Der deutsche Kunstvermittler Ernst Grosse ist tatsächlich nur noch einigen Fachleuten ein Begriff. Er war zwischen 1906 und 1913 in Japan und China als Einkäufer für die neugegründete ostasiatische Abteilung der Berliner Museen unterwegs und auch vorher knüpfte er schon wertvolle Verbindungen zum
japanischen Kunstmarkt. Obwohl er wesentlich zum Grundbestand der Sammlung beitrug und auch seine…mehrDer deutsche Kunstvermittler Ernst Grosse ist tatsächlich nur noch einigen Fachleuten ein Begriff. Er war zwischen 1906 und 1913 in Japan und China als Einkäufer für die neugegründete ostasiatische Abteilung der Berliner Museen unterwegs und auch vorher knüpfte er schon wertvolle Verbindungen zum japanischen Kunstmarkt. Obwohl er wesentlich zum Grundbestand der Sammlung beitrug und auch seine eigene Kollektion dem Museum stiftete, war ihm die meiste Zeit seines Lebens die Anerkennung verwehrt. Das klingt nach einem spannenden Thema, das sich aufzuarbeiten lohnt.
Helga Szentivanyi bemüht sich in ihrem schmalen Band, Ernst Grosse die Bedeutung zurückzugeben, die er wohl hatte, doch gelingt ihr das nur in Ansätzen. Der kurze Text ist inhaltlich sehr fragmentiert und es mangelt ihm erkennbar an klarer Struktur, was zu zahlreichen Wiederholungen führt, die zumindest mir irgendwann lästig wurden. Immer wieder springt die Autorin innerhalb eines Kapitels zu themenfremden Aspekten, die später mehrfach wieder aufgenommen werden. Gleichzeitig ist die Eindringtiefe aber sehr gering. Man erfährt zwar, dass Grosse promovierte, aber nicht, bei wem und über welches Thema. Er wird als Kunsthistoriker bezeichnet, aber aus dem Werdegang wird kaum ersichtlich, woher er diese Qualifikation hatte. Er wird durchgehend als „intuitiver“ Experte bezeichnet, der sich von den „wissenschaftlichen“ Experten bewusst abgrenzt (und von ihnen auch abgelehnt wird). An keiner Stelle wird dagegen die wichtige Frage diskutiert, ob seine intuitiven Werturteile, mit denen er oft in Konflikt mit seinen Auftraggebern geriet, heute noch Bestand haben. Auch der Verbleib der Sammlung, die immerhin zwei Weltkriege überlebt haben muss, bleibt im Dunkeln. Es gibt noch viele weitere Aspekte, die zu untersuchen interessant gewesen wäre, aber die Autorin zitiert stattdessen lieber inhaltsähnliche Passagen aus dem Reisetagebuch, die mehr anekdotischen als weiterführenden Charakter haben.
Dass Szentivanyi den Umstand, dass in europäischen Haushalten Yokohamas japanisches Dienstpersonal angestellt war, in einen kolonialen Kontext stellt, zeigt, wie sehr die postkoloniale Debatte mittlerweile aus dem Ruder gelaufen ist. Zum einen war Dienstpersonal um 1900 im bürgerlichen Umfeld üblich, zum anderen war Japan niemals kolonial besetzt und das japanische Dienstpersonal erhielt im Landesvergleich überdurchschnittliche Löhne (die Beschäftigung in einem ausländischen Haushalt galt als ehrenrührig). Von Kolonialismus ist da keine Spur. Während die Autorin den tatsächlich vorhandenen Rassismus der europäischen Siedler deutlich anprangert, bleibt der japanische rassistische Nationalismus, der gerade in dieser Zeit aufblüht, unerwähnt. Auch das ist mittlerweile eine weitverbreitete Praxis „wissenschaftlicher“ Debatte, die gerne Fakten in eine gewünschte Richtung dreht, indem sie Unerwünschtes ausblendet.
Man kann nicht sagen, dass das Thema kein Potenzial gehabt hätte, aber die Autorin scheitert an der geringen Recherchetiefe und der Oberflächlichkeit, mit der sie ihre Themen bearbeitet. Die Umwälzungen der Meiji-Ära wären ein trefflicher Spiegel gewesen, in dem sich das Ost-West-Verhältnis in vielen Details hätte zeigen lassen, aber all das wird nur angerissen und nicht wirklich ausdiskutiert. Mir ist bis zum Schluss nicht klar geworden, was Ernst Grosse aus heutiger Sicht geleistet hat, außer dass er sich fast bis zur Selbstzerstörung engagierte und ein im besten Sinn Japanophiler war. Dass die Quellen wirklich nur so spärlich sind, wie es das sehr kurze Literaturverzeichnis suggeriert, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)