Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 17,00 €
Andere Kunden interessierten sich auch für
Produktdetails
  • Verlag: Literaturverlag Droschl
  • Seitenzahl: 251
  • Deutsch
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 400g
  • ISBN-13: 9783854204985
  • Artikelnr.: 08060657
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.12.1998

Adenauer wagt ein Tänzchen
Henri Michaux entdeckt im Rausch den Götterhunger / Von Lorenz Jäger

Das geht zu schnell los / Nicht mehr zu fassen" - Henri Michaux beginnt seine Aufzeichnungen eines Meskalinrausches mit einem Bewegungsprotokoll. Dieser Dichter, Literat und Künstler, 1899 geboren, Zeuge der Beschleunigungen, die wie ein Sog die Kollektive ergriffen, ihnen das Tempo am Fließband und im Verkehr diktierten, war von unerschöpflichem, rauschhaftem Erfindungsreichtum, wo es galt, einer neuen Konsistenz der Welt in Rhythmen, Oszillationen, Wellenbildungen und Geschwindigkeiten Ausdruck zu geben: "Allzu quickes Zirkulieren einer Zeit, die eine enorme Fülle von Momenten hat, die auf wunderbare Weise dahinflitzen." So schildert er die Wirkung der Droge, aber so quick und quecksilbrig waren auch die zwanziger Jahre, die ihn geprägt hatten.

Was ihn zum Schriftsteller machte, waren Modelle von neuen, unerhörten Bewegungen: In einer frühen Studie setzte er Mr. Benson ein Denkmal, der sich aus dem zweiundsechzigsten Stock eines Bürohauses am Broadway gestürzt hatte. Seine erste Publikation über einen "Fall von zirkulärem Irresein" erschien 1922. Sie schildert ein seelisches Symptom, das, wie Rainer G. Schmidt im Nachwort anmerkt, einer Bewegung des Verlusts von allem entspricht. Die Ruhe war Michaux so fremd, daß er eines surrealistischen Tricks bedurfte, um sie sich vorstellen zu können: Man lege einen Apfel auf den Tisch, schrieb er einmal, und verwandle sich in ihn.

Michaux ist spät zur Droge gekommen. Lange nach seiner Asien-Durchquerung lernte er das "orientalische" Haschisch kennen, auf dessen Wirkungen er die Architektur des Minaretts und das Motiv des fliegenden Teppichs zurückführen wollte. Lange nach seiner Ecuador-Reise entdeckte er die amerikanisch-indianischen Substanzen Psilocybin und Mescalin. Ihr Gebrauch macht ein religiöses Paradox der Moderne deutlich: Michaux, ein zum Glauben konstitutionell unfähiger Mann, dem jedes Bekenntnis schlicht peinlich ist, der jene Bekehrten verspottet, die ihre Dämonen besiegt haben, nur um die Umwelt künftig mit ihren Engeln zu belästigen, entdeckt nun im Rausch, wie zuvor auf seinen Reisen, den Götterhunger. Der vollendet Ungläubige wird zum Göttersüchtigen: ihn führt der heilige Pilz "dorthin, wo Gott ist". Als die Wirkung des Psilocybin massiv wird, sieht er bei geschlossenen Augen "einen extrem hohen Betstuhl, der zu keinem Menschen auf der Welt passen könnte, außer, man stelle sich einen mageren Kanonikus von der Größe einer ausgewachsenen Giraffe vor . . . der Betstuhl blieb unbenutzt und allein im Raum, vielleicht eine Anspielung auf mich, der diese (ausgesprochen abendländische und konformistische) religiöse Einladung ausschlug."

Erkennbar ist in diesen Notizen eine künstlerische Intelligenz am Werk. Von einem Meister der Zeichnung erhält man Aufschlüsse über die Formenwelten der verschiedenen Drogen, die an Genauigkeit bislang nicht überboten wurden. Selbst das an den Grenzen zur Auflösung Gelegene gewinnt in diesen Beschreibungen Form, wird zum Gebilde. Wie oft hat man vom Lachen im Haschischrausch gehört, und wie selten mit dieser Präzision: "Unter Haschisch folgt das Lachen einer extrem dünnen und wendigen Schlangenlinie, die zugleich eine Welle ist, gleichsam ein Kitzeln, ein Schauder und wie die Stufen einer sehr steilen Treppe."

Nirgends ist hier ein Innehalten. Der Tachist, der in seinen Zeichnungen die Gestalt nur dadurch gewinnt, daß er der Geste folgt, schreibt über die Wirkung der Droge, und man glaubt, ihn über seine künstlerische Technik zu vernehmen: "Man fühlt sich weniger hier, eher dort . . . Man mündet nicht mehr in sich ein, und die Wirklichkeit, die Gegenstände gar, verlieren ihre Masse und ihre Starrheit und leisten nicht länger ernsthaften Widerstand gegen die allgegenwärtige, verwandelnde Beweglichkeit."

Neben die Formen tritt das Licht. "Zusehends glitzert, blitzt, sticht es, macht einen baff mit seinen plötzlich durchdringend gewordenen Strahlen . . . Auf die exzessive Reizung antwortet der Sehapparat mit verdichtetem Glitzern, Rückstrahlungen, mit maßlos übersteigerten, beißenden Farben, die, brutal und vulgär, beißende Gebilde schaffen." Aber diese Farben sind kein Privileg der Droge. Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre, als Michaux seine Versuche unternahm, eroberten sie das Bild der Innenstädte, die sich vom Grau der Nachkriegsjahre verabschiedeten, und in der Pop-art wurden sie kunstfähig.

An vielen, oft kuriosen Realien der Drogenphantasien wird die Entstehungszeit dieses Buches deutlich. Politiker wie Eisenhower, Macmillan und Mikojan treten auf, einmal sogar Adenauer. In die exotischen Phantasien mischen sich Autobahnen, Konservenbüchsen, Förderbänder und illustrierte Zeitschriften, deren Abbildungen Michaux gern als Anregung benutzte. Diese Gegenwelten der Droge sind nicht von der Außenwelt abgelöst, die sie vielmehr zur Kenntlichkeit bringen. Es ist die einer normalisierten, alltäglich gewordenen Moderne, in der Bewegung und Steigerung an die Stelle traten, die einmal das Feste innehatte.

Henri Michaux: "Erkenntnis durch Abgründe". Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Rainer G. Schmidt. Literaturverlag Droschl, Graz und Wien 1998. 254 S., br., 44,- DM."Die Meskalinzeichnungen von Henri Michaux 1954-1959/1966-1969". Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 1998. 192 S., Abb., br., 48,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr