Wer das Jahrhundert in seinen Irrtümern, Leistungen und Fehl leistungen verstehen will, von den Stahlgewittern des Ersten Weltkrieges bis zum Ende der nationalen Feindschaften, der muss dieses Buch lesen.
In den »Stahlgewittern« des Ersten Weltkrieges wurde er berühmt. Er schrieb eines der größten Kriegsbücher aller Zeiten. Er war glühender Nationalist und Antidemokrat, aber beteiligte sich am Widerstand gegen Hitler, wofür sein ältester Sohn mit dem Tode büßen musste. Schließlich wurde er zum europäischen Klassiker: Ernst Jünger, der 1998 im Alter von 102 Jahren starb, verkörpert das deutsche Jahrhundert wie kein anderer. Heimo Schwilk, mit dem Dichter persönlich gut bekannt, erhielt exklusiven Zugang zu Jüngers Nachlass und konnte so ein einzigartiges Bild dieses faszinierend-widersprüchlichen Mannes zeichnen. Seine umfassende Biografie beschönigt und entschuldigt nichts, sie macht vielmehr deutlich, warum sich der deutsche Bundeskanzler und der französische Präsident in einer nie gekannten Geste vor Jünger und dessen Lebenswerk verneigten.
In den »Stahlgewittern« des Ersten Weltkrieges wurde er berühmt. Er schrieb eines der größten Kriegsbücher aller Zeiten. Er war glühender Nationalist und Antidemokrat, aber beteiligte sich am Widerstand gegen Hitler, wofür sein ältester Sohn mit dem Tode büßen musste. Schließlich wurde er zum europäischen Klassiker: Ernst Jünger, der 1998 im Alter von 102 Jahren starb, verkörpert das deutsche Jahrhundert wie kein anderer. Heimo Schwilk, mit dem Dichter persönlich gut bekannt, erhielt exklusiven Zugang zu Jüngers Nachlass und konnte so ein einzigartiges Bild dieses faszinierend-widersprüchlichen Mannes zeichnen. Seine umfassende Biografie beschönigt und entschuldigt nichts, sie macht vielmehr deutlich, warum sich der deutsche Bundeskanzler und der französische Präsident in einer nie gekannten Geste vor Jünger und dessen Lebenswerk verneigten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.01.2008Der unfreiwillige Sieg des bürgerlichen Individuums
Das ist der Stoff aus Vaters Apotheke! Helmuth Kiesel und Heimo Schwilk betrachten Ernst Jünger aus der biographischen Enkelperspektive
Zeitlebens wünschte Ernst Jünger kein Bürger zu sein. Wohin das abenteuerliche Herz auch flüchtete – in den afrikanischen Dschungel der Fremdenlegion, in den Grabenkampf des Krieges oder in den Rausch des Drogenexperiments –, am Anfang stand stets der Auszug aus der bürgerlichen Welt. Zwar widerrief Ernst Jünger in seinen späten Aussteiger-Schriften, was der aktive Nihilist in der Zwischenkriegszeit so kräftig herbei geschrieben hatte – die „Totale Mobilmachung”; aber die Helden und Figuren, mit denen er sich im Laufe seines langen Lebens panzerte, blieben Typen jenseits der Bürgerlichkeit.
Mit „Stolz” hält der Nationalbolschewist Jünger – „rückblickend auf ein Jahrhundert deutscher Geschichte” – auf den ersten Seiten seines Theorie-Opus über den „Arbeiter” 1932 fest, „daß wir schlechte Bürger gewesen sind”. Der politische Publizist zog einen „Schlussstrich” unter das 19. Jahrhundert. An die Stelle des „Individuums”, der Zentralfigur der liberalen Gesellschaft, treten bei Jünger die „Gestalt” und der „Typus” des „Arbeiters”. Dieser Herold der Moderne erkennt das „höchste Glück” im Selbstopfer, spricht die „Elementarsprache” der Technik und ist so der technischen Mobilmachung gewachsen.
