Alles hätte auch ganz anders kommen können. Eine Ausbildung unter den Augen des Papstes im römischen Eliteinstitut Collegium Germanicum, die Priesterweihe in Rom, eine aufsehenerregende Dissertation in Paris, mit 32 Jahren Professor für Fundamentaltheologie und Konzilsberater: So beginnen kirchliche Karrieren allerersten Ranges. Aber Hans Küng entscheidet sich anders: für Freiheit statt Anpassung, für Wahrheit statt Kompromiss. In einem sehr persönlichen und gedankenreichen Rückblick auf die ersten vier Jahrzehnte seines Lebens erzählt er, wie aus dem »Mustergermaniker« und potenziellen Kardinal ein Mann des aufrechten Ganges wird, der sich seine Freiheit in der Kirche und teilweise auch gegen sie erkämpft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Er kennt sich nicht vor Kampfbegier
Ich aber schreibe euch: Hans Küng legt den ersten Band seiner Memoiren vor / Von Eberhard Jüngel
Ich schreibe meine Memoiren - so tief bin ich gesunken", antwortete der alte Karl Barth, als ich ihn bei einem von der DDR-Regierung überraschenderweise gestatteten Besuch fragte, womit er sich zur Zeit beschäftige. Sein Schweizer Landsmann Hans Küng, der Karl Barth als väterlichen Freund erfahren hat, dürfte das anders sehen. Seinen Erinnerungen, deren ersten Teil er unter dem Titel "Erkämpfte Freiheit" soeben publiziert hat, merkt man an, daß er, wohin er auch kommt, allemal "den höchsten Punkt" sucht - und das wohl nicht nur, "um so Ausblick, Überblick und Einblick zu erhalten", sondern doch wohl auch deshalb, weil er da oben außer dem lieben Gott niemanden mehr über sich hat. Seine Memoiren dokumentieren Seite für Seite überlegte Überlegenheit.
Auf nahezu sechshundert Seiten erinnert sich Hans Küng an die ersten vierzig Jahre seines Lebens. Eingeteilt in neun Kapitel, erzählt er von der politischen Freiheit, in die er als Schweizer hineingeboren wurde: ererbte Freiheit. Doch "was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen". Küng erzählt von der wissenschaftlichen Freiheit, die er sich mühsam erarbeiten, ja oft genug erstreiten mußte und die er dann leidenschaftlich verteidigt hat: erkämpfte Freiheit. Er erzählt von der erst in Konflikten sich bemerkbar machenden, jeder fremden Autorität schlechthin überlegenen eigenen moralischen Urteilskraft, die - so Hegel - anzutasten Frevel wäre: Gewissensfreiheit. Er erzählt von seinen eigenen Büchern und dem unterschiedlichen Echo, das sie weltweit hervorgerufen haben: erschriebene Freiheit. Und zugleich erzählt er von den Freiheitserfahrungen eines Christenmenschen, also von jener Freiheit, die man weder erkämpfen noch sonstwie erwerben kann: geschenkte Freiheit.
Der Leser dieser Memoiren lernt den in Sursee heranwachsenden Schweizerknaben kennen, dessen Eltern es mit einem gutgehenden Schuhgeschäft zu bürgerlichem Wohlstand gebracht haben. Die Bedrohungen der politischen Freiheit werden sensibel wahrgenommen. Für den Elfjährigen - er schreibt schon damals ungewöhnlich lange Schulaufsätze - ist 1939 "moralische Aufrüstung zur geistigen und militärischen Landesverteidigung . . . die Forderung der Stunde". Der Katholizismus der Jugend ist eher mittelalterlich und barock geprägt, aber durchaus sinnenfroh. Nur ein inquisitorisch nachfragender Beichtvater stört den religiösen Frieden einer geschlossenen katholischen Welt. Doch ein charismatischer junger Pfarrhelfer erschließt neue Horizonte.
