Jürgen Oelkers stellt den Gründungsmythos der Reformpädagogik vom Kopf auf die Füße: Das wahre Gesicht der ursprünglichen Reformpädagogik ist gekennzeichnet von getarnten sexuellen Übergriffen, der Demütigung zahlreicher Schüler, von Führerkult und Intrigen. Die politischen Optionen waren völkisch, chauvinistisch und oft begleitet von rassistischen und antisemitischen Tendenzen.Die Geschichte der Reformpädagogik ist nie von ihrer dunklen Seite her erzählt worden. Stattdessen überwiegen bis heute die Verherrlichung ihrer Gründerväter und die Beschwörung einer »neuen« und »besseren« Erziehung. Anhand von bislang unerschlossenen Quellen zeichnet Jürgen Oelkers nach, wie sich das Leben an den wichtigsten reformpädagogischen Gründungsprojekten, u.a. der Odenwaldschule, wirklich abgespielt hat und erklärt damit, warum die im Laufe des Jahres 2010 bekannt gewordenen Fälle sexueller Übergriffe über Jahrzehnte hinweg bis heute verheimlicht und verschwiegen werden konnten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2011Das Schweigen der Sirenen
Götterdämmerung im Hause Platon: Die Rhetorik vom „pädagogischen Eros“ dient der Rechtfertigung sexueller Übergriffe und dem Verschweigen. Jürgen Oelkers
wirft ein erhellendes Licht auf „die dunklen Seiten der Reformpädagogik“. Sein Buch wird auch außerhalb der Schulen Folgen haben Von Volker Breidecker
Die Geschichte des charismatischen Schulgründers, Priesters des „platonischen Eros“ und gerichtsnotorischen Päderasten Gustav Wyneken (1875-1964) beginnt in einem preußisch-protestantischen Landpfarrhaus. Die Anfänge dieser norddeutschen Pastorenfamilie, in der das Haupt der deutschen Jugendbewegung aufwuchs, reichen bis ins Reformationszeitalter zurück. Und was Wyneken selbst aus seiner Kindheit berichtete, über körperfeindliche Prüderie und die Sittenstrenge einer Erziehung „durch Furcht und zur Furcht“, könnte als traurige deutsche Kindergeschichte geradewegs aus Michael Hanekes preisgekröntem Film „Das weiße Band“ stammen. Zum Fürchten waren die Rituale der Bestrafung und Züchtigung, denen die acht Geschwister regelmäßig ausgesetzt waren; schlimmer aber noch war „die Verdüsterung unseres Daseinshorizontes durch die uns aufgezwungene Rolle des Sünders“ – und dies vor allem im „Geschlechtlichen“.
Wyneken, der erste Bekanntschaft mit dem Eros der Griechen bei der Betrachtung von Reproduktionen antiker Plastiken gemacht haben will, sollte den elitären Zuchtprinzipien seiner protestantischen Erziehung auch künftig noch dahingehend treu bleiben, dass er die Zuständigkeit irdischer Gerichte für die an seinen Schutzempfohlenen begangenen sexuellen Vergehen bestritt zugunsten alleiniger Verhandlungen vor dem Gerichtshof seines Gewissens. Beiläufig sei bemerkt, dass just dieses Muster von Angehörigen derselben protestantischen Eliten in wechselnden Verstrickungen zu einer Art Generalvollmacht ausgedehnt wurde: „Immer wieder sollten wir doch von den Kindern lernen (auch in Nürnberg!), dass wir nur nach Maßgabe unseres eigenen Gewissens schuldig werden können.“
Hartmut von Hentig, der Doyen der Reformpädagogik, schrieb diesen Satz in einem Brief des Jahres 1948 an seinen Freund Hellmut Becker – den künftigen Patron des nicht mit ihm verwandten Odenwaldschulleiters Gerold Becker –, der damals die Verteidigung Ernst von Weizsäckers in den Nürnberger Prozessen leitete und sich auch späterhin für die Freilassung ranghoher Kriegsverbrecher einsetzte, sofern diese nur aus guten Familien oder, besser noch, aus schwäbischen Pfarrhäusern stammten. Und im Fall Wyneken sorgte ein dichtes Band verwandter Geister und ein Netzwerk prominenter Intellektueller für eine Kampagne zu seiner Unterstützung gegen alle Vorwürfe der Unzucht mit Abhängigen. Ein genaues Hinsehen auf Wynekens „pädagogisches“ Handwerk wurde denunziert als Beleidigung vermeintlich hehrer Absichten, die jener nach eigenen Worten mit der „echten und edlen Paiderastia“ verband.