Am Vorabend seines zehnten Todestages (am 17. Februar 2008) kehrt der große Anti-Bürger nun zurück in „Gestalt” zweier voluminöser Biographien – ausgerechnet also in jener Gattung, die wie keine andere um das „Individuum” kreist. Der Triumph der Biographien auf dem Buchmarkt kündet vom zähen Fortleben jener bürgerlichen Gesellschaft, der Jünger in seiner aggressiven politischen Publizistik unaufhörlich den Totenschein ausstellte. Wie lässt sich Jüngers Gestaltwandel vom soldatischen „Typus” des literarischen „Arbeiters” zum exemplarischen großen Individuum und „Jahrhundertleben” lesen? Drückt sich darin das Fehlschlagen von Jüngers kühnen planetarischen Diagnosen aus – der unverhoffte Sieg des „Individuums” über den „Typus” –, oder müssen wir darin auch ein Zeichen für Jüngers eigene unfreiwillige Verbürgerlichung in der Rezeptionsgeschichte erkennen?
Jüngers neue Biographen, der Heidelberger Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel, Jahrgang 1947, und der Berliner Publizist Heimo Schwilk, Jahrgang 1952, schreiben aus der Enkelperspektive. Man hat in ersten Kritiken die beiden Biographen scharf gegenübergestellt – hier der mitreißende Publizist Schwilk, der Jüngers „Jahrhundertleben” in szenisch anschauungsreichen Kapiteln entfalte, dort der reservierte Professor Kiesel, der sich stupide Jüngers Werk widme und sich in akademischen Forschungskontexten verliere. Ohne Frage zeichnet Schwilk das schärfere Charakterprofil. Er folgt Jünger nicht nur auf dem literarisch stilisierten Hauptweg seines Werkes, sondern auch auf den abgeschatteten Seitenpfaden, in die Bordelle des Krieges oder in den Drogenrausch.
Schwilk verschweigt an keiner Stelle seine starke Sympathie für Jünger. Aber die vor dem bürgerlichen Wertehimmel „verkrachte” Existenz Jünger tritt auch bei ihm deutlich hervor – das uneheliche Kind, der für sein Leben lang traumatisierte Schüler, der elfmal die Schule wechseln muss, der Studienabbrecher und umherschweifende Haschrebell der zwanziger Jahre, der sich in Vaters Apotheke mit Stoff versorgt.
Kiesel hält sich strenger an Jüngers Werk. Worauf er sich glänzend versteht, ist die Arbeit am Text. Der Philologe deckt Jüngers „Metaphernsysteme” auf und zeigt, wie Jünger in seiner „Bearbeitungsmanie” immer wieder seine Schriften retuschierte. Deutlich wird Kiesels Bemühen, Jünger fest in der literarischen Moderne zu verorten. Man kann sicher sein, dass auf jedes noch so anstößige nationalistische oder antiliberale Jünger-Zitat im gleichen Atemzug ein sinnverwandtes Zitat von Benjamin, Brecht oder einem anderen klassischen Modernen folgt – das Jünger wieder in den ästhetischen Verfassungsbogen einfängt. Hier übt sich ein um „sachliche Würdigung” bemühter Literaturwissenschaftler, der schnelle Urteile scheut und Einseitigkeiten unbedingt zu vermeiden versucht, am „stereoskopischen” Blick seines Helden.
Kiesels Biographie ist ganz aus der akademischen Jünger-Forschung der letzten Jahre erwachsen. Ein wenig meint er es immer zu gut mit seinem Helden. Recht anachronistisch verteilt er seine akademischen Prämien. Ausgerechnet in der allegorisch verschwiemelten Thematisierung der Judenverfolgung in dem „Weltroman” „Heliopolis”, den berühmten „Parsen”, die den uneinsichtigen Carl Schmitt so erregten, sieht Kiesel bei Jünger schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit den „universalistischen” Ansatz der neuen deutschen Weltbürgerkriegshistoriker vorweggenommen.