In ihm begegnet dem heranwachsenden Jüngling das, was er später "das befreiend Jesuanische" nennen wird. Diese Begegnung führt zu dem Entschluß, Geistlicher zu werden. Die Entscheidung bahnt sich in der Luzerner Gymnasialzeit an, in der die Erfahrungen mit einer "offenen humanistischen Kultur" zur "Absage an das katholische Bildungsghetto" führen. Derart disponiert, zieht Hans Küng - wenn schon, denn schon - nach Rom, um im berühmten Collegium Germanicum et Hungaricum ein siebenjähriges philosophisches und theologisches Studium zu absolvieren - "sozusagen unter den Augen des Papstes". Jugendseelsorger will er werden, wofür ihm "ein Doktorat angemessen scheint". Und seelsorgerliche Absichten werden in der Tat seine ganze theologische Existenz bestimmen. Dem Leser wird versichert, daß der Germaniker Hans Küng "nicht nach einem hohen kirchlichen Amt und erst recht nicht nach einer Professur" schielte.
Dergleichen Beteuerungen kehren von nun an immer wieder. Oft verbinden sie sich mit der Gewißheit, daß er sich darin von nicht wenigen Zeitgenossen wohltuend unterscheide. Abfällige Bemerkungen über andere Theologen - "Ratzingers Marsch durch die Institutionen" wird mit der Behauptung kommentiert: "Geistliche Macht gibt sicher auch viel weltliche Befriedigung" - überschatten die sonst so spannend erzählte Autobiographie. Doch wer davon abstrahieren kann, begleitet den jungen Germaniker mit Spannung und Sympathie durch seine römischen Jahre mit ihren Höhe- und Tiefpunkten - ein Weg, auf dem Selbstbewußtsein und Selbstdisziplin erheblich gestärkt werden. Erste Auseinandersetzungen mit kleineren und größeren Autoritäten werden, zuweilen unter Tränen, tapfer durchgestanden. Die Forderung des Ignatius von Loyola, man müsse "glauben, daß das Weiße, das ich sehe, schwarz ist, wenn die hierarchische Kirche es so definiert", will ihm partout nicht einleuchten. Sonst aber verdankt er den "Geistlichen Übungen" des Ignatius viel für seine "Besinnung auf die Grundlagen eines Christenlebens". Und gern feiert der zum Priester geweihte "Mustergermaniker" seine Primiz in den Grotten des Vatikans. Hans Küng weiß, was er seiner römischen Ausbildung zu verdanken hat. Und so bestimmt denn Dank den Rückblick auf das "durchregulierte Leben" in der "römischen Kaderschule". Was er hier gelernt, erfahren und erlitten hat, wird er zu nutzen verstehen.
Der Leser hat fast hundertsechzig Seiten hinter sich. Auf den folgenden vierhundertvierzig Seiten erfährt er, wie Küng, dem "strategisches Denken . . . schon früh selbstverständlich ist", seine weitere theologische Existenz konzipiert und wie ihm Köpfe von Rang helfen, sich seinen eigenen Weg zu bahnen. Karl Barth schreibt ihm den erbetenen Geleitbrief für seine Dissertation über dessen Rechtfertigungslehre, die in ein positives Verhältnis zum tridentinischen Rechtfertigungsdekret gesetzt wird. Kardinal König wird wenig später mit Erfolg um denselben Gefallen für das Buch "Konzil und Wiedervereinigung" gebeten. Hans Urs von Balthasar, Karl Rahner, Yves Congar und andere kooperieren gern. Auch sie wollen "Erneuerung als Ruf in die Einheit" der Christen - so der Untertitel des mit dem Segen des Wiener Kardinals herausgegangenen Buches. Der Mailänder Erzbischof Montini nimmt Person und Texte Küngs mit wachem Interesse zur Kenntnis und wird als Papst auf dessen "Inquisitionsakte" vermerken, daß Küng zwar "ein Zeichen" geben müsse, daß man aber im Vatikan "mit Liebe prozedieren" solle.
In Luzern trifft der Vikar auf einen reformfreudigen Pfarrer und gleichgesinnte Mitvikare, vor allem aber auf eine begeisterungsfähige Gemeinde, während die dortige Theologische Fakultät ihn - wer es fassen kann, der fasse es - bis zum heutigen Tag konsequent ignoriert. In Münster findet der Assistent in dem späteren Kardinal Hermann Volk einen wohlwollenden Förderer. Und in Tübingen begegnet dem auf eine Professur für Fundamentaltheologie berufenen Ordinarius in dem evangelischen Theologen Ernst Käsemann ein Repräsentant der Bultmannschule, die historisch-kritische Exegese mit hermeneutischer Reflexion zu einer systematischen Synthese zu verbinden vermag. Die exegetische Begründung theologischer Behauptungen und kirchlicher Ansprüche wird Küng von seiner eigenen Kirche nunmehr penetrant einfordern. Ernst Käsemann aber erklärt nach Lektüre der Monographie über die Kirche im Festsaal der Universität: "Mit diesem Buch ist die Kirchenspaltung zwischen mir und Hans Küng beendet."
