Ernesto Grassi (1902-1991) gehört aufgrund seiner Forschungen zur Antike und Renaissance und wegen seiner verlegerischen Initiativen (z. B. als Herausgeber von "rowohlts deutscher Enzyklopädie") zu den kulturpolitisch bedeutenden Philosophen der deutschen Nachkriegszeit. Trotzdem gibt es zu seiner ersten Lebenshälfte bis zur Berufung an die Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahre 1948 nur spärliche, häufig falsche Angaben. Deshalb bietet dieses Buch auf der Grundlage sorgfältiger Archivrecherchen erstmals verlässliche Informationen für diese Zeit und schließt damit eine Forschungslücke. Es revidiert gängige Darstellungen seiner philosophischen Entwicklung, rekonstruiert seine philosophischen Ansichten und stellt seine Philosophie in den zeitgeschichtlichen Kontext. Dabei kommt die von Heidegger angeregte Platon-Deutung ebenso zur Sprache wie die These vom Vorrang des Logos und die Kritik des neuzeitlichen Wissenschaftsbegriffs auf der Grundlage eines rhetorischen Bildungsideals. Der Autor erörtert auch das heikle Verhältnis von humanistischer Philosophie und faschistischer Ideologie sowie die kulturpolitische Rolle des Berliner Instituts 'Studia Humanitatis' im NS-Staat. Eine erheblich erweiterte Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur bis 1948 rundet die Darstellung ab.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wilhelms Büttemeyers Buch über den italienischen Philosophen Ernesto Grassi ist in den Augen Thomas Ricklins ein "philosophischer Entwicklungsroman", der sich ein wenig zu sehr in "akribischer" Klarstellung der biografischen Beschönigungen des späteren Professors an der Universität München verliert. Grassi hatte sich bei Mussolini für ein Institut "Studia Humanitas" eingesetzt, das er 1942 als dessen Leiter eröffnete, erfahren wir. Durchaus verdienstvoll findet es der Rezensent, dass Büttemeyer zahlreiche Punkte, in denen sich Grassi später mühte, seine faschistische Verstrickung zu beschönigen, in seiner Untersuchung richtig stellt. Was Ricklin allerdings schmerzlich vermisst, ist ein Versuch, das Verhalten eines Philosophen zu erklären, von dem man schon von Berufs wegen eine reflektierte Lebensweise erwarten darf. Weder im damaligen Umfeld Grassis noch beim Autor wurde hier näher nachgefragt, so der Rezensent unzufrieden, der auf die Ernennung Grassis 1948 an die Universität München hinweist, an der Ricklin selbst übrigens heute Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance lehrt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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