Ernst Fraenkel, geboren 1898, prägte die deutsche Politikwissenschaft der jungen Bundesrepublik. Er gab ihr eine interdisziplinäre Ausrichtung und gilt als Vater der Pluralismustheorie in Deutschland. Das Buch schildert sein bewegtes Leben, das mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts eng verknüpft ist.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.07.2009Gegen Lethargie und Apathie
Das Leben des Juristen und Politikwissenschaftlers Ernst Fraenkel böte Stoff für einen Hollywood-Film, eine neue Biographie aber setzt auf Nüchternheit
Wenn Studenten heute die Schriften des Juristen Ernst Fraenkel lesen, können sie den Eindruck haben, vieles irgendwie zu kennen. Seine Arbeiten gehören zum Allgemeingut der modernen Staatslehre und Politikwissenschaft und sind in den common sense diffundiert. Fraenkel war einer der Begründer der Pluralismustheorie: Die Offenheit und Vielgliedrigkeit von Staat und Gesellschaft musste nicht nur der von Monarchie und Diktatur geprägten Geschichte abgetrotzt, sondern auch theoretisch erfasst und durchdrungen werden. Für Ernst Fraenkel war „die Demokratie” noch nicht geronnen zu einem stumpfen Gedenkwort; sie war, wie seine Biographie auf mitreißende Weise zeigt, ein Sehnsuchts- und Schicksalswort.
Welch ein Leben! Früh verliert Ernst Fraenkel, geboren 1898 in Köln, den Bruder, dann Vater und Mutter. Als Achtzehnjähriger kämpft er, ein deutscher Jude, im Ersten Weltkrieg. Während eines Urlaubs im Herbst 1918 hört er den Soziologen Max Weber, später studiert er in Frankfurt und Heidelberg Jura, spezialisiert sich aufs Arbeitsrecht, freundet sich mit Franz Neumann an und wird Mitglied der SPD. Fraenkel arbeitet in Berlin als Anwalt, in den dreißiger Jahren vertritt er von den Nazis Verfolgte, bis er in die USA fliehen muss.
Die Politikwissenschaftlerin Simone Ladwig-Winters erzählt dieses Leben chronologisch, respektvoll und sachlich. So sachlich, dass Momente, die Stoff wären für einen pathetischen Hollywood-Film, fast beiläufig erwähnt werden: Auf der Flucht vor den Nazis stoppt Fraenkel in London, mit zehn Reichsmark in der Tasche verabschiedet er sich im September 1938 von seiner Frau Hanna und seinem Freund Otto Suhr. Hanna bleibt noch in Berlin, um das Haus aufzulösen, am 12. November will sie nachkommen. Der Flug ist gebucht, doch bei der Grenzkontrolle fehlt den Beamten ein Formular. Hanna Fraenkel verpasst den Flug – zum Glück: Die Maschine stürzt ab.
Das Ehepaar Fraenkel landet schließlich in den USA und muss ganz von vorn anfangen. Ernst Fraenkel studiert noch einmal Jura, promoviert in Chicago, wird US-Bürger und geht später als Rechtsberater nach Korea. Anfang der fünfziger Jahre kehrt er zurück nach Berlin, wird Professor für Politikwissenschaft am neuen Otto-Suhr-Institut der Freien Universität, schließlich auch Direktor des John-F.-Kennedy-Instituts für Nordamerikastudien.
Fraenkel ist einer der einflussreichsten Politikwissenschaftler der jungen Bundesrepublik, sein Buch „Deutschland und die westlichen Demokratien” ist bereits ein Klassiker, als er 1975 stirbt. Den rebellierenden Studenten war das Werk dieses gemäßigten, vom Marxismus abgefallenen Sozialdemokraten allerdings suspekt: Für sie war die Pluralismustheorie nur herrschaftsstabilisierender mainstream; sie sahen nicht, dass die pluralistische Demokratie erst die Grundlage für ihren Protest geschaffen hatte. Und sie wussten zu wenig zu würdigen, dass Fraenkel bereits in den dreißiger Jahren in „Der Doppelstaat” die nationalsozialistische Diktatur genau analysiert und attackiert hatte. Fraenkel zeigt darin, wie das System zerfällt in einen „Normenstaat”, der noch Regeln und Gesetzen folgt, und einen „Maßnahmenstaat”, in dem das Regime frei schaltet und waltet und jederzeit den Normenstaat aushebelt. Das Manuskript schmuggelte Fraenkel über die Grenzen, 1940 veröffentlichte er das Buch auf Englisch in den USA. Es wurde zu einem Standardwerk und gilt als die einzige große kritische Studie über die nationalsozialistische Herrschaft, die noch in Deutschland in direkter Auseinandersetzung mit dem Regime verfasst wurde.
