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Sensation bedeutete ursprünglich nichts anderes als "Wahrnehmung". Heute versteht man unter einer Sensation das, was die Wahrnehmung magnetisch auf sich zieht: das Spektakuläre. Was kein Aufsehen zu erregen vermag, wird kaum noch wahrgenommen. Esse est percipi - Sein ist Wahrgenommenwerden. Der Kampf ums Dasein wird in der Sensationsgesellschaft zum Kampf um Wahrnehmung. Christoph Türcke verfolgt in seinem grundlegenden philosophischen Werk den Wandel der Sensation zur Anschauungsform des modernen Menschen, zum Verhaltensmuster, zum Unruheherd einer ganzen Gesellschaft. Er rekonstruiert die…mehr

Produktbeschreibung
Sensation bedeutete ursprünglich nichts anderes als "Wahrnehmung". Heute versteht man unter einer Sensation das, was die Wahrnehmung magnetisch auf sich zieht: das Spektakuläre. Was kein Aufsehen zu erregen vermag, wird kaum noch wahrgenommen. Esse est percipi - Sein ist Wahrgenommenwerden. Der Kampf ums Dasein wird in der Sensationsgesellschaft zum Kampf um Wahrnehmung. Christoph Türcke verfolgt in seinem grundlegenden philosophischen Werk den Wandel der Sensation zur Anschauungsform des modernen Menschen, zum Verhaltensmuster, zum Unruheherd einer ganzen Gesellschaft. Er rekonstruiert die Bedeutungsgeschichte des Sensationsbegriffs und mit ihr die Formation der neuzeitlichen Welt zur "Erregungsmasse". Dabei greift er zurück bis zur physiologischen "Urgeschichte" der Sensation, die einst als Epiphanie des Heiligen erlebt wurde. Deren Nachwirkungen reichen bis in die hochtechnisierte Moderne, wo audiovisuelle Schocks wie Injektionen verabreicht werden und die erregte Gesellschaft zunehmend die Fähigkeit verliert, ohne den Maßstab der Sensation auszukommen. Christoph Türckes Philosophie der Sensation ist ein zentraler Beitrag zur Gesellschaftstheorie der Gegenwart.
Autorenporträt
Christoph Türcke, Jahrgang 1948, ist Professor für Philosophie in Leipzig. Im zu Klampen Verlag sind u.a. von ihm erschienen: Die neue Geschäftigkeit; Religionswende; Gewalt und Tabu; Zum ideologiekritischen Potential der Theologie
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Schalen Genüssen sollst du entsagen
Christoph Türcke muß keiner sagen, wie man Kapitalist wird: Er sieht in der ganzen Moderne böse Kräfte walten / Von Jürgen Kaube

Professor Türcke hat etwas gegen: das Fernsehen, den Alkohol, das Geld, die Fotografie, Tätowierungen, Fernbedienungen, Fetische und Jahrmärkte, gegen Waren überhaupt. Nichts im einzelnen hat er dagegen, nichts sozusagen gegen einen Armagnac, Spitzenunterwäsche, den Euro oder gegen die langweiligen Filme von Rohmer. Der Philosoph behauptet vielmehr einen Zusammenhang zwischen den genannten Tatsachen, und zwar einen unheilvollen. Worin er besteht, ist bei aller Dramatik des Tons nicht einfach zu sagen. Türcke braucht dazu Psychoanalyse, Religionsgeschichte, kritische Theorie, Völkerkunde, Hirnforschung und etwas, das von weitem wie marxistische Ökonomie aussieht, aber doch wohl mehr eine selbstgemachte Theologie ist. Daß selbst bei diesem Einsatz von geisteswissenschaftlichem Großgerät die Wertungen des Buches ungreifbar bleiben, gerade darin besteht Türckes Pointe.

Denn jene Gegenstände sind ihm irgendwie unheimlich, anziehend und abstoßend, man möchte sagen: sensationell. Er blickt auf sie, wie Kierkegaard auf die Sünde, Spengler auf die große Stadt oder Adorno auf die Musikindustrie - erschreckt gefesselt vom ausweglosen Schicksal. Indem er dabei an keiner Stelle die stilistische Imitation seiner kulturkritischen Rollenmodelle scheut - "Der Glutkern der Sensation ist ein blinder Fleck am äußersten Rand der zugänglichen Geschichte" -, zweigt er auch einiges vom Pathos jener Autoren für sich ab. Es geht hier ums ganze Falsche.