Doch davon vorerst genug, denn auch wenn sich die Bilder und Szenarien gleichen – auch Gerold Becker war Theologe wie Wyneken und entstammte der von diesem inspirierten bündischen Jugend –, so kommen die Namen Becker und Hentig in dem Buch des Zürcher Erziehungswissenschaftlers Jürgen Oelkers nicht vor. Gleichwohl sind die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule („OSO“), dem Aushängeschild der Reformpädagogik in Deutschland, und die erschreckenden Ausmaße des herrschenden Systems pädosexueller Gewalt, der traurige Anlass für dieses Buch. Und so könnten über diesem Buch, das historisch verfährt und dessen Untersuchungen bis 1933 reichen, die Worte des Erzählers aus „Das weiße Band“ stehen, wonach die Schilderung jener Ereignisse „auf manche Vorgänge in diesem Land ein erhellendes Licht werfen“ – auf Vorgänge zu anderen Zeiten, auch solche, die nicht allein die Pädagogik beträfen.
Dies ist im Auge zu behalten, wenn im Untertitel von „dunklen Seiten der Reformpädagogik“ die Rede ist. Anders als Oelkers’ Widersacher ihm vorwerfen, liegt ihm an keiner Generalabrechnung mit der Reformpädagogik. Vielmehr lenkt er den kritischen Blick auf ihre Schattenseiten und analysiert pragmatisch das enorme Gefälle zwischen propagandatauglicher Rhetorik sowie verkaufsfördernden Idealen und Utopien – auf privatwirtschaftlicher Basis organisierte freie Schulen sind auf zahlungskräftige Klienten angewiesen – und der schnöden Alltagsrealität, in welcher Lehrer und Schüler unter ganz anderen Voraussetzungen als unter „Laborbedingungen“ agieren. Über die in minutiösen Fallstudien exemplarisch geschilderten „Schulgeschichten“ aus vier auch genealogisch miteinander verwandten Einrichtungen der Landerziehungsheimbewegung hinaus, die das an der OSO zu Tage getretene fatale System historisch vorbereiteten und ermöglichten, versteht Oelkers sein Buch als „Beitrag zur Erinnerungspolitik“. Als solchen sollte man ihn auch ernst nehmen und über die innerpädagogische Debatte hinaus weiterdenken. Schon deshalb ist der Titel „Eros und Herrschaft“ nicht zu hoch gegriffen, auch wenn ihm etwas „Epochales“ anhaftet, etwas Beunruhigendes.
Ohne Übertreibung kann man von diesem Buch sagen: Es wird Folgen haben, auch außerhalb der Pädagogik, denn berührt sind davon eine ganze Reihe heiliger Kühe und Altäre des deutschen Geistes in seiner traditionell männerbündischen Verfassung, die nun nicht mehr annähernd so ideenrein, unschuldig und sublim dasteht, wie ihre Protagonisten in Vergangenheit und Gegenwart es behauptet haben. Vor allem aber wird man nach diesem Buch in Deutschland keine naive Ideengeschichte oder „intellectual history“ mehr betreiben können, ohne die psychohistorischen Untergründe zu berücksichtigen. Der von den Skandalen um die OSO und eine Reihe katholischer Internate ausgelöste Erdrutsch dürfte gerade erst begonnen haben.
