Statt 39,90 EUR jetzt nur noch 18,00 EUR Vom königlichen Hof, Jeanne d'Arc und den Errungenschaften der Französischen Revolution über Verdun und Vichy bis hin zu Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit und der Tour de France - in insgesamt sechzehn Essays entsteht ein lebendiges Panorama der Erinnerungslandschaft unserer Nachbarn. "Das Gedächtnis klammert sich an Orte wie die Geschichte an Ereignisse." Nach dem großen Erfolg der Deutschen Erinnerungsorte erscheint nun erstmals in deutscher Sprache eine Auswahl aus dem umfangreichen Werk, das als Grundlage und Vorbild all dieser Versuche einer neuen Gedächtnistopographie gelten kann: Les lieux de mémoire. In insgesamt sechzehn Essays beschreiben die Autoren ausgewählte zentrale Erinnerungsorte Frankreichs: der Nation, der Republik und des Landes mit seinen vielfältigen Facetten. Der Bogen spannt sich vom königlichen Hof, Jeanne d'Arc und den Errungenschaften der Französischen Revolution über Verdun und Vichy bis hin zu Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" und der Tour de France. Dabei geht es nicht um Ereignisgeschichte, sondern um eine Symbolgeschichte, die nach dem Fortleben dieser "Orte" im kollektiven Gedächtnis (nicht nur) der Franzosen fragt.Glänzend geschrieben, bieten diese Beiträge ein lebendiges Panorama der Erinnerungslandschaft unserer Nachbarn und zeigen, daß diese bemerkenswerte Form der Geschichtsschreibung stets über nationale Grenzen hinausblickt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2006Die Entdeckung der Geschichten
Es war zuerst Gerücht, dann Ahnung und schließlich Gewißheit: In Frankreich war ein Band erschienen wie ein Hoffnungsstreif für alle, die die Fenster einer größtenteils stickig gewordenen deutschen Geschichtswissenschaft aufstoßen mußten, um atmen zu können, um nicht zu verzweifeln am bohrenden Gefühl des Ungenügens und an der noch tastenden Suche nach einer Art Geschichtsschreibung, die anderes hervorbrächte als Gliederpuppen. Es gab in der avancierten Germanistik Deutschlands und im Großunternehmen der "Geschichtlichen Grundbegriffe" in den achtziger Jahren faszinierende Beispiele für eine Zusammenschau von Kultur-, Mentalitäts-, Sozial- und Politikgeschichte, die in ihrer Kombination je ein ganz neues Gesicht erhielten. Und nun kam dieses französische Gerücht.
Kaum in Frankreich, kaufte man den Band. Dreihundert Franc kostete er, hundert Mark. Das war viel. Es stellte sich aber bald heraus, daß der Band weit mehr wert war, als er kostete. Er trug den heute geläufigen Obertitel "Lieux de mémoire", und der erste Teil dieses mehrbändigen Unternehmens hieß "La République". Er handelte von den "Drei Farben" der Republik, von der "Marseillaise", vom Lexikon Larousse, dem Pantheon, von Vichy, von republikanischen Jubiläen und Kriegerdenkmälern, geschrieben von den einfallsreichsten und leidenschaftlichsten Historikern des Landes: von Raoul Giradet über Michel Vovelle, Mona Ozouf, Maurice Agulhon bis zu Pierre Nora. Was für eine Mischung, was für ein Blick auf die Dinge und die handelnden Menschen. Selbst wenn man sich nicht für jede Facette der Französischen Republik interessierte, war das, was hier vorgestellt wurde, in hohem Maß anregend. Politisch betrachtet, bedeuteten die "Lieux de mémoire" eine explizite Absage an französisch-republikanische Selbstverständlichkeiten. Frankreich, nein die Französische Republik wurde sich selbst historisch, ihre Geschichte, die über den Zweiten Weltkrieg hinaus so weitergeschrieben worden war, als sei jeder Bruch, jedes Desaster, jeder Stolperstein eine Stufe auf dem Weg zur Vollendung der französischen Heilsgeschichte - diese Geschichte war mit einem Mal als vergangene erkennbar.
Die Mischung aus Nostalgie über die endgültig verlorene republikanische Selbstverständlichkeit und dem Wunsch, alte gemeinsame Tugenden erneuert zu sehen, konnte nicht verbergen, daß hier Abschied genommen wurde. Der nach dem Weltkrieg erneuerte republikanische Mythos wurde nicht eigentlich gestürmt, er war einfach nur als solcher erkennbar und damit seiner Wirkung beraubt. Die republikanisch-politische Jungfräulichkeit Frankreichs in der Zeit der Besatzung und später in der Phase der Dekolonisation im allgemeinen und Algeriens im besonderen entpuppte sich als Schimäre - eine der Grundvoraussetzungen für die Entwicklung eines europäischen Geschichtsbewußtseins, das die Gemeinsamkeiten und gegenseitigen Abhängigkeiten der Nationalgeschichten erzählte, anstatt nationale Legenden fortzuspinnen.