Und dann das Konzil, das Johannes XXIII. im Vatikan anberaumt! Vor dem Konzil, auf dem Konzil und nach dem Konzil wird Küng mit Reden und Texten tätig, die für eine Strukturerneuerung der katholischen Kirche und für ein weltoffenes Christentum plädieren. Viele Konzilsväter, auf die er nachhaltigen Eindruck macht, merken: Dieser Mann will ehrliche Verhältnisse. Das Evangelium soll die Kirche reformieren. Es kommt zu einer intensiven Zusammenarbeit mit Joseph Ratzinger, der seine Sympathie für Küngs theologische Entwürfe nicht verhehlt. Der Name Ratzinger fällt in Küngs Erinnerungen immer wieder, und nicht selten ist der Gleichaltrige und Gleichbegabte auch da präsent, wo sein Name nicht fällt. Und der Leser fragt sich, ob es wirklich dahin kommen mußte, daß beide später voneinander bitter enttäuscht sind. Immerhin, Küng - als Schweizer allezeit "freudvoll zum Streit" - "mag keine Feindschaften". Er versteht sich zwar auf harte und härteste Auseinandersetzungen und sagt von sich selbst: "Ich bin wohl ein Kämpfer, aber sicher kein Jäger." Doch Kämpfer wollen Sieger werden. Der, wie er immer wieder betont, nicht auf Macht und Karriere Bedachte freut sich, am Ende seiner Erinnerungen - einigermaßen anachronistisch - den zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag ins Haus stehenden Besuch des UN-Generalsekretärs ankündigen zu können. "Alles, selbstverständlich, deo benevolente."
Was sollen wir nun dazu sagen? Immanuel Kant hat als "Maximen des gemeinen Menschenverstandes" geltend gemacht: "1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes anderen denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken." In Küngs Memoiren lernt man einen Menschen kennen, der sich die erste und die dritte dieser Maximen konsequent zu eigen gemacht hat. Die zweite Maxime, die die Katholizität des Denkens indiziert, hat er auf jeden Fall sich anzueignen bemüht. Doch in diesem Fall muß man wohl über den eigenen Schatten springen.
Wie auch immer, Küngs Erinnerungen memorieren ein reiches Leben, in dem tiefe Spiritualität und intensive Weltlichkeit sich gegenseitig begünstigen. Der Autor ist auf historische Genauigkeit bedacht. Nicht nur das eigene Gedächtnis, sondern eine Fülle von Akten wird bemüht, um die eigene Lebensgeschichte, die mit der Konzilsgeschichte, ja mit der neuesten Kirchengeschichte verknotet ist, gewissenhaft zu rekonstruieren. In diesen Memoiren meldet sich ein authentischer Zeitzeuge zu Wort, der als ein das Evangelium hochhaltender Katholik verstanden werden will. Das macht sein Buch allemal lesenswert. Die differenzierte Schilderung des Konzils mit seinem Auf und Ab ist ein Kabinettstück narrativer Theologie.
Zu den nicht jedem Leser sympathischen Eigenarten dieser Erinnerungen gehört es, daß der Autor beim Erzählen sich selbst ständig über die eigene Schulter blickt und sich dementsprechend immer wieder selbst ins Wort fällt. Das prägt den Stil dieser Memoiren, in denen der Gang der Ich-Erzählung häufig durch ein "Ich aber" oder ein "Ich selbst" unterbrochen wird. Der Erzähler deutet sich selbst und stellt nicht nur anderen Personen der Handlung, sondern eben auch sich selbst gern Zeugnisse aus. Der Leser merkt: Hans Küng kennt sich selbst. Das unterscheidet ihn übrigens von seinem väterlichen Freund Karl Barth, der dem Rezensenten in einem unvergeßlichen Gespräch ebenso fröhlich wie entschieden erklärte: "Ich kenne mich nicht." Er hat denn auch seine Memoiren, als sie sich seiner Geburt näherten, entschlossen abgebrochen. Der zweite Band der Küngschen Memoiren ist bereits angekündigt.
Hans Küng: "Erkämpfte Freiheit". Erinnerungen. Piper Verlag, München 2002. 621 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
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Ich aber schreibe euch: Hans Küng legt den ersten Band seiner Memoiren vor / Von Eberhard Jüngel
Ich schreibe meine Memoiren - so tief bin ich gesunken", antwortete der alte Karl Barth, als ich ihn bei einem von der DDR-Regierung überraschenderweise gestatteten Besuch fragte, womit er sich zur Zeit beschäftige. Sein Schweizer Landsmann Hans Küng, der Karl Barth als väterlichen Freund erfahren hat, dürfte das anders sehen. Seinen Erinnerungen, deren ersten Teil er unter dem Titel "Erkämpfte Freiheit" soeben publiziert hat, merkt man an, daß er, wohin er auch kommt, allemal "den höchsten Punkt" sucht - und das wohl nicht nur, "um so Ausblick, Überblick und Einblick zu erhalten", sondern doch wohl auch deshalb, weil er da oben außer dem lieben Gott niemanden mehr über sich hat. Seine Memoiren dokumentieren Seite für Seite überlegte Überlegenheit.
Auf nahezu sechshundert Seiten erinnert sich Hans Küng an die ersten vierzig Jahre seines Lebens. Eingeteilt in neun Kapitel, erzählt er von der politischen Freiheit, in die er als Schweizer hineingeboren wurde: ererbte Freiheit. Doch "was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen". Küng erzählt von der wissenschaftlichen Freiheit, die er sich mühsam erarbeiten, ja oft genug erstreiten mußte und die er dann leidenschaftlich verteidigt hat: erkämpfte Freiheit. Er erzählt von der erst in Konflikten sich bemerkbar machenden, jeder fremden Autorität schlechthin überlegenen eigenen moralischen Urteilskraft, die - so Hegel - anzutasten Frevel wäre: Gewissensfreiheit. Er erzählt von seinen eigenen Büchern und dem unterschiedlichen Echo, das sie weltweit hervorgerufen haben: erschriebene Freiheit. Und zugleich erzählt er von den Freiheitserfahrungen eines Christenmenschen, also von jener Freiheit, die man weder erkämpfen noch sonstwie erwerben kann: geschenkte Freiheit.
Der Leser dieser Memoiren lernt den in Sursee heranwachsenden Schweizerknaben kennen, dessen Eltern es mit einem gutgehenden Schuhgeschäft zu bürgerlichem Wohlstand gebracht haben. Die Bedrohungen der politischen Freiheit werden sensibel wahrgenommen. Für den Elfjährigen - er schreibt schon damals ungewöhnlich lange Schulaufsätze - ist 1939 "moralische Aufrüstung zur geistigen und militärischen Landesverteidigung . . . die Forderung der Stunde". Der Katholizismus der Jugend ist eher mittelalterlich und barock geprägt, aber durchaus sinnenfroh. Nur ein inquisitorisch nachfragender Beichtvater stört den religiösen Frieden einer geschlossenen katholischen Welt. Doch ein charismatischer junger Pfarrhelfer erschließt neue Horizonte.
In ihm begegnet dem heranwachsenden Jüngling das, was er später "das befreiend Jesuanische" nennen wird. Diese Begegnung führt zu dem Entschluß, Geistlicher zu werden. Die Entscheidung bahnt sich in der Luzerner Gymnasialzeit an, in der die Erfahrungen mit einer "offenen humanistischen Kultur" zur "Absage an das katholische Bildungsghetto" führen. Derart disponiert, zieht Hans Küng - wenn schon, denn schon - nach Rom, um im berühmten Collegium Germanicum et Hungaricum ein siebenjähriges philosophisches und theologisches Studium zu absolvieren - "sozusagen unter den Augen des Papstes". Jugendseelsorger will er werden, wofür ihm "ein Doktorat angemessen scheint". Und seelsorgerliche Absichten werden in der Tat seine ganze theologische Existenz bestimmen. Dem Leser wird versichert, daß der Germaniker Hans Küng "nicht nach einem hohen kirchlichen Amt und erst recht nicht nach einer Professur" schielte.
