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Für Paris und ganz Europa begann 2015 eine neue Zeit: Der brutale Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo sowie der Terror vom 13. November setzten den grausamen Rahmen für ein Jahr, das nicht nur in Frankreich von einer Vielzahl weiterer Übergriffe mit islamistischem Hintergrund, antisemitischen Attentaten und einem erschreckenden Zulauf für den Front National geprägt war. Die in Paris lebende Schriftstellerin Gila Lustiger hat bereits in ihrem Gesellschaftsroman »Die Schuld der anderen« hellsichtig Ursachen und Hintergründe beschrieben. Auch die jüngsten Terrorakte hat sie miterlebt,…mehr

Produktbeschreibung
Für Paris und ganz Europa begann 2015 eine neue Zeit: Der brutale Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo sowie der Terror vom 13. November setzten den grausamen Rahmen für ein Jahr, das nicht nur in Frankreich von einer Vielzahl weiterer Übergriffe mit islamistischem Hintergrund, antisemitischen Attentaten und einem erschreckenden Zulauf für den Front National geprägt war. Die in Paris lebende Schriftstellerin Gila Lustiger hat bereits in ihrem Gesellschaftsroman »Die Schuld der anderen« hellsichtig Ursachen und Hintergründe beschrieben. Auch die jüngsten Terrorakte hat sie miterlebt, aus dieser Erfahrung ist ihr Essay entstanden. Der kluge Versuch, einer tief empfundenen Erschütterung mit Vernunft zu begegnen und vehement unsere freiheitlichen Werte zu verteidigen - als Pariserin, Mutter zweier Kinder, Jüdin, Europäerin.
Autorenporträt
Gila Lustiger wurde 1963 in Frankfurt am Main geboren. Sie studierte Germanistik und Komparatistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1987 lebt sie als freie Autorin in Paris. Ihr erster Roman, »Die Bestandsaufnahme«, erschien 1995, dann 1997 »Aus einer schönen Welt«. Mit »So sind wir «(2005), einem Familienroman über die Geschichte der europäischen Juden, stand sie 2005 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. 2011 erschien ihr Roman »Woran denkst Du jetzt«, 2015 ihr hellsichtiger und vielgelobter Gesellschaftsroman »Die Schuld der anderen«, der wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste stand, und Anfang 2016 ihr preisausgezeichneter Essay »Erschütterung«, in dem sie sich mit den Gründen und Folgen der Terrorattentate in Frankreich auseinandersetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2016

Hass gegen die Schriftkultur
Gila Lustigers Essay über den islamistischen Terror

An was denkt einer, der "Es geht los, wir fangen an" in sein Handy tippt, danach aus dem Wagen steigt, das Telefon in den nächsten Mülleimer wirft und einen Konzertsaal betritt, um auf eine Menschenmenge zu schießen. Das hat sich Gila Lustiger nach den Attentaten vom 13. November 2015 in Paris gefragt, nachdem islamistische Terrorristen unter anderem den Konzertsaal Bataclan am Boulevard Voltaire gestürmt und 89 Menschen ermordet hatten. Vielmehr: Die Schriftstellerin hat als Erstes an besagtem Abend voller Angst Verwandte, Freunde und Bekannte angerufen und sich erkundigt, ob alle noch am Leben seien.

Die Frage, was in den Köpfen der Mörder vorgegangen ist, hat Lustiger sich erst später, als die Details bekannt waren, gestellt. Systematisch befasste sie sich mit dem Terrorakt, seiner Vorgeschichte und dem Milieu, aus dem die Täter stammten, nachdem der Berlin Verlag sie gebeten hatte, etwas über den Terror in Frankreich zu schreiben.

Lustiger ist prädestiniert gewesen für einen solchen Essay. Denn sie hat sich für ihren 2015, eine Woche vor den Terroranschlägen auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" erschienenen Roman "Die Schuld der anderen" in den Untiefen Frankreichs umgesehen und umgehört, nicht nur in Paris, sondern auch in der Provinz und vor allem auch in den Vorstädten, den berüchtigten Banlieues, wo die Gewalt, das Elend und der Fanatismus brüten.

