Eine Schiffsreise nach Israel gerät dem Autor zu einer Reise in die Vergangenheit. Geboren in Schanghai, wohin die Eltern als Juden aus Nazideutschland fliehen mußten, wuchs Peter Finkelgruen in Prag und im israelischen Kibbuz auf. Widerwillig kehrte er als junger Mann mit seiner Großmutter nach Deutschland zurück. Die detektivische Erinnerungsarbeit während der Seereise erschüttert das Bild seiner festgefügten Biographie und legt Brüche, Täuschungen und Selbsttäuschungen frei, die sich zu einer scheinbar fremden Geschichte verdichten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.03.1998Mein Sohn, ein Nebelstreif
Der lose Eimer im tiefen Brunnen: Peter Finkelgruens Geschichte
Peter Finkelgruen wuchs nach dem frühen Tod zunächst des Vaters, dann der Mutter unter der Obhut seiner Großmutter Anna in Prag und im israelischen Kibbuz auf, bevor er widerwillig mit ihr nach Deutschland "zurückkehrte", wo er nie gelebt hatte. Kunstvoll rekonstruiert der Autor Umstände und Vorgeschichte seines Lebens und gibt sie stückweise wieder, so wie sie sich ihm selbst, dem Neugierigen und rastlos Forschenden, nach und nach enthüllt haben. Von den Eltern hat das früh verwaiste Kind nichts erfahren können, die Großmutter hat Gründe, ihrem Enkel von der Familiengeschichte nur Fragmente anzuvertrauen und vieles zu verheimlichen.
Es ist ein Gemeinplatz, daß Menschen nicht gerne von einer qualvollen Vergangenheit sprechen, daß sie Geschehnisse, in denen sie eine peinliche Rolle gespielt haben, am liebsten verdrängen. Ein solches Schweigen hat die Geschichte Deutschlands in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt. Der "Erlkönig" des Buchtitels wird deswegen beschworen, weil auch in Goethes berühmtem Gedicht einem leidenden Kind die Wahrheit vorenthalten wird. Seine Schreckensvision "Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht" wird verharmlost: "Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif" und "In dürren Blättern säuselt der Wind".
So wächst denn der Knabe in einem Vakuum auf, von dem der in halbwegs geordneten Verhältnissen beheimatete Mensch, dem in seiner Kindheit die ganze identitätsbildende Familienmythologie in unzähligen Gesprächen, im Flüsterton, in Witzen und Anekdoten mitgegeben wird, sich keine rechte Vorstellung machen kann. Die Verhältnisse Peter Finkelgruens sind alles andere als geordnet. Der Lebensweg des mitteleuropäischen Kindes, das nach einer abenteuerlichen Flucht der Eltern 1942 in Shanghai geboren wurde, das einen jüdischen Vater und eine "arische" Mutter hat, zweimal getauft ist, einmal protestantisch, das andere Mal katholisch, das von seiner arischen Großmutter aufgezogen wurde, die aber, weil sie den Großvater des Knaben versteckt hat, von den Nazis nach Theresienstadt, Ravensbrück und Auschwitz verschickt wurde, ist so verzwickt wie das Jahrhundert und so absurd wie der nationalsozialistische Rassenwahn.
Finkelgruens erste Sprache ist Deutsch, in Prag geht er in eine tschechische Schule, wird von der Großmutter nach Israel gebracht, wo die Schwester seines Vaters lebt. Im Kibbuz lernt er zunächst Hebräisch und dann in der Missionsschule Englisch, bis er nach Deutschland kommt und auf der Universität auf deutsch studiert. Diese Sprachen kann er auch gut zur Aufdeckung der Familiengeheimnisse brauchen, der er sein Leben widmet und zu deren Triumphen die namentliche Ermittlung des nationalsozialistischen Mörders seines Großvaters gehört.
So wie er als Kind mit Grauen den losgelösten Eimer aus einem Brunnen holen mußte, so steigt er jetzt unter einem Seelenzwang in den Schacht seiner finsteren Vergangenheit. Kann man ihm die Bitterkeit verdenken, mit der er immer wieder hervorhebt, daß dieser Mörder unbehelligt seine Altersrente verzehren darf, weil die deutsche Justiz sich weigert, das Verbrechen zu ahnden?