Die vier Institutionen, die Oelkers in den Blick nimmt – der britische „Erziehungsstaat“ Abbotsholme, die davon inspirierten deutschen Landerziehungsheime, die Freie Schulgemeinde Wickersdorf und die Odenwaldschule –, sind verwandt auch durch ihre charismatischen Gründer- und selbsternannten Lichtfiguren Cecil Reddies, Hermann Lietz, Gustav Wyneken und Paul Geheeb – alles Theologen –, die zunächst eng miteinander kooperierten, bis es zu stets neuen Sezessionen kam. So war auch die OSO unter Geheeb entstanden, in deren „kulturpolitischem Umfeld“ Oelkers zufolge die nur in Deutschland verbreitete Theorie des „pädagogischen Eros“ entstanden ist.
Idealiter sollte der hehre „Eros“ streng vom gewöhnlichen „Sexus“ getrennt sein – und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als Sigmund Freud die Unmöglichkeit einer solchen Trennung und die Bindung auch aller Sublimation an die Triebstruktur lehrte. Selbst die im alten Athen streng geregelte Einrichtung der Päderastie – nicht ganz korrekt, weil zur Camouflage pädosexueller Neigungen gerne mit „Knabenliebe“ übersetzt, um die Frage nach der Geschlechtsreife des Objekts im Vagen zu belassen – hatte ein formalisiertes öffentliches und daneben ein zweites undeutliches Gesicht, das die häusliche Abgeschiedenheit suchte, so wie der als platonischer Erotiker oder als pädagogische Gottheit verkleidete moderne Päderast sich mit seinen Eleven und Epheben ins Herrenzimmer zurückzieht und die Tür hinter sich schließt.
Oelkers Befund fällt ernüchternd aus: Der „pädagogische Eros“ war und ist nichts anderes als die Metapher oder „das Theorem der Rechtfertigung“ sexueller Übergriffe, und gleichzeitig besorgt es die Legitimation des Wegschauens und Verschweigens, des Herunterspielens und Vertuschens unter einer zum elitären intellektuellen Korpsgeist verbrämten Kumpanei – also jenes Systems, das als „System Becker“ die Odenwaldschule regierte und es noch bis vor kurzen mit dem Mantel des Schweigens umhüllte, den manch einer auch jetzt noch stolz trägt und um Applaus wirbt.
Mit großartigem Quellenmaterial, stupenden biographischen Recherchen und einem phänomenalen empirischen Detailreichtum hat Jürgen Oelkers einen Sumpf erschlossen, der noch längst nicht trockengelegt ist. Für platonische und pädagogische Götter, die weiter davon träumen mit Ganymeds in luftige Höhen zu entschwinden, ist die Dämmerung angebrochen. In vielen Köpfen sitzen ihre Vorstellungen aber noch fest. Sie auszumisten, dafür hat Oelkers einen großartigen Anfang gemacht. Viel theoretische Feinarbeit wäre noch zu leisten. Auch die Schwulen- und die linke Alternativbewegung hat hier ihre Hausaufgaben noch lange nicht gemacht. Die längst überfälligen Diskursgewitter können und sollten jetzt endlich folgen.
Jürgen Oelkers
Eros und Herrschaft
Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Beltz Verlag, Weinheim 2011.
340 Seiten, 22,95 Euro.
Das Gefälle zwischen
verkaufsfördernden Idealen und
Alltagsrealität ist enorm
Ideengeschichte wird die
psychohistorischen Untergründe
künftig berücksichtigen müssen
Die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule waren der Anlass für das Buch von Jürgen Oelkers. Es soll
keine Generalabrechnung mit der Reformpädagogik sein, sondern ein Beitrag zur Erinnerungspolitik.
Foto: Martin Oeser/ddp
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Götterdämmerung im Hause Platon: Die Rhetorik vom „pädagogischen Eros“ dient der Rechtfertigung sexueller Übergriffe und dem Verschweigen. Jürgen Oelkers
wirft ein erhellendes Licht auf „die dunklen Seiten der Reformpädagogik“. Sein Buch wird auch außerhalb der Schulen Folgen haben Von Volker Breidecker
Die Geschichte des charismatischen Schulgründers, Priesters des „platonischen Eros“ und gerichtsnotorischen Päderasten Gustav Wyneken (1875-1964) beginnt in einem preußisch-protestantischen Landpfarrhaus. Die Anfänge dieser norddeutschen Pastorenfamilie, in der das Haupt der deutschen Jugendbewegung aufwuchs, reichen bis ins Reformationszeitalter zurück. Und was Wyneken selbst aus seiner Kindheit berichtete, über körperfeindliche Prüderie und die Sittenstrenge einer Erziehung „durch Furcht und zur Furcht“, könnte als traurige deutsche Kindergeschichte geradewegs aus Michael Hanekes preisgekröntem Film „Das weiße Band“ stammen. Zum Fürchten waren die Rituale der Bestrafung und Züchtigung, denen die acht Geschwister regelmäßig ausgesetzt waren; schlimmer aber noch war „die Verdüsterung unseres Daseinshorizontes durch die uns aufgezwungene Rolle des Sünders“ – und dies vor allem im „Geschlechtlichen“.
Wyneken, der erste Bekanntschaft mit dem Eros der Griechen bei der Betrachtung von Reproduktionen antiker Plastiken gemacht haben will, sollte den elitären Zuchtprinzipien seiner protestantischen Erziehung auch künftig noch dahingehend treu bleiben, dass er die Zuständigkeit irdischer Gerichte für die an seinen Schutzempfohlenen begangenen sexuellen Vergehen bestritt zugunsten alleiniger Verhandlungen vor dem Gerichtshof seines Gewissens. Beiläufig sei bemerkt, dass just dieses Muster von Angehörigen derselben protestantischen Eliten in wechselnden Verstrickungen zu einer Art Generalvollmacht ausgedehnt wurde: „Immer wieder sollten wir doch von den Kindern lernen (auch in Nürnberg!), dass wir nur nach Maßgabe unseres eigenen Gewissens schuldig werden können.“
Hartmut von Hentig, der Doyen der Reformpädagogik, schrieb diesen Satz in einem Brief des Jahres 1948 an seinen Freund Hellmut Becker – den künftigen Patron des nicht mit ihm verwandten Odenwaldschulleiters Gerold Becker –, der damals die Verteidigung Ernst von Weizsäckers in den Nürnberger Prozessen leitete und sich auch späterhin für die Freilassung ranghoher Kriegsverbrecher einsetzte, sofern diese nur aus guten Familien oder, besser noch, aus schwäbischen Pfarrhäusern stammten. Und im Fall Wyneken sorgte ein dichtes Band verwandter Geister und ein Netzwerk prominenter Intellektueller für eine Kampagne zu seiner Unterstützung gegen alle Vorwürfe der Unzucht mit Abhängigen. Ein genaues Hinsehen auf Wynekens „pädagogisches“ Handwerk wurde denunziert als Beleidigung vermeintlich hehrer Absichten, die jener nach eigenen Worten mit der „echten und edlen Paiderastia“ verband.
Doch davon vorerst genug, denn auch wenn sich die Bilder und Szenarien gleichen – auch Gerold Becker war Theologe wie Wyneken und entstammte der von diesem inspirierten bündischen Jugend –, so kommen die Namen Becker und Hentig in dem Buch des Zürcher Erziehungswissenschaftlers Jürgen Oelkers nicht vor. Gleichwohl sind die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule („OSO“), dem Aushängeschild der Reformpädagogik in Deutschland, und die erschreckenden Ausmaße des herrschenden Systems pädosexueller Gewalt, der traurige Anlass für dieses Buch. Und so könnten über diesem Buch, das historisch verfährt und dessen Untersuchungen bis 1933 reichen, die Worte des Erzählers aus „Das weiße Band“ stehen, wonach die Schilderung jener Ereignisse „auf manche Vorgänge in diesem Land ein erhellendes Licht werfen“ – auf Vorgänge zu anderen Zeiten, auch solche, die nicht allein die Pädagogik beträfen.