Ladwig-Winters hat darauf verzichtet, Fraenkels Leben dramaturgisch besonders in Szene zu setzen. Die Biographie ist nüchtern geraten, was aber nicht unbedingt ein Makel ist. So entgeht die Autorin der Versuchung, das Innenleben der Akteure spekulativ auszuleuchten. Ehrlich weist sie auf Lücken in den Archiven und im Wissen über Fraenkels Person hin. Der Gelehrte war offenbar auch sparsam im Beschreiben eigener Befindlichkeiten. Das Buch, bereichert durch Fotografien und Kurzbiographien wichtiger Weggefährten, regt dazu an, Fraenkels Werk, das in „Gesammelten Schriften” zugänglich ist, neu zu entdecken. Man wird darin noch immer vieles finden, das gerade erst geschrieben sein könnte, zum Beispiel die Warnung vor einer „Stimmungsdemokratie” und einem inhaltlich hohlen Parteienwettbewerb. Anfang der sechziger Jahre schrieb Fraenkel, ein Strukturproblem der Demokratie sei die „Lethargie und Apathie”, die sich „innerhalb der Gruppen und Parteien” ausbreite. Wenn Bürger matt auf Wahlkämpfe reagieren, muss man demnach immer fragen, ob nicht auch die Parteien selbst schon ermattet sind. TANJEV SCHULTZ
SIMONE LADWIG-WINTERS: Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2009. 447 Seiten, 34,90 Euro.
Der Begründer der Pluralismustheorie: Ernst Fraenkel (1898 – 1975), hier im Jahr 1963. Die 68er sahen in ihm einen Apologeten des Systems. Foto: Kurt Hamann, ullstein.
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Das Leben des Juristen und Politikwissenschaftlers Ernst Fraenkel böte Stoff für einen Hollywood-Film, eine neue Biographie aber setzt auf Nüchternheit
Wenn Studenten heute die Schriften des Juristen Ernst Fraenkel lesen, können sie den Eindruck haben, vieles irgendwie zu kennen. Seine Arbeiten gehören zum Allgemeingut der modernen Staatslehre und Politikwissenschaft und sind in den common sense diffundiert. Fraenkel war einer der Begründer der Pluralismustheorie: Die Offenheit und Vielgliedrigkeit von Staat und Gesellschaft musste nicht nur der von Monarchie und Diktatur geprägten Geschichte abgetrotzt, sondern auch theoretisch erfasst und durchdrungen werden. Für Ernst Fraenkel war „die Demokratie” noch nicht geronnen zu einem stumpfen Gedenkwort; sie war, wie seine Biographie auf mitreißende Weise zeigt, ein Sehnsuchts- und Schicksalswort.
Welch ein Leben! Früh verliert Ernst Fraenkel, geboren 1898 in Köln, den Bruder, dann Vater und Mutter. Als Achtzehnjähriger kämpft er, ein deutscher Jude, im Ersten Weltkrieg. Während eines Urlaubs im Herbst 1918 hört er den Soziologen Max Weber, später studiert er in Frankfurt und Heidelberg Jura, spezialisiert sich aufs Arbeitsrecht, freundet sich mit Franz Neumann an und wird Mitglied der SPD. Fraenkel arbeitet in Berlin als Anwalt, in den dreißiger Jahren vertritt er von den Nazis Verfolgte, bis er in die USA fliehen muss.
Die Politikwissenschaftlerin Simone Ladwig-Winters erzählt dieses Leben chronologisch, respektvoll und sachlich. So sachlich, dass Momente, die Stoff wären für einen pathetischen Hollywood-Film, fast beiläufig erwähnt werden: Auf der Flucht vor den Nazis stoppt Fraenkel in London, mit zehn Reichsmark in der Tasche verabschiedet er sich im September 1938 von seiner Frau Hanna und seinem Freund Otto Suhr. Hanna bleibt noch in Berlin, um das Haus aufzulösen, am 12. November will sie nachkommen. Der Flug ist gebucht, doch bei der Grenzkontrolle fehlt den Beamten ein Formular. Hanna Fraenkel verpasst den Flug – zum Glück: Die Maschine stürzt ab.
Das Ehepaar Fraenkel landet schließlich in den USA und muss ganz von vorn anfangen. Ernst Fraenkel studiert noch einmal Jura, promoviert in Chicago, wird US-Bürger und geht später als Rechtsberater nach Korea. Anfang der fünfziger Jahre kehrt er zurück nach Berlin, wird Professor für Politikwissenschaft am neuen Otto-Suhr-Institut der Freien Universität, schließlich auch Direktor des John-F.-Kennedy-Instituts für Nordamerikastudien.
