ulbricht waren „dreihundert deutsche Rüstungsindustrielle und Bankherren” für Hitler und den Weltkrieg verantwortlich. Ergo „bestand die Bewältigung der NS-Vergangenheit in Ostdeutschland schlicht und einfach in der Beseitigung des Kapitalismus”. Auf diesen Nenner bringt Jeffrey Herf das offizielle Gedenken sowjetischer Bauart. Der Holocaust wurde ausgespart, galten die Juden doch als Vertreter des Kapitalismus und des Westens. Gemäß dem Historiker aus Maryland verfuhr die DDR-Führung strikt hegelianisch. Das jährliche Gedenken an die „Opfer des Faschismus” interpretierte „eine sinnlose Tragödie in ein erlösendes Martyrium um, das zum siegreichen Ende der Geschichte beigetragen habe.”
Erinnerungskulturen scheitern immer dann, wenn das Vergangene einen von der Gegenwart vorgegebenen Sinn exemplifizieren soll. Deutsche, Japaner, Italiener müssen sich aus der Sinnfalle befreien, um durchzudringen zu dem, was war. Und selbst dann gilt David Cohens Erkenntnis: Öffentliche Erinnerung ist ohne „das Moment des Auslöschens und des Überschattens von Erinnerungen” nicht zu haben.
ALEXANDER KISSLER
CHRISTOPH CORNELIßEN (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2003. 368 S., 12,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Wie Deutschland, Japan und Italien den Zweiten Weltkrieg verdrängten
Ein Jahr nach Kriegsende schrieb Alfred Weber, Deutschland müsse der „Überwinder seines eigenen Schattens” werden. Mit dem Zweiten Weltkrieg sei die Epoche „rivalisierender Staatsnationen” beendet; „Kulturnationen” müssten aus dem „katastrophalen geschichtlichen Zusammenbruch” hervorgehen, bevorzugtes Mittel hierfür sei tätige Erinnerung. Ohne es auszusprechen, hatte Alfred Weber einen Begriff vorweg genommen, der 50 Jahre später en vogue wurde: den Begriff der Erinnerungskultur. Dass diese auf einem umfassenden und keinem selektiven Gedenken ruhen muss, wurde in Deutschland, Japan, Italien erst mit zeitlicher Verzögerung und eher halbherzig anerkannt. Nirgends ist es so schwer, den falschen Weg zu meiden, wie auf dem Gebiet der Gedächtnispolitik.
Im Herbst 2001 wurde in der Gemäldegalerie von Triest das Porträt des Antisemiten Cesare Pagnini wieder aufgehängt, und man benannte eine Straße nach dem Faschisten Giorgio Almirante. In einem Nachbarort brachte der Bürgermeister Mussolinis Formel „Glauben, Gehorchen, Kämpfen” am Portal der Schule wieder an. Mit diesen und weiteren Beispielen belegt der Turiner Historiker Brunello Mantelli die These von der Rückkehr des Revisionismus. Der Kollaps der SU und der Niedergang der Christdemokraten und Sozialisten habe zur „Normalisierung der faschistischen Vergangenheit” beigetragen – obwohl, wie Mantellis Münchner Kollege Hans Woller nachweist, „in keinem Land Europas die Gerichte nach dem Krieg so rasch und massiv gegen belastete Faschisten vorgegangen sind wie in Italien.” Von juristischen Maßnahmen aber kann nie auf den Zustand der Erinnerungskultur geschlossen werden. Diese ist das Kind eines langen, schmerzhaften Nachdenkens.
Italien, als „faschistische Ursprungsdiktatur” (Wolfgang Schieder) Vorbild für die Regime in Deutschland und Japan, ist vorne mit dabei, wenn es darum geht, die „guten Gründe” einer Unrechtsdiktatur herauszustellen. „Aussöhnung mit der Vergangenheit” heißt dieses ideologische Programm der neunziger Jahre. In Japan betreibt man „Aufrechnung” und verfolgt den selben Zweck: die Exkulpation. Die italienische Öffentlichkeit mag nicht an die Konzentrationslager in Libyen, Albanien, Jugoslawien erinnert werden. Japaner sprachen Ende der siebziger Jahre erstmals offiziell vom „Massaker” statt vom „Zwischenfall von Nanking”, dem 1937 rund 200 000 Chinesen zum Opfer fielen. Anders als in Italien hat man in Japan begonnen, sich allmählich von der Opferrolle zu verabschieden. Noch immer aber dominiert in dieser, so Kenichi Mishima, „mehrheitlich starrköpfigen Nation” eine „Kultur des Sich-Absperrens”. Man warte schweigsam, „bis der Zahn der Zeit diesen Teil der Geschichte zernagt hat”.