Über diesen eminenten politischen Aspekt hinaus stand der Band für eine neue Art der Geschichtsschreibung, auch der französischen Nationalgeschichtsschreibung. Und schließlich trat hiermit eine eigene, französische Variante der Historiographiegeschichte auf den Plan. Die "Lieux de mémoire" waren eine neue "Selbstentdeckung", eine reflexive Entgegensetzung zur nationalen Selbstentdeckung Frankreichs am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, der viele solcher Selbstentdeckungen in anderen Ländern folgten - und im Zeitalter des Nationalismus kumulierten. Kurzum: Methode, Gegenstand und Interesse der "Lieux de mémoire" gingen aufs Ganze. Dabei sind wir nur beim ersten Band eines Unternehmens, das schließlich sieben Bände und 5700 Seiten umfassen sollte und bis zur Kulturgeographie den historischen Boden des Nachbarlandes einmal umpflügte.
Es ist weit mehr als eine Erinnerung an dieses Abenteuer, wenn der Beck Verlag nun eine repräsentative, von Pierre Nora herausgegebene und von Étienne François geleitete und mit einem instruktiven Vorwort versehene Auswahl aus den großen Bänden der "Lieux de mémoire" herausgibt (Pierre Nora: "Erinnerungsorte Frankreichs". Aus dem Französischen von Michael Bayer, Enrico Heinemann, Elsbeth Ranke, Ursel Schäfer, Hans Thill und Reinhard Tiffert. München 2005. 667 S., 38 Abb., geb., 39,90 [Euro]). Denn zum einen können die deutschen Leser sich nun anhand ausgewählter Aufsätze, zum Beispiel über den Eiffelturm und über Paris und die Provinz, einen Überblick über das Werk insgesamt verschaffen. Eingeklammert ist dieser Überblick durch zwei Aufsätze Pierre Noras, die den Ausgangs- und den Endpunkt des Unternehmens markieren. Zu Beginn geht es darum, wie sich die Geschichte Frankreichs am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts schreiben läßt, zum Abschluß befindet sich der Leser im "Zeitalter des Gedenkens".
Auch wenn Ulrich Raulff 1990 eine kleine Auswahl aus den ersten beiden Bänden im Wagenbach Verlag herausgebracht und damit einer breiteren deutschen Rezeption Bahn gebrochen hat, so ist der vorliegende Band keineswegs eine entbehrliche antiquarische Angelegenheit, denn er legt den Akzent auf die späteren Bände, deren Aufsätze ein besonderes Interesse beanspruchen können. In gewisser Hinsicht läßt sich sagen, daß diese Aufsätze noch auf ihre Entdeckung warten. Schließlich weiß man nie so genau, wann aus dem Rückblick wieder ein Blick voraus wird.
MICHAEL JEISMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es war zuerst Gerücht, dann Ahnung und schließlich Gewißheit: In Frankreich war ein Band erschienen wie ein Hoffnungsstreif für alle, die die Fenster einer größtenteils stickig gewordenen deutschen Geschichtswissenschaft aufstoßen mußten, um atmen zu können, um nicht zu verzweifeln am bohrenden Gefühl des Ungenügens und an der noch tastenden Suche nach einer Art Geschichtsschreibung, die anderes hervorbrächte als Gliederpuppen. Es gab in der avancierten Germanistik Deutschlands und im Großunternehmen der "Geschichtlichen Grundbegriffe" in den achtziger Jahren faszinierende Beispiele für eine Zusammenschau von Kultur-, Mentalitäts-, Sozial- und Politikgeschichte, die in ihrer Kombination je ein ganz neues Gesicht erhielten. Und nun kam dieses französische Gerücht.
Kaum in Frankreich, kaufte man den Band. Dreihundert Franc kostete er, hundert Mark. Das war viel. Es stellte sich aber bald heraus, daß der Band weit mehr wert war, als er kostete. Er trug den heute geläufigen Obertitel "Lieux de mémoire", und der erste Teil dieses mehrbändigen Unternehmens hieß "La République". Er handelte von den "Drei Farben" der Republik, von der "Marseillaise", vom Lexikon Larousse, dem Pantheon, von Vichy, von republikanischen Jubiläen und Kriegerdenkmälern, geschrieben von den einfallsreichsten und leidenschaftlichsten Historikern des Landes: von Raoul Giradet über Michel Vovelle, Mona Ozouf, Maurice Agulhon bis zu Pierre Nora. Was für eine Mischung, was für ein Blick auf die Dinge und die handelnden Menschen. Selbst wenn man sich nicht für jede Facette der Französischen Republik interessierte, war das, was hier vorgestellt wurde, in hohem Maß anregend. Politisch betrachtet, bedeuteten die "Lieux de mémoire" eine explizite Absage an französisch-republikanische Selbstverständlichkeiten. Frankreich, nein die Französische Republik wurde sich selbst historisch, ihre Geschichte, die über den Zweiten Weltkrieg hinaus so weitergeschrieben worden war, als sei jeder Bruch, jedes Desaster, jeder Stolperstein eine Stufe auf dem Weg zur Vollendung der französischen Heilsgeschichte - diese Geschichte war mit einem Mal als vergangene erkennbar.