Auch wenn der Publizist Schwilk an vielen Stellen Jüngers „Rabaukenton” besser trifft, sollten wir die beiden Biographien aber nicht für den billigen antiintellektuellen Affekt nutzen, um einmal mehr Jüngers Leben gegen das Werk auszuspielen. „Sie wird ersetzen das Wort durch die Tat, die Tinte durch das Blut, die Phrase durch das Opfer, die Feder durch das Schwert” – skandierte Jünger 1923 in einem Revolutionsbekenntnis im Völkischen Beobachter. Bis heute gefällt sich der Pop-Diskurs mit abenteuerlichen Posen darin, diese alte Front auf kleiner friedlicher Flamme in immer neuen Schleifen nachzuplappern. Was Kiesel und Schwilk dagegen bei allem unterschiedlichen rhetorischen Temperament verbindet, ist der Versuch, eine Biographie ganz aus den Quellen und neueren Forschungen zu schreiben, die sich stark unterscheidet von dem ideologisch überhitzten Jünger-Gespräch der alten Bundesrepublik. In beiden Büchern ist Jünger nicht mehr länger eine Waffe im Literaturkampf. Vorbei sind die Zeiten, in der man sich mit Jüngers bösen Federn schmückte – wie Karl Heinz Bohrer 1978 in seiner Bielefelder Habilitation, um sich den „Schrecken” der Literatursoziologie im Besonderen und des bundesrepublikanischen Moralismus im Allgemeinen ästhetisch vom Leib zu halten.
Nach all den Debatten scheint die Jünger-Forschung heute in einem Interregnum angekommen zu sein. Es ist die Zeit des Ordnens und Sichtens der Bestände. Die neuen Biographien zeichnen sich weniger durch eine steile These als durch ihre ungeheure Materialfülle aus. Die ungeschminkte Rohmasse des Lebens tritt hinter der literarischen Gestalt wieder hervor. Ausgerechnet die wissenschaftlich rational geordnete Apothekerwelt seines Vaters, gegen die Ernst Jünger sein ganzes Leben innerlich rebellierte, scheint in den Annäherungen der intellektuellen Enkel wieder zu obsiegen: Der alte „magische Realist” liegt in der Hand der Positivisten.
Die neuen Detailstudien tragen zur Privatisierung und Entpolitisierung Jüngers bei. Wo man sich noch ein paar Jahrzehnte zuvor auf die verschiedenen Fassungen seines Kriegsepos „In Stahlgewittern” stürzte oder die Retuschen des „Arbeiters” aufspürte – mit denen Jünger nach dem giftigen Urteil seines alten Sekretärs „Arminius” Mohler sich den demokratischen Nachkriegssitten anzupassen versuchte –, da konzentriert man sich nun etwa auf die vielen Pseudonyme, mit denen Jünger, um den Ehefrieden zu retten, seine Pariser Geliebte Sophie Ravoux in den „Strahlungen” zum Verschwinden zu bringen versuchte.
Sogar vor der berüchtigten „Burgunderszene” – Jüngers nächtlicher Beobachtung eines Luftangriffes auf Paris vom Dach des Hotel „Raphael” mit einem „Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand” – wird nicht Halt gemacht. „Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zur tödlichen Befruchtung überflogen wird.” Handelt es sich etwa hier auch weniger um das Kriegsprotokoll eines ästhetischen Genüsslings – als um die „Symbolisierung” der gefährlich sich zuspitzenden Liebesaffäre mit seiner Pariser Freundin? In seinen Glossen und Aufzeichnungen zu Jünger, die nun in einem hübschen Suhrkamp-Bändchen gesammelt vorliegen, steckt der große Philosoph Hans Blumenberg mit dem „Ärgernis” dieser vielzitierten Tagebuchaufzeichnung vom 27. Mai 1944 die „Grenze der absoluten Metapher” ab.