Dies ist im Auge zu behalten, wenn im Untertitel von „dunklen Seiten der Reformpädagogik“ die Rede ist. Anders als Oelkers’ Widersacher ihm vorwerfen, liegt ihm an keiner Generalabrechnung mit der Reformpädagogik. Vielmehr lenkt er den kritischen Blick auf ihre Schattenseiten und analysiert pragmatisch das enorme Gefälle zwischen propagandatauglicher Rhetorik sowie verkaufsfördernden Idealen und Utopien – auf privatwirtschaftlicher Basis organisierte freie Schulen sind auf zahlungskräftige Klienten angewiesen – und der schnöden Alltagsrealität, in welcher Lehrer und Schüler unter ganz anderen Voraussetzungen als unter „Laborbedingungen“ agieren. Über die in minutiösen Fallstudien exemplarisch geschilderten „Schulgeschichten“ aus vier auch genealogisch miteinander verwandten Einrichtungen der Landerziehungsheimbewegung hinaus, die das an der OSO zu Tage getretene fatale System historisch vorbereiteten und ermöglichten, versteht Oelkers sein Buch als „Beitrag zur Erinnerungspolitik“. Als solchen sollte man ihn auch ernst nehmen und über die innerpädagogische Debatte hinaus weiterdenken. Schon deshalb ist der Titel „Eros und Herrschaft“ nicht zu hoch gegriffen, auch wenn ihm etwas „Epochales“ anhaftet, etwas Beunruhigendes.
Ohne Übertreibung kann man von diesem Buch sagen: Es wird Folgen haben, auch außerhalb der Pädagogik, denn berührt sind davon eine ganze Reihe heiliger Kühe und Altäre des deutschen Geistes in seiner traditionell männerbündischen Verfassung, die nun nicht mehr annähernd so ideenrein, unschuldig und sublim dasteht, wie ihre Protagonisten in Vergangenheit und Gegenwart es behauptet haben. Vor allem aber wird man nach diesem Buch in Deutschland keine naive Ideengeschichte oder „intellectual history“ mehr betreiben können, ohne die psychohistorischen Untergründe zu berücksichtigen. Der von den Skandalen um die OSO und eine Reihe katholischer Internate ausgelöste Erdrutsch dürfte gerade erst begonnen haben.
Die vier Institutionen, die Oelkers in den Blick nimmt – der britische „Erziehungsstaat“ Abbotsholme, die davon inspirierten deutschen Landerziehungsheime, die Freie Schulgemeinde Wickersdorf und die Odenwaldschule –, sind verwandt auch durch ihre charismatischen Gründer- und selbsternannten Lichtfiguren Cecil Reddies, Hermann Lietz, Gustav Wyneken und Paul Geheeb – alles Theologen –, die zunächst eng miteinander kooperierten, bis es zu stets neuen Sezessionen kam. So war auch die OSO unter Geheeb entstanden, in deren „kulturpolitischem Umfeld“ Oelkers zufolge die nur in Deutschland verbreitete Theorie des „pädagogischen Eros“ entstanden ist.
Idealiter sollte der hehre „Eros“ streng vom gewöhnlichen „Sexus“ getrennt sein – und dies ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als Sigmund Freud die Unmöglichkeit einer solchen Trennung und die Bindung auch aller Sublimation an die Triebstruktur lehrte. Selbst die im alten Athen streng geregelte Einrichtung der Päderastie – nicht ganz korrekt, weil zur Camouflage pädosexueller Neigungen gerne mit „Knabenliebe“ übersetzt, um die Frage nach der Geschlechtsreife des Objekts im Vagen zu belassen – hatte ein formalisiertes öffentliches und daneben ein zweites undeutliches Gesicht, das die häusliche Abgeschiedenheit suchte, so wie der als platonischer Erotiker oder als pädagogische Gottheit verkleidete moderne Päderast sich mit seinen Eleven und Epheben ins Herrenzimmer zurückzieht und die Tür hinter sich schließt.
Oelkers Befund fällt ernüchternd aus: Der „pädagogische Eros“ war und ist nichts anderes als die Metapher oder „das Theorem der Rechtfertigung“ sexueller Übergriffe, und gleichzeitig besorgt es die Legitimation des Wegschauens und Verschweigens, des Herunterspielens und Vertuschens unter einer zum elitären intellektuellen Korpsgeist verbrämten Kumpanei – also jenes Systems, das als „System Becker“ die Odenwaldschule regierte und es noch bis vor kurzen mit dem Mantel des Schweigens umhüllte, den manch einer auch jetzt noch stolz trägt und um Applaus wirbt.