Leicht gemacht hat sich die aus Frankfurt stammende Schriftstellerin ihre Antworten nicht. Sie hat systematisch recherchiert und nachgedacht, um das Rätsel zu lösen. Wir können ihre Suche nach Erkenntnis und Verstehen in dem Essay "Erschütterung. Über den Terror" verfolgen, den der Berlin Verlag als Buch herausgegeben hat. Lustiger, die Tochter des 2012 verstorbenen Frankfurter Historikers Arno Lustiger, stellte jetzt den 159 Seiten umfassenden Text in einer Premiere im Hessischen Literaturforum im Mousonturm vor. Ein Rezept, wie man dem Terrorismus begegnen kann, liefert sie nicht, aber sie stellt die richtigen Fragen, die uns eine Ahnung geben, woraus das "kalte Feuer des Fanatismus" der Attentäter sich nährt.

Man muss zurückgehen zu den bürgerkriegsartigen Krawallen von 2005 in den Banlieues, als die französische Jugend nord- und schwarzafrikanischer Herkunft Mülltonnen abfackelte und Autos anzündete, um auf ihre Perspektivlosigkeit, ihre Langeweile, ihre Resignation und Gewaltbereitschaft aufmerksam zu machen. Aus diesem Milieu kam zum Beispiel Ismael Omar Mostefai, der Attentäter, der seine Sprengstoffweste im Bataclan zündete. Bei diesen Jugendkrawallen zerstörten die wütenden Aufrührer in großer Zahl Sinnbilder des Wohlfahrtsstaates: Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser. Und vor allem auch Bibliotheken.

"Warum verbrennt man Bibliotheken?" lautet denn auch eine der Fragen, die Lustiger sich und Frankreich stellt. Von 1996 bis 2013 sind laut Statistik mehr als 70 Büchereien in Brand gesetzt oder verwüstet worden, berichtet die Autorin und findet die Antwort auf das "Warum?" in einer Fallstudie des Soziologen Denis Merklen von 2014: Viele der Randalierer seien Schulabbrecher gewesen, und ihr Hass habe nicht nur dem Buch, sondern auch ganz allgemein dem geschriebenen Wort gegolten. Sprache, das war für diese Jugendlichen aus den Vorstädten nur Gebote und Verbote, die Schriftkultur nur Formulare der Behörden, die sie auszufüllen hatten, wenn sie zum Arbeitsamt mussten oder zur Krankenkasse, um sich Arbeitslosengeld oder ein ärztliches Attest zu verschaffen.

Im Islamismus sieht Lustiger die neue Form des Faschismus. Als Beispiel nennt sie jene Bande junger Muslime, die 2006 den 23 Jahre alten Handyverkäufer Ilan Halimi in der Vorstadt Bagneux entführten und zu Tode folterten. Alle Gangmitglieder waren jung, alle arbeitslos und Kinder von Immigranten oder Nachfahren von Immigranten, alle besaßen sie die französische Staatsbürgerschaft, und alle hassten Juden, die in ihrer Vorstellung alle reich sind. Orientierungslos, frustriert, verroht, so beschreibt Lustiger die Täter. Diese Verlierer der Republik hätten sich einer religiösen Strömung zugewandt, die ihnen nicht nur eine neue Identität und einen Lebenssinn, sondern auch eine politische und religiöse Legitimierung gegeben habe, um ihre Gewalt rauschhaft auszuleben.

Die Attentäter des Jahres 2015 wiederum hätten sich als Rächer einer beleidigten und angegriffenen Religion gesehen und seien bereit gewesen, für diese Religion zu sterben. Lustiger zitiert Umberto Eco, der festgestellt hat, dass der urfaschistische Held den Tod mit Ungeduld erwartet, aber in dieser Ungeduld andere auch gerne in den Tod schicke. Lustiger hat ihren Essay eben erst abgeschlossen, weshalb sie auch noch den Strom der Flüchtlinge nach Deutschland und die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln reflektieren konnte. Eine Frage dieses erhellenden und hellsichtigen Buches lautet denn auch: "Kann Deutschland aus den Fehlern Frankreichs lernen?"

HANS RIEBSAMEN

Gila Lustiger: "Erschütterung. Über den Terror", Berlin Verlag 2016, 16 Euro

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»Gila Lustigers Essay "Erschütterung" gehört zu den Büchern der kritischen Aufklärung. Es ist ein unaufgeregtes und einsichtsvolles Plädoyer für eine unkriegerische Integration. Mit einem Wort: höchst lesenswert.« Michael Braun Kölner Stadt-Anzeiger 20160401