Fraenkel ist einer der einflussreichsten Politikwissenschaftler der jungen Bundesrepublik, sein Buch „Deutschland und die westlichen Demokratien” ist bereits ein Klassiker, als er 1975 stirbt. Den rebellierenden Studenten war das Werk dieses gemäßigten, vom Marxismus abgefallenen Sozialdemokraten allerdings suspekt: Für sie war die Pluralismustheorie nur herrschaftsstabilisierender mainstream; sie sahen nicht, dass die pluralistische Demokratie erst die Grundlage für ihren Protest geschaffen hatte. Und sie wussten zu wenig zu würdigen, dass Fraenkel bereits in den dreißiger Jahren in „Der Doppelstaat” die nationalsozialistische Diktatur genau analysiert und attackiert hatte. Fraenkel zeigt darin, wie das System zerfällt in einen „Normenstaat”, der noch Regeln und Gesetzen folgt, und einen „Maßnahmenstaat”, in dem das Regime frei schaltet und waltet und jederzeit den Normenstaat aushebelt. Das Manuskript schmuggelte Fraenkel über die Grenzen, 1940 veröffentlichte er das Buch auf Englisch in den USA. Es wurde zu einem Standardwerk und gilt als die einzige große kritische Studie über die nationalsozialistische Herrschaft, die noch in Deutschland in direkter Auseinandersetzung mit dem Regime verfasst wurde.
Ladwig-Winters hat darauf verzichtet, Fraenkels Leben dramaturgisch besonders in Szene zu setzen. Die Biographie ist nüchtern geraten, was aber nicht unbedingt ein Makel ist. So entgeht die Autorin der Versuchung, das Innenleben der Akteure spekulativ auszuleuchten. Ehrlich weist sie auf Lücken in den Archiven und im Wissen über Fraenkels Person hin. Der Gelehrte war offenbar auch sparsam im Beschreiben eigener Befindlichkeiten. Das Buch, bereichert durch Fotografien und Kurzbiographien wichtiger Weggefährten, regt dazu an, Fraenkels Werk, das in „Gesammelten Schriften” zugänglich ist, neu zu entdecken. Man wird darin noch immer vieles finden, das gerade erst geschrieben sein könnte, zum Beispiel die Warnung vor einer „Stimmungsdemokratie” und einem inhaltlich hohlen Parteienwettbewerb. Anfang der sechziger Jahre schrieb Fraenkel, ein Strukturproblem der Demokratie sei die „Lethargie und Apathie”, die sich „innerhalb der Gruppen und Parteien” ausbreite. Wenn Bürger matt auf Wahlkämpfe reagieren, muss man demnach immer fragen, ob nicht auch die Parteien selbst schon ermattet sind. TANJEV SCHULTZ
SIMONE LADWIG-WINTERS: Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2009. 447 Seiten, 34,90 Euro.
Der Begründer der Pluralismustheorie: Ernst Fraenkel (1898 – 1975), hier im Jahr 1963. Die 68er sahen in ihm einen Apologeten des Systems. Foto: Kurt Hamann, ullstein.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel erscheint dem Rezensenten heute so allgemeingültig wie zeitgemäß. Wie bei der Lektüre seiner Schriften entsteht dieser Eindruck für Tanjev Schultz auch beim Lesen der von Simone Ladwig-Winters verfassten Biografie. Dabei hat die Autorin, wie wir hören, gerade nicht auf den Effekt gesetzt, den das bewegte Leben Fraekels durchaus hergegeben hätte. Laut Schultz kein Nachteil für das Buch. Die chronologische, nüchterne, dabei stets respektvolle Herangehensweise der Autorin und ihr Hinweis auf die schwierige Quellenlage regen Schultz sogar dazu an, sich mit Fraenkels "Gesammelten Schriften" zu befassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Gegen Lethargie und Apathie
"Das Buch, bereichert durch Fotografien und Kurzbiographien wichtiger Weggefährten, regt dazu an, Fraenkels Werk neu zu entdecken." (Süddeutsche Zeitung, 07.07.2009)
"In der Tat: Die Lektüre dieses gut geschriebenen Buches sollte auch dazu anregen, erstmals oder wieder eine der Arbeiten Ernst Fraenkels zur Hand zu nehmen." (Archiv für Sozialgeschichte, 01.08.2009)
"Ladwig-Winters straff argumentierende, reich dokumentierte und bei aller inhaltlichen Dichte auch recht empathische Darstellung erinnert daran, dass es erst die (aufgezwungenen oder selbstgewählten) Brüche im Lebensverlauf sind, die Menschen zu Persönlichkeiten werden lassen." (Welt Online, 22.08.2009)
Die Studie ist ein gewichtiger Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. (Das Historisch-Politische Buch, 01.06.2011)
"Das Buch, bereichert durch Fotografien und Kurzbiographien wichtiger Weggefährten, regt dazu an, Fraenkels Werk neu zu entdecken." (Süddeutsche Zeitung, 07.07.2009)
"In der Tat: Die Lektüre dieses gut geschriebenen Buches sollte auch dazu anregen, erstmals oder wieder eine der Arbeiten Ernst Fraenkels zur Hand zu nehmen." (Archiv für Sozialgeschichte, 01.08.2009)
"Ladwig-Winters straff argumentierende, reich dokumentierte und bei aller inhaltlichen Dichte auch recht empathische Darstellung erinnert daran, dass es erst die (aufgezwungenen oder selbstgewählten) Brüche im Lebensverlauf sind, die Menschen zu Persönlichkeiten werden lassen." (Welt Online, 22.08.2009)
Die Studie ist ein gewichtiger Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. (Das Historisch-Politische Buch, 01.06.2011)