Vor dem Hintergrund des alten militant moralisch aufgeladenen Jünger-Gespräches wirken die privaten Funde, die die neuere Philologie auf ihren subtilen Jagden zu Tage fördert, ein wenig putzig. Mit so einem Jünger ist jedenfalls keine „selbstbewusste Nation” zu machen. Fünfundzwanzig Jahre nach der Verleihung der Goethe-Medaille in der Frankfurter Paulskirche, die noch einmal alle Protestenergien der alten Republik mobilisierte, hat sich der Sturm gelegt. Im Rückblick scheint der leidenschaftliche Käfersammler und „Waldgänger” Ernst Jünger – der in seinem Spätwerk die Moderne als „Deponie” in schwarze apokalyptische Bilder eintauchte – viel „grüner” zu sein als seine alten Frankfurter Kritiker. Denn Ernst Jünger ist auch ein Öko der ersten Stunde. Mit einem Zitat von Joschka Fischer auf der Klappe bewirbt der Siedler-Verlag Helmuth Kiesels Biographie. In der Szenepostille „Pflasterstrand” hatte der alte Frankfurter Street-Fighter Fischer sich 1982 als früher Jünger-Leser erkennen gegeben. „Je militanter sich die Revolte gestaltete, je mehr der ‚Kämpfer‘, der ‚Fighter‘ in den Vordergrund trat, desto sinnfälliger wurden die Parallelen. Später, als längst die ‚Subjektivität‘, die ‚Politik der ersten Person‘ angesagt war, da las man wiederum Ernst Jünger, diesmal den Drogen-Jünger. Und noch später, als der Klassenkampf endgültig Don Juan oder fernöstlicher Erleuchtung gewichen war, da starrte das neulinke Dritte Auge auf den kosmischen Jünger, von Jüngers Affinität zur vorindustriellen Welt und seiner Zivilisationskritik ganz zu schweigen.”
Bei all dem neulinken Sympathisantentum für den Kulturkritiker Jünger ist das letzte Wort über seinen ästhetischen Rang noch nicht gesprochen. Sicher „überstrahlt” das Jüngersche Werk nicht die gesamte deutsche Nachkriegsliteratur, wie Botho Strauß mit Fanfare vor ein paar Jahren behauptete. Auch war es nicht allein Jüngers vornehmer Verzicht auf den „Argot” – die „four letter words” – die sein Ankommen in der Literatur nach 1945 erschwerten. Schon Jüngers Deutschlehrer erkannte in dem übertriebenen „Schmuck” seiner Rede, dem hohen gestelzten Ton, den vielen Manierismen eine „bedenkliche Gefahr für seinen Stil”. Gottfried Benn urteilte nach dem Krieg gnadenlos über die Kitschliteratur des schnell wieder erfolgreichen Kollegen: „weichlich, eingebildet und wichtigtuerisch”.
Meist vergriff Jünger sich im Ton, wenn er sich auf allzu menschliches oder gar erotisches Terrain begab. Im Pariser Kino grabscht der Besatzungsoffizier 1941 nach dem Busen seiner Gespielin – und notiert darauf in sein Journal: „Ein heißer Eisberg, ein Hügel im Frühling, in den Myriaden von Lebenskeimen, etwa von weißen Anemonen, eingebettet sind.” Auch in Jüngers hierarchisch und streng aufgebauten Thesenromanen der Nachkriegszeit schleppt schwer die alte Zeit nach. „In Heliopolis lebt gleichsam das Stabshotel Majestic fort”, schreibt Kiesel prägnant. Wie erratische Blöcke ragen Jüngers „Staatsromane” hinein in die „Gesellschaft” der Bundesrepublik.
Im vierten Band seiner „Gesellschaftsgeschichte” bezeichnet der Bielefelder Veteran Hans-Ulrich Wehler Ernst Jünger als „eine der Unheilsfiguren der neueren deutschen Geschichte”. Von diesen Verdammungsflüchen aus der untergegangenen Welt der kritischen Sozialgeschichte ist heute wenig übrig geblieben. Zehn Jahre nach seinem Tod scheint Jünger die polarisierende Kraft verloren zu haben. Man kann diesen Zustand sicher als neue postheroische Gelassenheit begrüßen. Andererseits lauert in der Gelassenheit auch immer die Langeweile – der Hauptschrecken aller abenteuerlichen Herzen. STEPHAN SCHLAK
HELMUTH KIESEL: Ernst Jünger. Die Biographie. Siedler Verlag, München 2007. 720 Seiten, 24,95 Euro.
HEIMO SCHWILK: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Piper Verlag, München 2007. 624 Seiten, 24,90 Euro.
HANS BLUMENBERG: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger. Hrsg. von Alexander Schmitz und Marcel Lepper, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 186 Seiten, 19,80 Euro.
