Niemis Held ist 16 Jahre alt und geht aufs Gymnasium. Er teilt seine Klasse in Hosenscheißer und Idioten ein. Die Hosenscheißer bekommen alles vorgesetzt und haben Eltern, die dafür sorgen, dass es ihnen im Leben gut geht. Die Idioten wissen, dass die Hosenscheißer immer siegen werden, finden sich jedoch damit ab und wollen nur nicht stören. Niemis Held ist fest entschlossen, nicht so ein kriecherischer Idiot zu werden. Auch wenn ihn seine erste große Liebe wie den letzten Dreck behandelt. Er gewinnt viele Feinde, aber auch einige Freunde. Wie das schwarzhaarige Mädchen aus dem musischen Zweig mit den grünen Augen. Oder Pålle, den sie mobben und der aus schwierigen Familienverhältnissen stammt. Den Hosenscheißern werden sie es schon noch zeigen und auch der übrigen Welt ...
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.08.2011Die Feder ist
seine Pistole
Mikael Niemi erzählt von der
Verzweiflung der Pubertät
Sechzehn Jahre alt ist der Erzähler; er fühlt sich grau. Und nicht nur das, auch noch hässlich und doof. Also kleidet er sich bunt und widerwärtig: In einer alten Kittelschürze, verrotzt und ungewaschen, geht er zur Schule. Endlich fällt er auf. Dann schreibt er Gedichte und hängt sie anonym ans schwarze Brett.
In den Gedichten stehen Sachen wie „Bombardier den Dreck“ oder „die Feder ist meine Pistole / ich schieße dir in die Augen“. Doch das einzige Mädchen, das auf die Gedichte abfährt, heißt Lavendel Johansson und vermutet einen anderen, vermutet Leonardo, hinter den Gedichten. Das streitet der nicht ab – wie zurrt man das klar, ohne dass es peinlich wird?
Nur einer versteht den Erzähler – Pålle. Der hat einen gewalttätigen Vater, deswegen flüchtet er so oft wie möglich in einen alten Militärunterstand im Wald. Dort gibt es Konserven, Petroleumlampen, Matratzen und einen Revolver – die Apfelsine liegt als Zielscheibe auf der Lichtung davor. Die Gedichte werden brutaler, die Schulrektorin verbietet, sie weiterhin am schwarzen Brett aufzuhängen, Graffiti sind auch eine Lösung und in der Schule kocht die Stimmung hoch. Bei Pålle auch. Doch was beim Lesen auf die Spur nach Littleton oder Winnenden führt, endet nicht mit einem Schulmassaker. Das verhindert der Erzähler und eine kleine Belohnung (Lavendel liebt ihn und Leonardo ist schwul) gibt es auch. Aber Pålle hält es nicht mehr aus, erschießt keine Apfelsine sondern seine Eltern und haut ab.
Ein solcher Plot reicht nur dann für einen Roman, wenn die Träume, Absichten und Handlungen der Jugendlichen überzeugen und nichts durch Oberflächenaktionismus, gar Krimielemente abgebürstet wird. Das schafft Niemi mit einer Leichtigkeit, die mit ganz wenigen, aber desto gekonnteren Strichen sich den Figuren nähert. Mag sein, dass es in diesem Roman dem Autor auch hilft, dass Stadt und Landschaft namenlos sind und nur aufs ungefähre (verschlafene Kleinstadt mit Pizzaservice, gutem Krankenhaus und großem Wald) in das von Stockholm aus nördlich gesehen noch einmal besonders lange Land Schweden weisen. Mit Lokalkolorit muss er sich nicht tiefer beschäftigen.
Bis zu diesem Buch spielten alle Romane Mikael Niemis am Rande Europas, in dessen Heimat, im nördlichen Niemandsland zwischen Schweden und Finnland, im Tornedal. Dort werden vier Sprachen gesprochen: Finnisch, Schwedisch, Samisch und Meänkieli (ein stehengebliebenes, altes Finnisch) und Niemi hat, angefangen mit „Populärmusik aus Vittula“ (2000; Verfilmung 2004) bis zum „Mann, der starb wie ein Lachs“ (2006) noch immer auf diese abgeschiedene Sprachen- und Kulturenecke referiert.
In der namenlosen Stadt mit dem namenlosen Wald ist das nicht der Fall. Und daher gelingt dem Autor in „Erschieß die Apfelsine“ die schnörkellose Erzählung davon, wie die sprachlose Verzweiflung der Pubertät in ein lakonisches Verstehen und Erobern von Welt münden kann, ohne dass man gleich ein Held oder ein Verbrecher werden muss. STEPHAN OPITZ
MIKAEL NIEMI: Erschieß die Apfelsine. Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2011. 240 Seiten, 14,99 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
seine Pistole
Mikael Niemi erzählt von der
Verzweiflung der Pubertät
Sechzehn Jahre alt ist der Erzähler; er fühlt sich grau. Und nicht nur das, auch noch hässlich und doof. Also kleidet er sich bunt und widerwärtig: In einer alten Kittelschürze, verrotzt und ungewaschen, geht er zur Schule. Endlich fällt er auf. Dann schreibt er Gedichte und hängt sie anonym ans schwarze Brett.