Mit Hegel zur Siegermacht
„Aufrechnung” bedeutet, die 20 Millionen ermordeten Chinesen in Relation zu setzen mit dem westlichen Kolonialismus – nach dem Motto: „Warum sollen sich die Japaner allein dafür entschuldigen, dass sie an der vom Westen begonnenen kolonialen Aufteilung der Welt teilnehmen wollten?” Ähnlich überwog in Westdeutschland lange das öffentliche Erinnern an die eigenen Opfer, ehe es Ende der sechziger Jahre zu einer „Bewusstseinsrevolution” kam: so Edgar Wolfrum im spannendsten, vielschichtigsten Beitrag dieses durchweg interessanten, stellenweise aber zu sehr in der Beschreibung verharrenden Sammelbandes.
Der Darmstäder Historiker untersucht das „Übergangsjahr” 1965. Zum 20. Jahrestag des Kriegsendes sah sich die Bundesrepublik „überall im Osten auf die Anklagebank gesetzt”, und die Westmächte verweigerten auf französischen Druck hin eine gemeinsame Note zugunsten des „geläuterten” Partners. Derart isoliert, rückten die bundesdeutschen Politiker zusammen und riefen gemeinsam mit Kanzler Erhard das „Ende der Nachkriegszeit” aus. Gleichzeitig brach die Evangelische Kirche ein Tabu, indem sie sich für die Oder-Neiße-Grenze aussprach und der Vertriebenen „Recht auf Heimat” sacht kritisierte. Die DDR hingegen stilisierte sich zur Siegermacht. Laut Walter Ulbricht waren „dreihundert deutsche Rüstungsindustrielle und Bankherren” für Hitler und den Weltkrieg verantwortlich. Ergo „bestand die Bewältigung der NS-Vergangenheit in Ostdeutschland schlicht und einfach in der Beseitigung des Kapitalismus”. Auf diesen Nenner bringt Jeffrey Herf das offizielle Gedenken sowjetischer Bauart. Der Holocaust wurde ausgespart, galten die Juden doch als Vertreter des Kapitalismus und des Westens. Gemäß dem Historiker aus Maryland verfuhr die DDR-Führung strikt hegelianisch. Das jährliche Gedenken an die „Opfer des Faschismus” interpretierte „eine sinnlose Tragödie in ein erlösendes Martyrium um, das zum siegreichen Ende der Geschichte beigetragen habe.”
Erinnerungskulturen scheitern immer dann, wenn das Vergangene einen von der Gegenwart vorgegebenen Sinn exemplifizieren soll. Deutsche, Japaner, Italiener müssen sich aus der Sinnfalle befreien, um durchzudringen zu dem, was war. Und selbst dann gilt David Cohens Erkenntnis: Öffentliche Erinnerung ist ohne „das Moment des Auslöschens und des Überschattens von Erinnerungen” nicht zu haben.
ALEXANDER KISSLER
CHRISTOPH CORNELIßEN (Hrsg.): Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2003. 368 S., 12,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"Durchweg interessant" findet Rezensent Alexander Kissler den von Christoph Cornelißen herausgegebenen Sammelband "Erinnerungskulturen", der sich mit der Verdrängung des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, Italien und Japan befasst. Wie Kissler darlegt, wurde in diesen Ländern erst spät und eher halbherzig anerkannt, dass Erinnerungskultur auf einem "umfassenden und keinem selektiven Gedenken" ruhen muss. So zeige Edgar Wolfrum in seinem Beitrag, dass in Westdeutschland lange das öffentliche Erinnern an die eigenen Opfer überwog, ehe es Ende der sechziger Jahre zu einer "Bewusstseinsrevolution" kam. Überzeugend findet Kissler auch den Beitrag von Jeffrey Herf, der sich mit der Bewältigung der NS-Vergangenheit in der DDR auseinandersetzt. Das jährliche Gedenken an die "Opfer des Faschismus" interpretiere "eine sinnlose Tragödie in ein erlösendes Martyrium um, das zum siegreichen Ende der Geschichte beigetragen habe", zitiert Kissler den Historiker. Positiv erwähnt Kissler ferner Brunello Mantellis Beitrag über die Rückkehr des Revisionismus in Italien sowie Kenichi Mishimas Beitrag über "Aufrechnung" von Unrecht in Japan. Als einziges Manko des Bandes empfindet Kissler, dass er "stellenweise zu sehr in der Beschreibung" verharre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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