Dergleichen Beteuerungen kehren von nun an immer wieder. Oft verbinden sie sich mit der Gewißheit, daß er sich darin von nicht wenigen Zeitgenossen wohltuend unterscheide. Abfällige Bemerkungen über andere Theologen - "Ratzingers Marsch durch die Institutionen" wird mit der Behauptung kommentiert: "Geistliche Macht gibt sicher auch viel weltliche Befriedigung" - überschatten die sonst so spannend erzählte Autobiographie. Doch wer davon abstrahieren kann, begleitet den jungen Germaniker mit Spannung und Sympathie durch seine römischen Jahre mit ihren Höhe- und Tiefpunkten - ein Weg, auf dem Selbstbewußtsein und Selbstdisziplin erheblich gestärkt werden. Erste Auseinandersetzungen mit kleineren und größeren Autoritäten werden, zuweilen unter Tränen, tapfer durchgestanden. Die Forderung des Ignatius von Loyola, man müsse "glauben, daß das Weiße, das ich sehe, schwarz ist, wenn die hierarchische Kirche es so definiert", will ihm partout nicht einleuchten. Sonst aber verdankt er den "Geistlichen Übungen" des Ignatius viel für seine "Besinnung auf die Grundlagen eines Christenlebens". Und gern feiert der zum Priester geweihte "Mustergermaniker" seine Primiz in den Grotten des Vatikans. Hans Küng weiß, was er seiner römischen Ausbildung zu verdanken hat. Und so bestimmt denn Dank den Rückblick auf das "durchregulierte Leben" in der "römischen Kaderschule". Was er hier gelernt, erfahren und erlitten hat, wird er zu nutzen verstehen.
Der Leser hat fast hundertsechzig Seiten hinter sich. Auf den folgenden vierhundertvierzig Seiten erfährt er, wie Küng, dem "strategisches Denken . . . schon früh selbstverständlich ist", seine weitere theologische Existenz konzipiert und wie ihm Köpfe von Rang helfen, sich seinen eigenen Weg zu bahnen. Karl Barth schreibt ihm den erbetenen Geleitbrief für seine Dissertation über dessen Rechtfertigungslehre, die in ein positives Verhältnis zum tridentinischen Rechtfertigungsdekret gesetzt wird. Kardinal König wird wenig später mit Erfolg um denselben Gefallen für das Buch "Konzil und Wiedervereinigung" gebeten. Hans Urs von Balthasar, Karl Rahner, Yves Congar und andere kooperieren gern. Auch sie wollen "Erneuerung als Ruf in die Einheit" der Christen - so der Untertitel des mit dem Segen des Wiener Kardinals herausgegangenen Buches. Der Mailänder Erzbischof Montini nimmt Person und Texte Küngs mit wachem Interesse zur Kenntnis und wird als Papst auf dessen "Inquisitionsakte" vermerken, daß Küng zwar "ein Zeichen" geben müsse, daß man aber im Vatikan "mit Liebe prozedieren" solle.
In Luzern trifft der Vikar auf einen reformfreudigen Pfarrer und gleichgesinnte Mitvikare, vor allem aber auf eine begeisterungsfähige Gemeinde, während die dortige Theologische Fakultät ihn - wer es fassen kann, der fasse es - bis zum heutigen Tag konsequent ignoriert. In Münster findet der Assistent in dem späteren Kardinal Hermann Volk einen wohlwollenden Förderer. Und in Tübingen begegnet dem auf eine Professur für Fundamentaltheologie berufenen Ordinarius in dem evangelischen Theologen Ernst Käsemann ein Repräsentant der Bultmannschule, die historisch-kritische Exegese mit hermeneutischer Reflexion zu einer systematischen Synthese zu verbinden vermag. Die exegetische Begründung theologischer Behauptungen und kirchlicher Ansprüche wird Küng von seiner eigenen Kirche nunmehr penetrant einfordern. Ernst Käsemann aber erklärt nach Lektüre der Monographie über die Kirche im Festsaal der Universität: "Mit diesem Buch ist die Kirchenspaltung zwischen mir und Hans Küng beendet."