Die eigentlich tragische Gestalt in dieser Geschichte ist aber die Großmutter. Als siebenbürgisch-sächsische Bauerntochter nach Böhmen verschlagen, muß sie den Leidensweg durch die KZ- und Vernichtungslager antreten. Die von der SS ihrem Unterarm eingravierte Häftlingsnummer schützt nach dem Krieg die Volksdeutsche vor der Deportation durch die Tschechen und ermöglicht ihr später die Aufnahme im israelischen Kibbuz.
Man kann ihr kaum verdenken, daß sie die Existenz ihres Sohnes, der als Mitglied der SS von den Tschechen erschossen wurde, nicht nur vor dem Enkel, sondern vor aller Welt verschweigt? Wie eine Bombe platzt die späte Entdeckung dieses "Onkels" in das Leben des spurenverfolgenden Erzählers. Es ist kein Wunder, daß er von Ängsten geplagt rastlos umherreist, auf der Suche nach den Stätten, wo sich Bruchstücke seiner Geschichte abgespielt haben. Ebensowenig ist es verwunderlich, daß eine Frau, deren mit einem Juden verheiratete Tochter ans andere Ende der Welt emigriert, als sterbenskranke Witwe zu ihrer Mutter zurückkehrt und der gerade vor der Vergasung Erretteten ein Kind zur Erziehung hinterläßt, eine Frau, die erfährt, daß ihr Sohn als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde, deren gesamter Besitz von den Nazis enteignet, von der tschechischen Republik zurückerstattet und ihr von den Kommunisten aufs neue entrissen wird, überall und erst recht in Israel eine Außenseiterin bleibt.
Ähnlich ergeht es ihrem Enkel, der sich als "Veteran der Ausgrenzungsmechanismen" bezeichnet und den nicht mehr überraschen kann, "daß es Menschen gibt, die ihn an Hand seines Namens als Juden definieren, während andere meinen, ihn als Nichtjuden wahrnehmen zu sollen, weil seine Mutter keine Jüdin war" und bei denen er "ein offensichtliches Unwohlsein, eine aggressive Irritation" auslöst. Einmal im Exil, immer im Exil. EGON SCHWARZ
Peter Finkelgruen: "Erlkönigs Reich. Die Geschichte einer Täuschung". Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 1997. 206 S., geb., 32,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der lose Eimer im tiefen Brunnen: Peter Finkelgruens Geschichte
Peter Finkelgruen wuchs nach dem frühen Tod zunächst des Vaters, dann der Mutter unter der Obhut seiner Großmutter Anna in Prag und im israelischen Kibbuz auf, bevor er widerwillig mit ihr nach Deutschland "zurückkehrte", wo er nie gelebt hatte. Kunstvoll rekonstruiert der Autor Umstände und Vorgeschichte seines Lebens und gibt sie stückweise wieder, so wie sie sich ihm selbst, dem Neugierigen und rastlos Forschenden, nach und nach enthüllt haben. Von den Eltern hat das früh verwaiste Kind nichts erfahren können, die Großmutter hat Gründe, ihrem Enkel von der Familiengeschichte nur Fragmente anzuvertrauen und vieles zu verheimlichen.
Es ist ein Gemeinplatz, daß Menschen nicht gerne von einer qualvollen Vergangenheit sprechen, daß sie Geschehnisse, in denen sie eine peinliche Rolle gespielt haben, am liebsten verdrängen. Ein solches Schweigen hat die Geschichte Deutschlands in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt. Der "Erlkönig" des Buchtitels wird deswegen beschworen, weil auch in Goethes berühmtem Gedicht einem leidenden Kind die Wahrheit vorenthalten wird. Seine Schreckensvision "Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht" wird verharmlost: "Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif" und "In dürren Blättern säuselt der Wind".
