Auf Zelluloid wurde der erste Kuss bereits 1896 festgehalten. Seit dem hat die körperliche und sexuelle Freizügigkeit im Film eine Entwicklung vollzogen, die immer schneller Tabus bricht und gesellschaftlich festgelegte Grenzen überschreitet. Im Zentrum bleibt letztendlich nur noch die Frage nach dem "Wie wird ES gezeigt?" Extremes aus der Soft- bzw. auch Hardcore-Pornoindustrie kommt in diesem Band aus unserer Filmreihe genauso zum Zuge wie der Seitenblick auf die schwule/lesbische Film-Szene.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2005Es begann mit einem Kuß: "Erotic Cinema" als Bildband
Zum ersten Mal konnte das Kinopublikum im Jahr 1897 auf den nackten Körper einer Frau blicken. Der Film hieß "Après le Bal" und wäre, gäbe es nicht die Nackte, heute vergessen. Mit ihr begann die innige Verbindung von Film und Erotik, in der beide voneinander profitierten. Der Film, weil er wagen konnte, was in anderen Künsten aus sittlichen Erwägungen nicht möglich war, und damit sein Publikum zu einer ganz eigenen libidinösen Beziehung zur Leinwand verführte; die Erotik, weil der Film Dinge lehrte, von denen die Zuschauer ohne ihn vielleicht niemals zu träumen gewagt hätten. Der Taschen Verlag hat dem weiten Thema "Erotic Cinema" jetzt ein Bilderbuch gewidmet (Douglas Keesey/Paul Duncan: Erotic Cinema. Köln 2005, 192 S., 14,99 Euro), das in unverschämter Drastik zeigt, wovon die Rede ist. Sein Material bezieht er nicht aus dem pornographischen Film, sondern aus dem Mainstreamkino, zu dem auch jene Filme zählen, die einmal Soft-Pornos hießen wie "Emanuelle" oder der "Sex-Lehrer-Report". Der Schwerpunkt liegt deutlich auf den Jahren bis 1995, Filmbeispiele aus späteren Jahren sind rar.
Der Band ist phänomenologisch in Kapitel über Küsse und Nacktheit, Homosexualität und inzestuöses Begehren, Voyeurismus und Fellatio, Perversion und Vergewaltigung, Orgie und Geschlechtsverkehr mit jeweils verschiedenen Varianten gegliedert, so daß alle Formen sexueller Praktiken außer der Liebe zu Ziegen abgedeckt sein dürften. Doch was auf den ersten Blick wie ein bürokratischer Katalog der Begierden und ihrer Präsentation im Kino aussieht, entpuppt sich beim Lesen und vor allem beim Schauen als außerordentlich überraschungsreich - teilweise, weil bestimmte Szenen im Kontext einer Filmerzählung bei weitem nicht den Grad der Obszönität, nicht einmal der Freizügigkeit erreicht hatten, die sie als Standbild entfalten; teilweise aber auch, weil Filme auftauchen, die in einem Buch über Erotik im Kino nicht unbedingt zu erwarten waren, etwa "Bitterer Reis". Leider umfaßt die Filmographie nur einen kleinen Ausschnitt der erwähnten Filme, und die Bildtexte nennen meistens die Regisseure nicht. Auch ein Index fehlt, dafür informiert eine Chronologie vom ersten Filmkuß bis zu "American Beauty" (Foto) über die Entwicklung. Und die einzige These, die der Text wagt - je verbotener, desto aufregender -, widerlegt der Band selbst. Die erotischste Szene fand zwischen einem Ehepaar statt: in Nicolas Roegs "Wenn die Gondeln Trauer tragen" zwischen Julie Christie und Donald Sutherland. In "Eyes Wide Shut", der nicht erwähnt wird, wiederholte sich das zwischen Tom Cruise und Nicole Kidman. Vielleicht ist eben Sex in der Ehe das größte Tabu und seine Darstellung daher so aufregend wie kaum etwas sonst.