Mit großartigem Quellenmaterial, stupenden biographischen Recherchen und einem phänomenalen empirischen Detailreichtum hat Jürgen Oelkers einen Sumpf erschlossen, der noch längst nicht trockengelegt ist. Für platonische und pädagogische Götter, die weiter davon träumen mit Ganymeds in luftige Höhen zu entschwinden, ist die Dämmerung angebrochen. In vielen Köpfen sitzen ihre Vorstellungen aber noch fest. Sie auszumisten, dafür hat Oelkers einen großartigen Anfang gemacht. Viel theoretische Feinarbeit wäre noch zu leisten. Auch die Schwulen- und die linke Alternativbewegung hat hier ihre Hausaufgaben noch lange nicht gemacht. Die längst überfälligen Diskursgewitter können und sollten jetzt endlich folgen.
Jürgen Oelkers
Eros und Herrschaft
Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Beltz Verlag, Weinheim 2011.
340 Seiten, 22,95 Euro.
Das Gefälle zwischen
verkaufsfördernden Idealen und
Alltagsrealität ist enorm
Ideengeschichte wird die
psychohistorischen Untergründe
künftig berücksichtigen müssen
Die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule waren der Anlass für das Buch von Jürgen Oelkers. Es soll
keine Generalabrechnung mit der Reformpädagogik sein, sondern ein Beitrag zur Erinnerungspolitik.
Foto: Martin Oeser/ddp
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»Den brisantesten Text liefert ohne Zweifel der Züricher Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers, er wird eine pädagogische Diskussion entzünden.« Die ZEIT »Dieses Schweigen durchbricht auch der renommierte Zürcher Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers. Sein Buch "Eros und Herrschaft" ist für den an der Sache interessierten Leser ebenso spannend, auch wenn es aus der distanzierteren Sicht des Wissenschaftlers geschrieben ist.« WDR 5, Leonardo »Das bestens recherchierte und alle seine auch strittigen Behauptungen zuverlässig belegende Werk bezeichnet der Autor als das einzige Buch, das er ungern geschrieben hat.« taz »Das Buch vermag daher als erziehungswissenschaftlicher Beitrag zur Diskussion um die Reformpädagogik, nicht aber als eine Geschichtsschreibung der reformpädagogischen Anfänge zu überzeugen. Zu wenig beachtet der Autor die Historizität, und schnell fällt er sein Urteil, das wenig Zwischentöne zulässt.« Neue Zürcher Zeitung
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Nach den zahlreichen Missbrauchsfällen des vorigen Jahres sichtet Heinz-Elmar Tenorth in einer Sammelbesprechung die ersten analytischen Auseinandersetzungen zu diesem Thema. "Wahre Schreckenswelten pädagogischer Herrschaft" tun sich für ihn nach der Lektüre dieses Buches auf, in dem der Schweizer Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers die Geschichte der Landerziehungsheime bis zum Jahr 1933 minutiös aufgearbeitet hat. Doch über historische Aufarbeitung hinaus, gewinnt dieses Buch durch das Aufdecken der inhärenten Machtstrukturen dieser Institutionen an Brisanz, meint Tenorth, denn sie haben Missbrauch und Gewalt erst möglich gemacht. Oelkers suche die Wurzel des Übels, resümiert Tenorth und zerlege dabei auch das Geflecht des Schweigens aus Eltern, Institution und Öffentlichkeit, die sich einig waren nur das Beste zu wollen. Eine endgültige Abrechnung mit der Reformpädagogik habe Oelkers nicht im Sinn, meint Tenorth, auch wenn eine gewisse Pro-Contra-Logik Oelkers Analyse nicht abgesprochen werden kann. Diese Buch fordert für Tenorth die Reformpädagogik dazu heraus, ihre menschenfreundlichen Erziehungsmethoden und deren institutionelle Organisation eindringlich zu hinterfragen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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