Der Sturm hat sich gelegt – Jünger ist nicht mehr länger eine Waffe im Literaturkampf
In der Rohmasse des Lebens wird Jünger, ein Öko der ersten Stunde, privatisiert und entpolitisiert
Der Schriftsteller Ernst Jünger (1895-1998) war Haschrebell, Busengrabscher und Kitschliterat – unter anderem. Mit Nato-General Hans Speidel im Wilfinger Garten (oben links), daneben 1985 mit Geburtstagsgratulant Helmut Kohl. In der unteren Reihe: 1960 in geneigter, 1913 als Fremdenlegionär in strammer Haltung. Fotos: dpa (3), B. Megele
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Das ist der Stoff aus Vaters Apotheke! Helmuth Kiesel und Heimo Schwilk betrachten Ernst Jünger aus der biographischen Enkelperspektive
Zeitlebens wünschte Ernst Jünger kein Bürger zu sein. Wohin das abenteuerliche Herz auch flüchtete – in den afrikanischen Dschungel der Fremdenlegion, in den Grabenkampf des Krieges oder in den Rausch des Drogenexperiments –, am Anfang stand stets der Auszug aus der bürgerlichen Welt. Zwar widerrief Ernst Jünger in seinen späten Aussteiger-Schriften, was der aktive Nihilist in der Zwischenkriegszeit so kräftig herbei geschrieben hatte – die „Totale Mobilmachung”; aber die Helden und Figuren, mit denen er sich im Laufe seines langen Lebens panzerte, blieben Typen jenseits der Bürgerlichkeit.
Mit „Stolz” hält der Nationalbolschewist Jünger – „rückblickend auf ein Jahrhundert deutscher Geschichte” – auf den ersten Seiten seines Theorie-Opus über den „Arbeiter” 1932 fest, „daß wir schlechte Bürger gewesen sind”. Der politische Publizist zog einen „Schlussstrich” unter das 19. Jahrhundert. An die Stelle des „Individuums”, der Zentralfigur der liberalen Gesellschaft, treten bei Jünger die „Gestalt” und der „Typus” des „Arbeiters”. Dieser Herold der Moderne erkennt das „höchste Glück” im Selbstopfer, spricht die „Elementarsprache” der Technik und ist so der technischen Mobilmachung gewachsen.
Am Vorabend seines zehnten Todestages (am 17. Februar 2008) kehrt der große Anti-Bürger nun zurück in „Gestalt” zweier voluminöser Biographien – ausgerechnet also in jener Gattung, die wie keine andere um das „Individuum” kreist. Der Triumph der Biographien auf dem Buchmarkt kündet vom zähen Fortleben jener bürgerlichen Gesellschaft, der Jünger in seiner aggressiven politischen Publizistik unaufhörlich den Totenschein ausstellte. Wie lässt sich Jüngers Gestaltwandel vom soldatischen „Typus” des literarischen „Arbeiters” zum exemplarischen großen Individuum und „Jahrhundertleben” lesen? Drückt sich darin das Fehlschlagen von Jüngers kühnen planetarischen Diagnosen aus – der unverhoffte Sieg des „Individuums” über den „Typus” –, oder müssen wir darin auch ein Zeichen für Jüngers eigene unfreiwillige Verbürgerlichung in der Rezeptionsgeschichte erkennen?
Jüngers neue Biographen, der Heidelberger Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel, Jahrgang 1947, und der Berliner Publizist Heimo Schwilk, Jahrgang 1952, schreiben aus der Enkelperspektive. Man hat in ersten Kritiken die beiden Biographen scharf gegenübergestellt – hier der mitreißende Publizist Schwilk, der Jüngers „Jahrhundertleben” in szenisch anschauungsreichen Kapiteln entfalte, dort der reservierte Professor Kiesel, der sich stupide Jüngers Werk widme und sich in akademischen Forschungskontexten verliere. Ohne Frage zeichnet Schwilk das schärfere Charakterprofil. Er folgt Jünger nicht nur auf dem literarisch stilisierten Hauptweg seines Werkes, sondern auch auf den abgeschatteten Seitenpfaden, in die Bordelle des Krieges oder in den Drogenrausch.