Und dann das Konzil, das Johannes XXIII. im Vatikan anberaumt! Vor dem Konzil, auf dem Konzil und nach dem Konzil wird Küng mit Reden und Texten tätig, die für eine Strukturerneuerung der katholischen Kirche und für ein weltoffenes Christentum plädieren. Viele Konzilsväter, auf die er nachhaltigen Eindruck macht, merken: Dieser Mann will ehrliche Verhältnisse. Das Evangelium soll die Kirche reformieren. Es kommt zu einer intensiven Zusammenarbeit mit Joseph Ratzinger, der seine Sympathie für Küngs theologische Entwürfe nicht verhehlt. Der Name Ratzinger fällt in Küngs Erinnerungen immer wieder, und nicht selten ist der Gleichaltrige und Gleichbegabte auch da präsent, wo sein Name nicht fällt. Und der Leser fragt sich, ob es wirklich dahin kommen mußte, daß beide später voneinander bitter enttäuscht sind. Immerhin, Küng - als Schweizer allezeit "freudvoll zum Streit" - "mag keine Feindschaften". Er versteht sich zwar auf harte und härteste Auseinandersetzungen und sagt von sich selbst: "Ich bin wohl ein Kämpfer, aber sicher kein Jäger." Doch Kämpfer wollen Sieger werden. Der, wie er immer wieder betont, nicht auf Macht und Karriere Bedachte freut sich, am Ende seiner Erinnerungen - einigermaßen anachronistisch - den zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag ins Haus stehenden Besuch des UN-Generalsekretärs ankündigen zu können. "Alles, selbstverständlich, deo benevolente."
Was sollen wir nun dazu sagen? Immanuel Kant hat als "Maximen des gemeinen Menschenverstandes" geltend gemacht: "1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes anderen denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken." In Küngs Memoiren lernt man einen Menschen kennen, der sich die erste und die dritte dieser Maximen konsequent zu eigen gemacht hat. Die zweite Maxime, die die Katholizität des Denkens indiziert, hat er auf jeden Fall sich anzueignen bemüht. Doch in diesem Fall muß man wohl über den eigenen Schatten springen.
Wie auch immer, Küngs Erinnerungen memorieren ein reiches Leben, in dem tiefe Spiritualität und intensive Weltlichkeit sich gegenseitig begünstigen. Der Autor ist auf historische Genauigkeit bedacht. Nicht nur das eigene Gedächtnis, sondern eine Fülle von Akten wird bemüht, um die eigene Lebensgeschichte, die mit der Konzilsgeschichte, ja mit der neuesten Kirchengeschichte verknotet ist, gewissenhaft zu rekonstruieren. In diesen Memoiren meldet sich ein authentischer Zeitzeuge zu Wort, der als ein das Evangelium hochhaltender Katholik verstanden werden will. Das macht sein Buch allemal lesenswert. Die differenzierte Schilderung des Konzils mit seinem Auf und Ab ist ein Kabinettstück narrativer Theologie.
Zu den nicht jedem Leser sympathischen Eigenarten dieser Erinnerungen gehört es, daß der Autor beim Erzählen sich selbst ständig über die eigene Schulter blickt und sich dementsprechend immer wieder selbst ins Wort fällt. Das prägt den Stil dieser Memoiren, in denen der Gang der Ich-Erzählung häufig durch ein "Ich aber" oder ein "Ich selbst" unterbrochen wird. Der Erzähler deutet sich selbst und stellt nicht nur anderen Personen der Handlung, sondern eben auch sich selbst gern Zeugnisse aus. Der Leser merkt: Hans Küng kennt sich selbst. Das unterscheidet ihn übrigens von seinem väterlichen Freund Karl Barth, der dem Rezensenten in einem unvergeßlichen Gespräch ebenso fröhlich wie entschieden erklärte: "Ich kenne mich nicht." Er hat denn auch seine Memoiren, als sie sich seiner Geburt näherten, entschlossen abgebrochen. Der zweite Band der Küngschen Memoiren ist bereits angekündigt.
Hans Küng: "Erkämpfte Freiheit". Erinnerungen. Piper Verlag, München 2002. 621 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main