Für Türcke stellt sich in den genannten Erscheinungen nämlich die Zivilisation selber dar: als ein Zwangsverband unglücklicher Menschen, die sowohl physisch als auch seelisch entweder ausgebeutet werden oder sich selbst ausbeuten, zumeist beides und neuerdings sogar - der Kapitalist leidet genauso - ohne erkennbare Nutznießer. Wer statt der Dame den Damenschuh verehrt, wer sich der Bilderwelt der Medien hingibt, wer zuviel trinkt, in der Werbebranche arbeitet oder an der Börse Gewinn erstrebt, macht einerseits etwas Fragwürdiges, lebt im Status corruptionis. Solche Leute machen andererseits etwas für die moderne Gesellschaft, ja sogar für den Menschen seit Urzeiten ganz Typisches. Türckes Theorie wirft ihnen also nur zwischen den Zeilen vor, ein falsches Leben zu führen. Denn irgendwie geht es dieser Theorie zufolge kaum anders, und man kann sich nur wundern, daß nicht die ganze Welt gepierct ist, trunk- oder spielsüchtig, beziehungsweise nicht alle einen Fernseher besitzen oder vor lauter Nervosität gewalttätig werden.

Die Theorie selber kann man so zusammenfassen: Alle diese Verhaltensweisen entspringen einem anthropologisch begründeten Sensationsbedürfnis. Sensation, das wird ideengeschichtlich interessant ausgeführt, war zunächst ein Grundbegriff der Erkenntnistheorie und meinte den elementarsten Vorgang der Wahrnehmung. Erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts und vermutlich unter dem Eindruck der Französischen Revolution verschiebt sich die Bedeutung von "Sinnesempfindung" zu "aufsehenerregendes Ereignis". Türcke entdeckt in diesem Bedeutungswandel eine dialektische Bewegung: Sei es seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte darum gegangen, unerwartete und daher schreckhaft empfundene Sinneseindrücke zu bewältigen, so konsumiere die moderne Gesellschaft in Gestalt von Fernsehen, Drogen, Tätowierungen et cetera die Sensation geradezu und setze sich auf beinahe masochistische Art Schocks aus, deren Vermeidung bis dahin alle Kultur galt.

Weite Passagen des Buches dienen der Begründung, daß nicht nur die höheren Bewußtseinsleistungen des Menschen, sondern alle Kultur aus Schockbewältigung entspringt. Aus den Kulten, die im Kern alle Opferhandlungen sind, läßt sich entnehmen, daß etwas Schreckliches geschehen ist, das durch sie geheilt werden soll. Durch sie, die selber schrecklich sind. Der Schrecken wird erwartbar und läßt sich sozial gestalten, vor allem aber: Man tut ihn sich selber an, anstatt es bloß geschehen zu lassen.

Ihn, es. Wovon ist die Rede? Das kann Türcke nicht sagen: Alles kommt als Auslöser von archaischer Angst in Betracht. Es herrscht mithin Wiederholungszwang in bezug auf ein Ereignis, das unbekannt bleibt. Man könnte auch sagen, daß die Schreckhaftigkeit der menschlichen Natur der Entwicklung kultureller Institutionen günstig war, weil sie nicht darauf festgelegt ist, sich von Bestimmtem ängstigen zu lassen, sondern auf alle möglichen Anlässe mit selbsterhaltenden Maßnahmen reagiert. Türcke läßt aus dieser konservativ-progressiven Reaktionsweise alles hervorgehen: den gesamten humanen Wahrnehmungsapparat, Sprache, Religion, Familie und Wirtschaft.

Man liest die entsprechenden Ableitungen in dem Maße gelassen, in dem über Ursprünge in der Geschichte ohnehin nichts bekannt ist. Für seine Theorie der Entstehung von Kultur aus der Überforderung der Sinne durch die Umwelt bringt Türcke zwar wenig empirische Belege. Das läßt sie aber nur so gut oder schlecht dastehen wie jede andere Spekulation über den Ausgang aus dem Naturzustand, jedes andere Höhlengleichnis. Auf einen deduktiv erzeugten Mythos mehr oder weniger kommt es angesichts der vielen, die es schon gibt, nicht an. Die Frage ist, wie weit kommt man damit, wenn man sich Tatbeständen nähert, über die es Forschung gibt, im weitesten Sinne also der Gegenwart.

Drei unheilvolle Tatbestände sind es vor allem, die Türcke für eine Analyse des gegenwärtigen Zeitalters als signifikant erachtet: Massenmedien, Drogen und Marktwirtschaft. "Heutige Sensationen", heißt es, "sind unter globalen Konkurrenzbedingungen bis zur Unkenntlichkeit inflationierte, verblaßte Nachfahren der Epiphanie des Heiligen." Dem entspreche eine Eskalation von Erregungszuständen in der modernen Gesellschaft. Sie werde zu einem ewigen Jahrmarkt, auf dem es immer ausschließlicher um den Gewinn von Aufmerksamkeit gehe, weil sie sich im Griff von Warenproduktion und Massenmedien befinde.