Schwilk verschweigt an keiner Stelle seine starke Sympathie für Jünger. Aber die vor dem bürgerlichen Wertehimmel „verkrachte” Existenz Jünger tritt auch bei ihm deutlich hervor – das uneheliche Kind, der für sein Leben lang traumatisierte Schüler, der elfmal die Schule wechseln muss, der Studienabbrecher und umherschweifende Haschrebell der zwanziger Jahre, der sich in Vaters Apotheke mit Stoff versorgt.
Kiesel hält sich strenger an Jüngers Werk. Worauf er sich glänzend versteht, ist die Arbeit am Text. Der Philologe deckt Jüngers „Metaphernsysteme” auf und zeigt, wie Jünger in seiner „Bearbeitungsmanie” immer wieder seine Schriften retuschierte. Deutlich wird Kiesels Bemühen, Jünger fest in der literarischen Moderne zu verorten. Man kann sicher sein, dass auf jedes noch so anstößige nationalistische oder antiliberale Jünger-Zitat im gleichen Atemzug ein sinnverwandtes Zitat von Benjamin, Brecht oder einem anderen klassischen Modernen folgt – das Jünger wieder in den ästhetischen Verfassungsbogen einfängt. Hier übt sich ein um „sachliche Würdigung” bemühter Literaturwissenschaftler, der schnelle Urteile scheut und Einseitigkeiten unbedingt zu vermeiden versucht, am „stereoskopischen” Blick seines Helden.
Kiesels Biographie ist ganz aus der akademischen Jünger-Forschung der letzten Jahre erwachsen. Ein wenig meint er es immer zu gut mit seinem Helden. Recht anachronistisch verteilt er seine akademischen Prämien. Ausgerechnet in der allegorisch verschwiemelten Thematisierung der Judenverfolgung in dem „Weltroman” „Heliopolis”, den berühmten „Parsen”, die den uneinsichtigen Carl Schmitt so erregten, sieht Kiesel bei Jünger schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit den „universalistischen” Ansatz der neuen deutschen Weltbürgerkriegshistoriker vorweggenommen.
Auch wenn der Publizist Schwilk an vielen Stellen Jüngers „Rabaukenton” besser trifft, sollten wir die beiden Biographien aber nicht für den billigen antiintellektuellen Affekt nutzen, um einmal mehr Jüngers Leben gegen das Werk auszuspielen. „Sie wird ersetzen das Wort durch die Tat, die Tinte durch das Blut, die Phrase durch das Opfer, die Feder durch das Schwert” – skandierte Jünger 1923 in einem Revolutionsbekenntnis im Völkischen Beobachter. Bis heute gefällt sich der Pop-Diskurs mit abenteuerlichen Posen darin, diese alte Front auf kleiner friedlicher Flamme in immer neuen Schleifen nachzuplappern. Was Kiesel und Schwilk dagegen bei allem unterschiedlichen rhetorischen Temperament verbindet, ist der Versuch, eine Biographie ganz aus den Quellen und neueren Forschungen zu schreiben, die sich stark unterscheidet von dem ideologisch überhitzten Jünger-Gespräch der alten Bundesrepublik. In beiden Büchern ist Jünger nicht mehr länger eine Waffe im Literaturkampf. Vorbei sind die Zeiten, in der man sich mit Jüngers bösen Federn schmückte – wie Karl Heinz Bohrer 1978 in seiner Bielefelder Habilitation, um sich den „Schrecken” der Literatursoziologie im Besonderen und des bundesrepublikanischen Moralismus im Allgemeinen ästhetisch vom Leib zu halten.
Nach all den Debatten scheint die Jünger-Forschung heute in einem Interregnum angekommen zu sein. Es ist die Zeit des Ordnens und Sichtens der Bestände. Die neuen Biographien zeichnen sich weniger durch eine steile These als durch ihre ungeheure Materialfülle aus. Die ungeschminkte Rohmasse des Lebens tritt hinter der literarischen Gestalt wieder hervor. Ausgerechnet die wissenschaftlich rational geordnete Apothekerwelt seines Vaters, gegen die Ernst Jünger sein ganzes Leben innerlich rebellierte, scheint in den Annäherungen der intellektuellen Enkel wieder zu obsiegen: Der alte „magische Realist” liegt in der Hand der Positivisten.