So wächst denn der Knabe in einem Vakuum auf, von dem der in halbwegs geordneten Verhältnissen beheimatete Mensch, dem in seiner Kindheit die ganze identitätsbildende Familienmythologie in unzähligen Gesprächen, im Flüsterton, in Witzen und Anekdoten mitgegeben wird, sich keine rechte Vorstellung machen kann. Die Verhältnisse Peter Finkelgruens sind alles andere als geordnet. Der Lebensweg des mitteleuropäischen Kindes, das nach einer abenteuerlichen Flucht der Eltern 1942 in Shanghai geboren wurde, das einen jüdischen Vater und eine "arische" Mutter hat, zweimal getauft ist, einmal protestantisch, das andere Mal katholisch, das von seiner arischen Großmutter aufgezogen wurde, die aber, weil sie den Großvater des Knaben versteckt hat, von den Nazis nach Theresienstadt, Ravensbrück und Auschwitz verschickt wurde, ist so verzwickt wie das Jahrhundert und so absurd wie der nationalsozialistische Rassenwahn.
Finkelgruens erste Sprache ist Deutsch, in Prag geht er in eine tschechische Schule, wird von der Großmutter nach Israel gebracht, wo die Schwester seines Vaters lebt. Im Kibbuz lernt er zunächst Hebräisch und dann in der Missionsschule Englisch, bis er nach Deutschland kommt und auf der Universität auf deutsch studiert. Diese Sprachen kann er auch gut zur Aufdeckung der Familiengeheimnisse brauchen, der er sein Leben widmet und zu deren Triumphen die namentliche Ermittlung des nationalsozialistischen Mörders seines Großvaters gehört.
So wie er als Kind mit Grauen den losgelösten Eimer aus einem Brunnen holen mußte, so steigt er jetzt unter einem Seelenzwang in den Schacht seiner finsteren Vergangenheit. Kann man ihm die Bitterkeit verdenken, mit der er immer wieder hervorhebt, daß dieser Mörder unbehelligt seine Altersrente verzehren darf, weil die deutsche Justiz sich weigert, das Verbrechen zu ahnden?
Die eigentlich tragische Gestalt in dieser Geschichte ist aber die Großmutter. Als siebenbürgisch-sächsische Bauerntochter nach Böhmen verschlagen, muß sie den Leidensweg durch die KZ- und Vernichtungslager antreten. Die von der SS ihrem Unterarm eingravierte Häftlingsnummer schützt nach dem Krieg die Volksdeutsche vor der Deportation durch die Tschechen und ermöglicht ihr später die Aufnahme im israelischen Kibbuz.
Man kann ihr kaum verdenken, daß sie die Existenz ihres Sohnes, der als Mitglied der SS von den Tschechen erschossen wurde, nicht nur vor dem Enkel, sondern vor aller Welt verschweigt? Wie eine Bombe platzt die späte Entdeckung dieses "Onkels" in das Leben des spurenverfolgenden Erzählers. Es ist kein Wunder, daß er von Ängsten geplagt rastlos umherreist, auf der Suche nach den Stätten, wo sich Bruchstücke seiner Geschichte abgespielt haben. Ebensowenig ist es verwunderlich, daß eine Frau, deren mit einem Juden verheiratete Tochter ans andere Ende der Welt emigriert, als sterbenskranke Witwe zu ihrer Mutter zurückkehrt und der gerade vor der Vergasung Erretteten ein Kind zur Erziehung hinterläßt, eine Frau, die erfährt, daß ihr Sohn als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde, deren gesamter Besitz von den Nazis enteignet, von der tschechischen Republik zurückerstattet und ihr von den Kommunisten aufs neue entrissen wird, überall und erst recht in Israel eine Außenseiterin bleibt.
Ähnlich ergeht es ihrem Enkel, der sich als "Veteran der Ausgrenzungsmechanismen" bezeichnet und den nicht mehr überraschen kann, "daß es Menschen gibt, die ihn an Hand seines Namens als Juden definieren, während andere meinen, ihn als Nichtjuden wahrnehmen zu sollen, weil seine Mutter keine Jüdin war" und bei denen er "ein offensichtliches Unwohlsein, eine aggressive Irritation" auslöst. Einmal im Exil, immer im Exil. EGON SCHWARZ
Peter Finkelgruen: "Erlkönigs Reich. Die Geschichte einer Täuschung". Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 1997. 206 S., geb., 32,- DM.
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