Bereits am ersten großen Belegstück hierfür, der Fotografie, zeigt der Autor, welche Art von Beweisverfahren er vorsieht: ein metaphorisches. Türcke zitiert aus den ersten Reaktionen auf das neue Medium. Sie vergleichen den Fotografen mit Gott, sprechen dem Apparat magische Fähigkeiten zu, erschrecken vor der Leblosigkeit des gebannten Augenblicks, halten die Menschlein auf den Abzügen für Geister. Türcke nickt dazu: Es ist alles ganz furchtbar mythologisch und kapitalistisch und bürokratisch zugleich. Das Auge der Kamera "behandelt jeden Augenblick mit der gleichen vorbehaltlosen spurensichernden Intensität, weil ihm diese Augenblicke allesamt egal sind". Es, genauer: der belichtbare Film reagiere auf momentane Erregung und lasse das Bild erstarren. Der erfüllte Augenblick "gerät nun in die Fänge einer Apparatur". Der unerfüllte übrigens auch.

Was solche Formulierungen beweisen, ist aber nicht, daß eine Gesellschaft, in der es Massenmedien gibt, einen "Rückgang in den Grund" aller Kultur, die Überforderung durch Schocks angetreten hat. Sie beweisen vielmehr zweierlei: daß die Zeugen technologischer Sprünge ihrer Verwunderung gerne durch hyperbolische Anleihen bei Mythen Ausdruck verleihen; und daß eine Theorie, die allen sozialen Tatbeständen, die sie überhaupt ernst nimmt, dieselbe Funktion zuschreibt, bei Analogien ohne Erkenntnisgewinn landet. Im Inneren von Türckes Philosophie arbeitet ein solcher Beziehungswille. Alles ist so wie etwas anderes. Das Kameraauge arbeitet optisch "so wie" der Markt sozial: als Instanz, die alles aus seinem Kontext löst und gleichgültig behandelt. Der Markt seinerseits operiert so wie die Religion. "Wie sich nämlich der schmerzende Körper ums Trauma windet, der Kult ums Opfer, die Sprache ums Schreckgestammel, so windet sich der Markt um die ,ursprüngliche Akkumulation' des Tempelschatzes." Oder: "Wie in der Bibel Gott sich im Menschen, so bildet in der Neuzeit der entfesselte Markt sich im entfesselten Rauschmittelkonsum gleichsam ab." Und die "profane Medizin wie das profane Gelage haben sich ebenso als ,Rinde' um den sakralen Rauschmittelgebrauch gelegt, wie der Markt ums Heiligtum." Und schließlich hat der Fundamentalismus die gleiche Tiefenstruktur wie die Sucht, weil der Süchtige so wie der Fundamentalist weiß, "daß der Stoff, an den er sich klammert, kein wahrer Halt ist, aber er hat keinen andern, hängt daran".

Kirche, Schnaps, Kino - so reimte Leo Trotzki, und Türcke hat dagegen nur, daß Trotzki die Arbeiter lieber ins Kino schicken wollte, ohne zu sehen, daß ihnen dort ein anderes Opium verabfolgt wird. Türcke genügt es, etwas als "Rinde" oder "Sucht" oder "Schreck" darstellen zu können, um seine eigenen Thesen über andere schreckliche Rinden der Sucht nach Sensation bestätigt zu sehen. Mit allen Dingen geschieht in dieser Theorie dasselbe: Sie werden so lange gepreßt, bis sie alle denselben toxischen Stoff abgeben, der diesem Philosophen ein äußerst kritisches Lebensgefühl verschafft. Das ist eine der sonderbarsten Süchte.

Christoph Türcke: "Erregte Gesellschaft". Philosophie der Sensationen. Verlag C. H. Beck, München 2002. 328 S., geb., 29,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Rezensentin Hannelore Schlaffer kann sich nicht wirklich für Christoph Türckes "Erregte Gesellschaft" erwärmen. Im wesentlichen sieht sie darin ein "Konglomerat" historischer Zitate und soziologischer Interpretationen des Begriffs "Sensation", die sich von der reinen Wahrnehmung zur Sensationssucht gewandelt habe. Als Philosoph verlangt Türcke seinem Leser nach Einschätzung Schlaffers einige Anstrengung ab. Wenn er dann aber die Überholung aller philosophischen und psychologischen Diskurse durch die Hirnforschung darstelle, erweise er sich als "Dilettant unter Dilettanten". Zu simpel und letztlich nicht überzeugend fällt für Schlaffers Geschmack seine Darstellung der schwierigen Sachverhalte um Neuronen und Zellkerne, Cortex und Neocortex aus. Schwerer noch wiegt ihr Vorwurf, dass das Material von Türckes kulturhistorischen Gesellschaftsanalysen nicht aus der sinnlichen Beobachtung, sondern "aus einer eklektizistischen Hortung von Angelesenem" stamme. "Am Klischee", so das entsprechend negative Urteil der Rezensentin, "kommen sie deshalb schwer vorbei, wie ja auch ihr Ziel, die vage Lust des Menschen am Pessimismus zu bestätigen und ihm sanfte Belehrung angedeihen zu lassen, nichts als ein modisches Unbehagen an der Unkultur formuliert".

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