Die neuen Detailstudien tragen zur Privatisierung und Entpolitisierung Jüngers bei. Wo man sich noch ein paar Jahrzehnte zuvor auf die verschiedenen Fassungen seines Kriegsepos „In Stahlgewittern” stürzte oder die Retuschen des „Arbeiters” aufspürte – mit denen Jünger nach dem giftigen Urteil seines alten Sekretärs „Arminius” Mohler sich den demokratischen Nachkriegssitten anzupassen versuchte –, da konzentriert man sich nun etwa auf die vielen Pseudonyme, mit denen Jünger, um den Ehefrieden zu retten, seine Pariser Geliebte Sophie Ravoux in den „Strahlungen” zum Verschwinden zu bringen versuchte.
Sogar vor der berüchtigten „Burgunderszene” – Jüngers nächtlicher Beobachtung eines Luftangriffes auf Paris vom Dach des Hotel „Raphael” mit einem „Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand” – wird nicht Halt gemacht. „Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zur tödlichen Befruchtung überflogen wird.” Handelt es sich etwa hier auch weniger um das Kriegsprotokoll eines ästhetischen Genüsslings – als um die „Symbolisierung” der gefährlich sich zuspitzenden Liebesaffäre mit seiner Pariser Freundin? In seinen Glossen und Aufzeichnungen zu Jünger, die nun in einem hübschen Suhrkamp-Bändchen gesammelt vorliegen, steckt der große Philosoph Hans Blumenberg mit dem „Ärgernis” dieser vielzitierten Tagebuchaufzeichnung vom 27. Mai 1944 die „Grenze der absoluten Metapher” ab.
Vor dem Hintergrund des alten militant moralisch aufgeladenen Jünger-Gespräches wirken die privaten Funde, die die neuere Philologie auf ihren subtilen Jagden zu Tage fördert, ein wenig putzig. Mit so einem Jünger ist jedenfalls keine „selbstbewusste Nation” zu machen. Fünfundzwanzig Jahre nach der Verleihung der Goethe-Medaille in der Frankfurter Paulskirche, die noch einmal alle Protestenergien der alten Republik mobilisierte, hat sich der Sturm gelegt. Im Rückblick scheint der leidenschaftliche Käfersammler und „Waldgänger” Ernst Jünger – der in seinem Spätwerk die Moderne als „Deponie” in schwarze apokalyptische Bilder eintauchte – viel „grüner” zu sein als seine alten Frankfurter Kritiker. Denn Ernst Jünger ist auch ein Öko der ersten Stunde. Mit einem Zitat von Joschka Fischer auf der Klappe bewirbt der Siedler-Verlag Helmuth Kiesels Biographie. In der Szenepostille „Pflasterstrand” hatte der alte Frankfurter Street-Fighter Fischer sich 1982 als früher Jünger-Leser erkennen gegeben. „Je militanter sich die Revolte gestaltete, je mehr der ‚Kämpfer‘, der ‚Fighter‘ in den Vordergrund trat, desto sinnfälliger wurden die Parallelen. Später, als längst die ‚Subjektivität‘, die ‚Politik der ersten Person‘ angesagt war, da las man wiederum Ernst Jünger, diesmal den Drogen-Jünger. Und noch später, als der Klassenkampf endgültig Don Juan oder fernöstlicher Erleuchtung gewichen war, da starrte das neulinke Dritte Auge auf den kosmischen Jünger, von Jüngers Affinität zur vorindustriellen Welt und seiner Zivilisationskritik ganz zu schweigen.”
Bei all dem neulinken Sympathisantentum für den Kulturkritiker Jünger ist das letzte Wort über seinen ästhetischen Rang noch nicht gesprochen. Sicher „überstrahlt” das Jüngersche Werk nicht die gesamte deutsche Nachkriegsliteratur, wie Botho Strauß mit Fanfare vor ein paar Jahren behauptete. Auch war es nicht allein Jüngers vornehmer Verzicht auf den „Argot” – die „four letter words” – die sein Ankommen in der Literatur nach 1945 erschwerten. Schon Jüngers Deutschlehrer erkannte in dem übertriebenen „Schmuck” seiner Rede, dem hohen gestelzten Ton, den vielen Manierismen eine „bedenkliche Gefahr für seinen Stil”. Gottfried Benn urteilte nach dem Krieg gnadenlos über die Kitschliteratur des schnell wieder erfolgreichen Kollegen: „weichlich, eingebildet und wichtigtuerisch”.