Die Mischung aus Nostalgie über die endgültig verlorene republikanische Selbstverständlichkeit und dem Wunsch, alte gemeinsame Tugenden erneuert zu sehen, konnte nicht verbergen, daß hier Abschied genommen wurde. Der nach dem Weltkrieg erneuerte republikanische Mythos wurde nicht eigentlich gestürmt, er war einfach nur als solcher erkennbar und damit seiner Wirkung beraubt. Die republikanisch-politische Jungfräulichkeit Frankreichs in der Zeit der Besatzung und später in der Phase der Dekolonisation im allgemeinen und Algeriens im besonderen entpuppte sich als Schimäre - eine der Grundvoraussetzungen für die Entwicklung eines europäischen Geschichtsbewußtseins, das die Gemeinsamkeiten und gegenseitigen Abhängigkeiten der Nationalgeschichten erzählte, anstatt nationale Legenden fortzuspinnen.
Über diesen eminenten politischen Aspekt hinaus stand der Band für eine neue Art der Geschichtsschreibung, auch der französischen Nationalgeschichtsschreibung. Und schließlich trat hiermit eine eigene, französische Variante der Historiographiegeschichte auf den Plan. Die "Lieux de mémoire" waren eine neue "Selbstentdeckung", eine reflexive Entgegensetzung zur nationalen Selbstentdeckung Frankreichs am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, der viele solcher Selbstentdeckungen in anderen Ländern folgten - und im Zeitalter des Nationalismus kumulierten. Kurzum: Methode, Gegenstand und Interesse der "Lieux de mémoire" gingen aufs Ganze. Dabei sind wir nur beim ersten Band eines Unternehmens, das schließlich sieben Bände und 5700 Seiten umfassen sollte und bis zur Kulturgeographie den historischen Boden des Nachbarlandes einmal umpflügte.
Es ist weit mehr als eine Erinnerung an dieses Abenteuer, wenn der Beck Verlag nun eine repräsentative, von Pierre Nora herausgegebene und von Étienne François geleitete und mit einem instruktiven Vorwort versehene Auswahl aus den großen Bänden der "Lieux de mémoire" herausgibt (Pierre Nora: "Erinnerungsorte Frankreichs". Aus dem Französischen von Michael Bayer, Enrico Heinemann, Elsbeth Ranke, Ursel Schäfer, Hans Thill und Reinhard Tiffert. München 2005. 667 S., 38 Abb., geb., 39,90 [Euro]). Denn zum einen können die deutschen Leser sich nun anhand ausgewählter Aufsätze, zum Beispiel über den Eiffelturm und über Paris und die Provinz, einen Überblick über das Werk insgesamt verschaffen. Eingeklammert ist dieser Überblick durch zwei Aufsätze Pierre Noras, die den Ausgangs- und den Endpunkt des Unternehmens markieren. Zu Beginn geht es darum, wie sich die Geschichte Frankreichs am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts schreiben läßt, zum Abschluß befindet sich der Leser im "Zeitalter des Gedenkens".
Auch wenn Ulrich Raulff 1990 eine kleine Auswahl aus den ersten beiden Bänden im Wagenbach Verlag herausgebracht und damit einer breiteren deutschen Rezeption Bahn gebrochen hat, so ist der vorliegende Band keineswegs eine entbehrliche antiquarische Angelegenheit, denn er legt den Akzent auf die späteren Bände, deren Aufsätze ein besonderes Interesse beanspruchen können. In gewisser Hinsicht läßt sich sagen, daß diese Aufsätze noch auf ihre Entdeckung warten. Schließlich weiß man nie so genau, wann aus dem Rückblick wieder ein Blick voraus wird.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Auch wenn der Titel nicht ganz stimme - eigentlich seien Orte des kollektiven Gedächtnisses und nicht der individuellen Erinnerung gemeint -, preist Peter Schöttler die deutsche Auswahl aus der von Pierre Nora herausgegebenen Reihe als "hervorragend geeignet" für all jene, die sich einführend über die jüngere Kulturgeschichte Frankreichs informieren wollen. Unter Noras Führung haben die "innovativsten" Historiker Frankreichs sich mit der Wahrnehmung und "Speicherung" historischer Themen im gemeinsamen Gedächtnis der Nation beschäftigt. In der vorliegenden Auslese seien denn auch die "schönsten und für eilige Ausländer wohl auch interessantesten" Essays der Reihe versammelt, von Jeanne d'Arc bis Vichy, informiert Schöttler, der als leichtfüßiger Locuteur natif die vorliegende Auslese aber selbstverständlich nur jenen wirklich ans Herz legen vermag, die sich das französische Original nicht "zutrauen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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