lue.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum ersten Mal konnte das Kinopublikum im Jahr 1897 auf den nackten Körper einer Frau blicken. Der Film hieß "Après le Bal" und wäre, gäbe es nicht die Nackte, heute vergessen. Mit ihr begann die innige Verbindung von Film und Erotik, in der beide voneinander profitierten. Der Film, weil er wagen konnte, was in anderen Künsten aus sittlichen Erwägungen nicht möglich war, und damit sein Publikum zu einer ganz eigenen libidinösen Beziehung zur Leinwand verführte; die Erotik, weil der Film Dinge lehrte, von denen die Zuschauer ohne ihn vielleicht niemals zu träumen gewagt hätten. Der Taschen Verlag hat dem weiten Thema "Erotic Cinema" jetzt ein Bilderbuch gewidmet (Douglas Keesey/Paul Duncan: Erotic Cinema. Köln 2005, 192 S., 14,99 Euro), das in unverschämter Drastik zeigt, wovon die Rede ist. Sein Material bezieht er nicht aus dem pornographischen Film, sondern aus dem Mainstreamkino, zu dem auch jene Filme zählen, die einmal Soft-Pornos hießen wie "Emanuelle" oder der "Sex-Lehrer-Report". Der Schwerpunkt liegt deutlich auf den Jahren bis 1995, Filmbeispiele aus späteren Jahren sind rar.
Der Band ist phänomenologisch in Kapitel über Küsse und Nacktheit, Homosexualität und inzestuöses Begehren, Voyeurismus und Fellatio, Perversion und Vergewaltigung, Orgie und Geschlechtsverkehr mit jeweils verschiedenen Varianten gegliedert, so daß alle Formen sexueller Praktiken außer der Liebe zu Ziegen abgedeckt sein dürften. Doch was auf den ersten Blick wie ein bürokratischer Katalog der Begierden und ihrer Präsentation im Kino aussieht, entpuppt sich beim Lesen und vor allem beim Schauen als außerordentlich überraschungsreich - teilweise, weil bestimmte Szenen im Kontext einer Filmerzählung bei weitem nicht den Grad der Obszönität, nicht einmal der Freizügigkeit erreicht hatten, die sie als Standbild entfalten; teilweise aber auch, weil Filme auftauchen, die in einem Buch über Erotik im Kino nicht unbedingt zu erwarten waren, etwa "Bitterer Reis". Leider umfaßt die Filmographie nur einen kleinen Ausschnitt der erwähnten Filme, und die Bildtexte nennen meistens die Regisseure nicht. Auch ein Index fehlt, dafür informiert eine Chronologie vom ersten Filmkuß bis zu "American Beauty" (Foto) über die Entwicklung. Und die einzige These, die der Text wagt - je verbotener, desto aufregender -, widerlegt der Band selbst. Die erotischste Szene fand zwischen einem Ehepaar statt: in Nicolas Roegs "Wenn die Gondeln Trauer tragen" zwischen Julie Christie und Donald Sutherland. In "Eyes Wide Shut", der nicht erwähnt wird, wiederholte sich das zwischen Tom Cruise und Nicole Kidman. Vielleicht ist eben Sex in der Ehe das größte Tabu und seine Darstellung daher so aufregend wie kaum etwas sonst.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Überraschungsreich" findet Rezensentin Verena Lueken diesen Bildband, der ihr "in unverschämter Drastik" den Zusammenhang von Erotik und Kino erläutert hat. Überraschend ist der Band für Lueken besonders deshalb, weil "bestimmte Szenen" aus ihrer Sicht im Kontext einer Filmerzählung "bei weitem nicht den Grad der Obszönität, nicht einmal der Freizügigkeit" erreichen würden, wie im vorliegenden Fall nun als Standbilder. So hat die Rezensentin im besprochenen Band, der sein Material ihren Informationen zufolge aus dem Mainstreamkino bezieht (Softpornos wie "Emanuelle" inklusive), "alle Formen sexueller Praktiken außer der Liebe zu Ziegen" abgedeckt gefunden, und zwar "phänomenologisch" in Kapitel gegliedert. Die Rezensentin bedauert, dass kaum Filme nach 1995 Berücksichtigung fanden, die Filmografie nur einen kleinen Ausschnitt der erwähnten Filme bietet und ein Index gar nicht vorhanden ist. Auch deutet sie an, dass ihr im Text deutliche Thesen zum Thema fehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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