Meist vergriff Jünger sich im Ton, wenn er sich auf allzu menschliches oder gar erotisches Terrain begab. Im Pariser Kino grabscht der Besatzungsoffizier 1941 nach dem Busen seiner Gespielin – und notiert darauf in sein Journal: „Ein heißer Eisberg, ein Hügel im Frühling, in den Myriaden von Lebenskeimen, etwa von weißen Anemonen, eingebettet sind.” Auch in Jüngers hierarchisch und streng aufgebauten Thesenromanen der Nachkriegszeit schleppt schwer die alte Zeit nach. „In Heliopolis lebt gleichsam das Stabshotel Majestic fort”, schreibt Kiesel prägnant. Wie erratische Blöcke ragen Jüngers „Staatsromane” hinein in die „Gesellschaft” der Bundesrepublik.
Im vierten Band seiner „Gesellschaftsgeschichte” bezeichnet der Bielefelder Veteran Hans-Ulrich Wehler Ernst Jünger als „eine der Unheilsfiguren der neueren deutschen Geschichte”. Von diesen Verdammungsflüchen aus der untergegangenen Welt der kritischen Sozialgeschichte ist heute wenig übrig geblieben. Zehn Jahre nach seinem Tod scheint Jünger die polarisierende Kraft verloren zu haben. Man kann diesen Zustand sicher als neue postheroische Gelassenheit begrüßen. Andererseits lauert in der Gelassenheit auch immer die Langeweile – der Hauptschrecken aller abenteuerlichen Herzen. STEPHAN SCHLAK
HELMUTH KIESEL: Ernst Jünger. Die Biographie. Siedler Verlag, München 2007. 720 Seiten, 24,95 Euro.
HEIMO SCHWILK: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Piper Verlag, München 2007. 624 Seiten, 24,90 Euro.
HANS BLUMENBERG: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger. Hrsg. von Alexander Schmitz und Marcel Lepper, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 186 Seiten, 19,80 Euro.
Der Sturm hat sich gelegt – Jünger ist nicht mehr länger eine Waffe im Literaturkampf
In der Rohmasse des Lebens wird Jünger, ein Öko der ersten Stunde, privatisiert und entpolitisiert
Der Schriftsteller Ernst Jünger (1895-1998) war Haschrebell, Busengrabscher und Kitschliterat – unter anderem. Mit Nato-General Hans Speidel im Wilfinger Garten (oben links), daneben 1985 mit Geburtstagsgratulant Helmut Kohl. In der unteren Reihe: 1960 in geneigter, 1913 als Fremdenlegionär in strammer Haltung. Fotos: dpa (3), B. Megele
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Angesichts der überbordenden Forschungsliteratur müssen sich laut Rezensent Ulrich Baron neue Jünger-Biografen immer die Frage gefallen lassen, ob sie etwas bisher Unbekanntes zu dem Schriftsteller aufzubieten haben. Spektakuläre Offenbarungen teilt Heimo Schwilk, der 1988 bereits eine Bildbiografie des Schriftstellers vorgelegt hat, zwar in seiner Lebensbeschreibung von Ernst Jünger nicht mit, räumt der Rezensent ein. Dafür aber spreche aus der Biografie eine gewisse "Geistesverwandtschaft" zwischen dem Autor und Jünger, so dass es ihm gelinge, das Leben des Schriftstellers einfühlsam, aber mit kritischer Distanz zu schildern, lobt Baron. Insbesondere die für Jünger traumatische Schulzeit gewinnt bei Schwilk Plastizität und dem Leser wird deutlich, wie stark der Schriftsteller von seiner Erfahrung als Schulversager geprägt war, so der Rezensent anerkennend. Außerdem vermag es der Autor, Jüngers irritierende Kriegsverherrlichung in ihren emotionalen Kontext einzuordnen und so lobt der Rezensent abschließend, dass es mit dieser Biografie gelingt, Jünger nach der Lektüre tatsächlich "besser zu verstehen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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