In den Gedichten stehen Sachen wie „Bombardier den Dreck“ oder „die Feder ist meine Pistole / ich schieße dir in die Augen“. Doch das einzige Mädchen, das auf die Gedichte abfährt, heißt Lavendel Johansson und vermutet einen anderen, vermutet Leonardo, hinter den Gedichten. Das streitet der nicht ab – wie zurrt man das klar, ohne dass es peinlich wird?
Nur einer versteht den Erzähler – Pålle. Der hat einen gewalttätigen Vater, deswegen flüchtet er so oft wie möglich in einen alten Militärunterstand im Wald. Dort gibt es Konserven, Petroleumlampen, Matratzen und einen Revolver – die Apfelsine liegt als Zielscheibe auf der Lichtung davor. Die Gedichte werden brutaler, die Schulrektorin verbietet, sie weiterhin am schwarzen Brett aufzuhängen, Graffiti sind auch eine Lösung und in der Schule kocht die Stimmung hoch. Bei Pålle auch. Doch was beim Lesen auf die Spur nach Littleton oder Winnenden führt, endet nicht mit einem Schulmassaker. Das verhindert der Erzähler und eine kleine Belohnung (Lavendel liebt ihn und Leonardo ist schwul) gibt es auch. Aber Pålle hält es nicht mehr aus, erschießt keine Apfelsine sondern seine Eltern und haut ab.
Ein solcher Plot reicht nur dann für einen Roman, wenn die Träume, Absichten und Handlungen der Jugendlichen überzeugen und nichts durch Oberflächenaktionismus, gar Krimielemente abgebürstet wird. Das schafft Niemi mit einer Leichtigkeit, die mit ganz wenigen, aber desto gekonnteren Strichen sich den Figuren nähert. Mag sein, dass es in diesem Roman dem Autor auch hilft, dass Stadt und Landschaft namenlos sind und nur aufs ungefähre (verschlafene Kleinstadt mit Pizzaservice, gutem Krankenhaus und großem Wald) in das von Stockholm aus nördlich gesehen noch einmal besonders lange Land Schweden weisen. Mit Lokalkolorit muss er sich nicht tiefer beschäftigen.
Bis zu diesem Buch spielten alle Romane Mikael Niemis am Rande Europas, in dessen Heimat, im nördlichen Niemandsland zwischen Schweden und Finnland, im Tornedal. Dort werden vier Sprachen gesprochen: Finnisch, Schwedisch, Samisch und Meänkieli (ein stehengebliebenes, altes Finnisch) und Niemi hat, angefangen mit „Populärmusik aus Vittula“ (2000; Verfilmung 2004) bis zum „Mann, der starb wie ein Lachs“ (2006) noch immer auf diese abgeschiedene Sprachen- und Kulturenecke referiert.
In der namenlosen Stadt mit dem namenlosen Wald ist das nicht der Fall. Und daher gelingt dem Autor in „Erschieß die Apfelsine“ die schnörkellose Erzählung davon, wie die sprachlose Verzweiflung der Pubertät in ein lakonisches Verstehen und Erobern von Welt münden kann, ohne dass man gleich ein Held oder ein Verbrecher werden muss. STEPHAN OPITZ
MIKAEL NIEMI: Erschieß die Apfelsine. Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2011. 240 Seiten, 14,99 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dem Rezensenten Stephan Opitz hat dieser Roman gut gefallen. Pubertierende Jugendliche seien die Protagonisten einer "schnörkellosen" Handlung, die zunächst auf einen Schul-Amoklauf hinsteuere, meint Opitz. Doch der bleibe aus, verhindert durch den sechzehnjährigen Ich-Erzähler. Dafür erschießt sein Freund Palle statt wie bisher Apfelsinen am Ende seine Eltern und flüchtet, wie wir erfahren. Dass der Plot für einen Roman taugt, ist nach Auffassung des Rezensenten allein der Figurenzeichnung des Autors zu verdanken. Skizzenhaft aber treffsicher seien die Schilderungen der adoleszenten Gedanken und Gefühle. Aufgefallen ist dem Rezensenten außerdem die Namenlosigkeit des Schauplatzes. Denn die bisherigen Romane Niemis sind alle im zwischen Finnland und Schweden gelegenen Tornedal angesiedelt und mit dessen Vielsprachigkeit befasst, wie Opitz erzählt. Dass der vorliegende Roman auf Lokalkolorit komplett verzichtet, rechnet der Kritiker ihm als Stärke an. Auch vermutet Opitz einen Zusammenhang zwischen der geografischen Unbestimmtheit des Schauplatzes und der überzeugend geschilderten "sprachlosen Verzweiflung" seiner Akteure.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH