Dieses Buch versammelt alle nicht in den drei inzwischen zu Klassikern avancierten Bänden "Würdest du bitte endlich still sein, bitte", "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" und "Kathedrale" enthaltenen Erzählungen Raymond Carvers: Von ersten, tastenden Versuchen in der Art Faulkners, einer Hemingway-Parodie, einem Roman-Fragment bis zu Carvers letzter Erzählung Der Botengang, einer bewegenden Hommage an sein großes literarisches Vorbild Anton Tschechow. Kurz nach Veröffentlichung dieser Erzählung über die letzten Wochen in Tschechows Leben wurde bei Carver Lungenkrebs diagnostiziert. Wenige Monate vor seinem Tod publizierte Raymond Carver unter dem Titel "Where I'm Calling From" eine von ihm selbst zusammengestellte Auswahl seiner Erzählungen, der er sieben "Neue Erzählungen" hinzufügte. Diese bilden das "Herzstück" des vorliegenden Bandes, der abgerundet wird durch fünf posthum veröffentlichte Tex te, deren Entdeckung vor wenigen Jahren großes Aufsehen bei Kritik und Publikum erregte.Hiermit liegt das gesamte erzählerische Werk Raymond Carvers auf Deutsch vor. Die Übersetzung auch dieses Bandes stammt von Helmut Frielinghaus. Den Erzählungen vorangestellt ist ein Vorwort von Carvers langjähriger Lebensgefährtin, der Schriftstellerin Tess Gallagher.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Tränen in der Mähne des Pferdes
Raymond Carvers nachgelassene Storys, leider schlampig übersetzt / Von Paul Ingendaay
Dies ist der vierte und letzte Band der sorgfältig ausgestatteten Carver-Werkausgabe im Berlin Verlag, wahrhaft eine Ausgrabung und Wiederbelebung, denn der amerikanische Schriftsteller Raymond Carver gehörte in Deutschland bis zum Jahre 2000 lediglich ein paar Enthusiasten. Mit fünfzig Jahren, 1988, war er in Amerika allerdings hochberühmt. Er schien selbst zu verkörpern, was seine Storys sich nie zu erzählen trauen, den Aufstieg aus Armut und Suff zu den Lichtungen eines selbstbestimmten Künstlerlebens. Und er genoß die Anerkennung, bekam bedeutende Stipendien, schrieb Storys und Gedichte. Ein britischer Rezensent nannte ihn gar den "amerikanischen Tschechow". Dann starb er.
Kurz zuvor war in New York, als Vermächtnis zu Lebzeiten, der dicke Band "Where I'm Calling From" mit neuen und alten Erzählungen herausgekommen. Eine bestimmte Story darin fand ich seinerzeit scheußlich, sie heißt "Sag den Frauen, daß wir wegfahren" und stammt aus dem Band "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" (1981). Sie schien der vollkommene Ausdruck der Reagan-Ära aus der Sicht der Unterprivilegierten, die Schilderung eines Gewaltausbruches, den schiere Dumpfheit motiviert, als hätte Carver seine Landsleute ermahnen wollen: "Vorsicht! Wer zu früh heiratet, zu schnell ein Eigenheim mit Grillplatz anstrebt und alle Träume begräbt, kommt nicht darum herum, zwei Radfahrerinnen mit Steinen zu erschlagen." Ich mag die Erzählung immer noch nicht. Aber sie ist blendend geschrieben.
Der vorliegende Band heißt "Erste und letzte Storys", und das große Mittelstück mit sieben späten Erzählungen stammt aus dem damaligen Band "Where I'm Calling From". Es sind die besten der hier versammelten zweiundzwanzig Geschichten. Doch auch die anderen lohnen sich, und es hätte des pathetischen, im Kern sentimentalen Vorworts von Carvers Witwe Tess Gallagher (die sich den Band kurzerhand selbst gewidmet hat) nicht bedurft, um uns darauf vorzubereiten, daß die postumen Erzählungen nicht ganz durchgearbeitet sind. Ein anderer Tatbestand dagegen wird in der deutschen Ausgabe nur angedeutet und damit verschleiert: daß Tess Gallagher und der Redakteur Jay Woodruff in die Texte eingegriffen haben, um ihren unfertigen Charakter zu übertünchen. Von philologischer Rechenschaft auf seiten der "Seelengefährtin und Wegbegleiterin", wie sie sich salbungsvoll nennt, keine Spur. Richard Ford, der Freund und Bewunderer Carvers, war ungleich konsequenter: Er weigerte sich, die nachgelassenen Erzählungen zu lesen, weil der Autor sie nicht persönlich in Druck befördert hat.
Die Witwe behauptet, mehrere der frühen Erzählungen seien als Hemingway-Parodie zu verstehen. Damit will sie die Texte vorauseilend in Schutz nehmen. Aber das ist nicht nötig, und von parodistischer Absicht merkt man wenig. Wohl von Einfluß: Carver gelingen sehr eindringliche Schilderungen von Männern in der Natur. Wie bei Hemingway müssen es Männer sein, die Männerdinge tun, und wie bei Hemingway geht beim Jagen alles schief, wenn das Gemüt in Unordnung ist. Die geduckte Haltung vor dem nächsten Schicksalsschlag und der völlig hoffnungslose Blick auf das Leben weisen schon auf den späten Carver voraus. Doch man liest in diesen Texten gelegentlich Metaphern, nach denen der Autor wohl ein bißchen gefahndet hat, Sachen wie: "die Straßenlaterne ein hagerer, mit Narben bedeckter Obelisk". Im späteren Werk, das sich auf die allerdürrste Beschreibung konzentriert, damit aus der nackten Sprache die Verzweiflung tritt, kommt so etwas nicht mehr vor.
Manche Szenen in Carvers Geschichten wirken, als hätte jemand inmitten der ödesten Szenerie einen großen Vorhang beiseite gerissen, und plötzlich erhaschte man einen Blick auf vollkommene Schönheit. In der Erzählung "Schwarzdrossel-Auflauf" verläßt eine Frau ihren Mann, der darüber endlos räsoniert. Die Frau hat den Koffer schon gepackt und ist nach draußen auf die Veranda gegangen. Es ist dunkel, das Haus steht allein. Da tritt ein Pferd aus dem Nebel, dann noch eins. Sie sind ausgerissen und haben sich auf ein fremdes Grundstück verirrt, Wesen wie von einem anderen Planeten, auf dem es keinen Streit und keine Ehescheidungen gibt. Die Frau streichelt ein Pferd. "Und dann, während ich zusah, fing sie an, in die Mähne des Pferdes zu weinen." Der Augenblick währt nur kurz. Die Frau meint es ernst, sie geht wirklich. Die poetische Szene heilt den Schmerz nicht.
Ehemänner in Zeiten der Trennung, auf dieses Thema läuft Carvers Spätwerk hinaus. Seine Figuren scheinen Variationen seiner eigenen Erfahrungen zu durchleben und wenig sonst: Sie ziehen an der Nordwestküste von Ort zu Ort, sie sind trockene Alkoholiker, rauchen wie die Schlote und schlafen schlecht. Es ist der Alltag selbst, der sie angreift, belagert, abnutzt. Das Elend dieser Figuren, ihre hilflose Glückssuche und allgemeine Sprachlosigkeit, könnte nirgendwo besser aufgehoben sein als in Carvers glasklarem Stil, dem nicht die kleinste Geste entgeht. Wer zuviel auf einmal davon liest, wird allerdings trübe. Außerdem sind seine Leser doch Intellektuelle, sie haben Bücher, Kino, Ausstellungen und Konzerte. Nichts davon kennen Carvers Figuren. Dieser Widerspruch gibt dem Carver-Kult bisweilen eine komische Note.
Leider läßt sich die Frage nach der Qualität der Übersetzung nicht in drei Zeilen erledigen. Helmut Frielinghaus legt hier schon seinen vierten Band Carver-Erzählungen vor, und mangelnde Übung kann man ihm nicht nachsagen. Er beherrscht das Englische, er findet über weite Strecken einen angemessenen literarischen Ton - und dann schreibt er bisweilen ein so miserables Deutsch, daß einem die Haare zu Berge stehen.
Die Frage, wie ein Satz klänge, wenn er auf deutsch geschrieben worden wäre, scheint sich Frielinghaus nie gestellt zu haben. Sonst hätte er folgenden Satz nicht durchgewunken: "Frank setzte das Auto zurück in eine kleine, felsige Ravine und sagte, der Platz sei gut genug." Es geht hier weniger um die "Ravine", die Frielinghaus der Bequemlichkeit halber einfach im Original beläßt, soll der Leser doch rätseln, was das ist (eine Schlucht, ein Hohlweg). Es geht um den englischen Satzteil "the place was good enough", den der Übersetzer wie ein Stück Torte krümelfrei ins Deutsche hebt: "der Platz sei gut genug". Es ist jedoch nicht der "Platz", der hier gemeint ist, sondern eine bestimmte Stelle. Und sie ist auch nicht "gut genug", sondern geeignet (nämlich um dort den Wagen abzustellen). "Als er bei der Tür angelangt war und das Holz fallen ließ", heißt es über den Helden einer anderen Erzählung, "haßte er sie." (Eine junge Frau.) Aber warum sollte er? Der Mann kennt die Frau doch erst seit ein paar Minuten. Er ist lediglich wütend auf sie. Daß Menschen oder Dinge neuerdings gleich gehaßt werden, ist der Überflutung mit schlecht synchronisierter Fernsehsprache geschuldet.
Ein weiteres Beispiel: Jemand spricht über seine ehemalige Frau, die in ein Sanatorium gehen mußte. Er sagt: "I mean, she was there, I was here, and I couldn't have gotten her out of that place if I'd wanted to." Dies ist erkennbar amerikanisches Englisch, und man muß sich dafür etwas einfallen lassen. Zum Beispiel: "Sie war dort, ich war hier, und ich hätte sie dort beim besten Willen nicht herausholen können." Daß das Deutsche kein Äquivalent für das Allzweckwort "place" hat, wird dadurch wettgemacht, daß man mit der Wendung "beim besten Willen" einen Nebensatz einspart. Frielinghaus dagegen wählt die denkbar schlechteste Lösung. Wo im Original drei Kommata stehen, muß er sechs aufbieten, weil er seinen Text nicht nur blind an die amerikanische Syntax kettet, sondern auch noch einen neuen Nebensatz produziert: "Ich meine, sie war dort, ich war hier, und ich hätte sie da, wo sie war, nicht rausholen können, auch wenn ich es gewollt hätte." Das soll die lakonische Alltagssprache sein, für die Carver berühmt ist? Gibt es irgend jemanden zwischen Flensburg und Lindau, der so spricht?
Die Anbiederung ans Original macht sich auch auf der lexikalischen Ebene breit. Bei Frielinghaus ißt man keine Erdnüsse, sondern "Peanuts", keine Kartoffelchips, sondern "Potatochips", und selbstverständlich bewegt sich niemand mehr auf allen vieren, sondern "auf Händen und Knien". Leser mit Englischkenntnissen, und das sind inzwischen ziemlich viele, hören ständig die Tonspur der amerikanischen Idiomatik mit. Deutsche Segler wiederum dürften laut lachen, wenn der Segeltörn zum "Turn" geadelt wird. Und eine Frau "kickt" nachts die Decke weg, gemeint ist jedoch: Sie strampelt sich frei. Drei Sekunden Nachdenken hätten dem Übersetzer an anderer Stelle das Wort "Klemmbrett" geschenkt. Er denkt aber nicht nach, sondern schreibt schick und schlagend "Clipboard". Da wundert es nicht, daß auch "Frank's Reparaturwerkstatt" und "Howard's Blumenhaus" in genau dieser Orthographie ihren Auftritt haben. Wie sagt eine Figur in so unvergeßlichem Deutsch: "Mir ist ... ich weiß nicht wie, aber ich mag, wie ich mich fühle." Was uns zu dem ernüchternden Resümee bringt, daß deutsche Übersetzer sich zwar oft wie der Fisch im Wasser unter den Spezialitäten der amerikanischen Lebenswelt bewegen, aber nicht mehr wissen, was ihre Aufgabe ist. Ihre Aufgabe besteht darin, für einen fremdsprachigen literarischen Text eine angemessene deutschsprachige Version zu finden. Helmut Frielinghaus hat dieses Ziel verfehlt, und niemand im Lektorat des Berlin Verlags hat es bemerkt.
Raymond Carver: "Erste und letzte Storys". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helmut Frielinghaus. Berlin Verlag, Berlin 2002. 355 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Raymond Carvers nachgelassene Storys, leider schlampig übersetzt / Von Paul Ingendaay
Dies ist der vierte und letzte Band der sorgfältig ausgestatteten Carver-Werkausgabe im Berlin Verlag, wahrhaft eine Ausgrabung und Wiederbelebung, denn der amerikanische Schriftsteller Raymond Carver gehörte in Deutschland bis zum Jahre 2000 lediglich ein paar Enthusiasten. Mit fünfzig Jahren, 1988, war er in Amerika allerdings hochberühmt. Er schien selbst zu verkörpern, was seine Storys sich nie zu erzählen trauen, den Aufstieg aus Armut und Suff zu den Lichtungen eines selbstbestimmten Künstlerlebens. Und er genoß die Anerkennung, bekam bedeutende Stipendien, schrieb Storys und Gedichte. Ein britischer Rezensent nannte ihn gar den "amerikanischen Tschechow". Dann starb er.
Kurz zuvor war in New York, als Vermächtnis zu Lebzeiten, der dicke Band "Where I'm Calling From" mit neuen und alten Erzählungen herausgekommen. Eine bestimmte Story darin fand ich seinerzeit scheußlich, sie heißt "Sag den Frauen, daß wir wegfahren" und stammt aus dem Band "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" (1981). Sie schien der vollkommene Ausdruck der Reagan-Ära aus der Sicht der Unterprivilegierten, die Schilderung eines Gewaltausbruches, den schiere Dumpfheit motiviert, als hätte Carver seine Landsleute ermahnen wollen: "Vorsicht! Wer zu früh heiratet, zu schnell ein Eigenheim mit Grillplatz anstrebt und alle Träume begräbt, kommt nicht darum herum, zwei Radfahrerinnen mit Steinen zu erschlagen." Ich mag die Erzählung immer noch nicht. Aber sie ist blendend geschrieben.
Der vorliegende Band heißt "Erste und letzte Storys", und das große Mittelstück mit sieben späten Erzählungen stammt aus dem damaligen Band "Where I'm Calling From". Es sind die besten der hier versammelten zweiundzwanzig Geschichten. Doch auch die anderen lohnen sich, und es hätte des pathetischen, im Kern sentimentalen Vorworts von Carvers Witwe Tess Gallagher (die sich den Band kurzerhand selbst gewidmet hat) nicht bedurft, um uns darauf vorzubereiten, daß die postumen Erzählungen nicht ganz durchgearbeitet sind. Ein anderer Tatbestand dagegen wird in der deutschen Ausgabe nur angedeutet und damit verschleiert: daß Tess Gallagher und der Redakteur Jay Woodruff in die Texte eingegriffen haben, um ihren unfertigen Charakter zu übertünchen. Von philologischer Rechenschaft auf seiten der "Seelengefährtin und Wegbegleiterin", wie sie sich salbungsvoll nennt, keine Spur. Richard Ford, der Freund und Bewunderer Carvers, war ungleich konsequenter: Er weigerte sich, die nachgelassenen Erzählungen zu lesen, weil der Autor sie nicht persönlich in Druck befördert hat.
Die Witwe behauptet, mehrere der frühen Erzählungen seien als Hemingway-Parodie zu verstehen. Damit will sie die Texte vorauseilend in Schutz nehmen. Aber das ist nicht nötig, und von parodistischer Absicht merkt man wenig. Wohl von Einfluß: Carver gelingen sehr eindringliche Schilderungen von Männern in der Natur. Wie bei Hemingway müssen es Männer sein, die Männerdinge tun, und wie bei Hemingway geht beim Jagen alles schief, wenn das Gemüt in Unordnung ist. Die geduckte Haltung vor dem nächsten Schicksalsschlag und der völlig hoffnungslose Blick auf das Leben weisen schon auf den späten Carver voraus. Doch man liest in diesen Texten gelegentlich Metaphern, nach denen der Autor wohl ein bißchen gefahndet hat, Sachen wie: "die Straßenlaterne ein hagerer, mit Narben bedeckter Obelisk". Im späteren Werk, das sich auf die allerdürrste Beschreibung konzentriert, damit aus der nackten Sprache die Verzweiflung tritt, kommt so etwas nicht mehr vor.
Manche Szenen in Carvers Geschichten wirken, als hätte jemand inmitten der ödesten Szenerie einen großen Vorhang beiseite gerissen, und plötzlich erhaschte man einen Blick auf vollkommene Schönheit. In der Erzählung "Schwarzdrossel-Auflauf" verläßt eine Frau ihren Mann, der darüber endlos räsoniert. Die Frau hat den Koffer schon gepackt und ist nach draußen auf die Veranda gegangen. Es ist dunkel, das Haus steht allein. Da tritt ein Pferd aus dem Nebel, dann noch eins. Sie sind ausgerissen und haben sich auf ein fremdes Grundstück verirrt, Wesen wie von einem anderen Planeten, auf dem es keinen Streit und keine Ehescheidungen gibt. Die Frau streichelt ein Pferd. "Und dann, während ich zusah, fing sie an, in die Mähne des Pferdes zu weinen." Der Augenblick währt nur kurz. Die Frau meint es ernst, sie geht wirklich. Die poetische Szene heilt den Schmerz nicht.
Ehemänner in Zeiten der Trennung, auf dieses Thema läuft Carvers Spätwerk hinaus. Seine Figuren scheinen Variationen seiner eigenen Erfahrungen zu durchleben und wenig sonst: Sie ziehen an der Nordwestküste von Ort zu Ort, sie sind trockene Alkoholiker, rauchen wie die Schlote und schlafen schlecht. Es ist der Alltag selbst, der sie angreift, belagert, abnutzt. Das Elend dieser Figuren, ihre hilflose Glückssuche und allgemeine Sprachlosigkeit, könnte nirgendwo besser aufgehoben sein als in Carvers glasklarem Stil, dem nicht die kleinste Geste entgeht. Wer zuviel auf einmal davon liest, wird allerdings trübe. Außerdem sind seine Leser doch Intellektuelle, sie haben Bücher, Kino, Ausstellungen und Konzerte. Nichts davon kennen Carvers Figuren. Dieser Widerspruch gibt dem Carver-Kult bisweilen eine komische Note.
Leider läßt sich die Frage nach der Qualität der Übersetzung nicht in drei Zeilen erledigen. Helmut Frielinghaus legt hier schon seinen vierten Band Carver-Erzählungen vor, und mangelnde Übung kann man ihm nicht nachsagen. Er beherrscht das Englische, er findet über weite Strecken einen angemessenen literarischen Ton - und dann schreibt er bisweilen ein so miserables Deutsch, daß einem die Haare zu Berge stehen.
Die Frage, wie ein Satz klänge, wenn er auf deutsch geschrieben worden wäre, scheint sich Frielinghaus nie gestellt zu haben. Sonst hätte er folgenden Satz nicht durchgewunken: "Frank setzte das Auto zurück in eine kleine, felsige Ravine und sagte, der Platz sei gut genug." Es geht hier weniger um die "Ravine", die Frielinghaus der Bequemlichkeit halber einfach im Original beläßt, soll der Leser doch rätseln, was das ist (eine Schlucht, ein Hohlweg). Es geht um den englischen Satzteil "the place was good enough", den der Übersetzer wie ein Stück Torte krümelfrei ins Deutsche hebt: "der Platz sei gut genug". Es ist jedoch nicht der "Platz", der hier gemeint ist, sondern eine bestimmte Stelle. Und sie ist auch nicht "gut genug", sondern geeignet (nämlich um dort den Wagen abzustellen). "Als er bei der Tür angelangt war und das Holz fallen ließ", heißt es über den Helden einer anderen Erzählung, "haßte er sie." (Eine junge Frau.) Aber warum sollte er? Der Mann kennt die Frau doch erst seit ein paar Minuten. Er ist lediglich wütend auf sie. Daß Menschen oder Dinge neuerdings gleich gehaßt werden, ist der Überflutung mit schlecht synchronisierter Fernsehsprache geschuldet.
Ein weiteres Beispiel: Jemand spricht über seine ehemalige Frau, die in ein Sanatorium gehen mußte. Er sagt: "I mean, she was there, I was here, and I couldn't have gotten her out of that place if I'd wanted to." Dies ist erkennbar amerikanisches Englisch, und man muß sich dafür etwas einfallen lassen. Zum Beispiel: "Sie war dort, ich war hier, und ich hätte sie dort beim besten Willen nicht herausholen können." Daß das Deutsche kein Äquivalent für das Allzweckwort "place" hat, wird dadurch wettgemacht, daß man mit der Wendung "beim besten Willen" einen Nebensatz einspart. Frielinghaus dagegen wählt die denkbar schlechteste Lösung. Wo im Original drei Kommata stehen, muß er sechs aufbieten, weil er seinen Text nicht nur blind an die amerikanische Syntax kettet, sondern auch noch einen neuen Nebensatz produziert: "Ich meine, sie war dort, ich war hier, und ich hätte sie da, wo sie war, nicht rausholen können, auch wenn ich es gewollt hätte." Das soll die lakonische Alltagssprache sein, für die Carver berühmt ist? Gibt es irgend jemanden zwischen Flensburg und Lindau, der so spricht?
Die Anbiederung ans Original macht sich auch auf der lexikalischen Ebene breit. Bei Frielinghaus ißt man keine Erdnüsse, sondern "Peanuts", keine Kartoffelchips, sondern "Potatochips", und selbstverständlich bewegt sich niemand mehr auf allen vieren, sondern "auf Händen und Knien". Leser mit Englischkenntnissen, und das sind inzwischen ziemlich viele, hören ständig die Tonspur der amerikanischen Idiomatik mit. Deutsche Segler wiederum dürften laut lachen, wenn der Segeltörn zum "Turn" geadelt wird. Und eine Frau "kickt" nachts die Decke weg, gemeint ist jedoch: Sie strampelt sich frei. Drei Sekunden Nachdenken hätten dem Übersetzer an anderer Stelle das Wort "Klemmbrett" geschenkt. Er denkt aber nicht nach, sondern schreibt schick und schlagend "Clipboard". Da wundert es nicht, daß auch "Frank's Reparaturwerkstatt" und "Howard's Blumenhaus" in genau dieser Orthographie ihren Auftritt haben. Wie sagt eine Figur in so unvergeßlichem Deutsch: "Mir ist ... ich weiß nicht wie, aber ich mag, wie ich mich fühle." Was uns zu dem ernüchternden Resümee bringt, daß deutsche Übersetzer sich zwar oft wie der Fisch im Wasser unter den Spezialitäten der amerikanischen Lebenswelt bewegen, aber nicht mehr wissen, was ihre Aufgabe ist. Ihre Aufgabe besteht darin, für einen fremdsprachigen literarischen Text eine angemessene deutschsprachige Version zu finden. Helmut Frielinghaus hat dieses Ziel verfehlt, und niemand im Lektorat des Berlin Verlags hat es bemerkt.
Raymond Carver: "Erste und letzte Storys". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helmut Frielinghaus. Berlin Verlag, Berlin 2002. 355 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Jürgen Brôcan sieht sich durch diesen Sammelband in seiner Einschätzung Raymond Carvers als "herausragendem Vertreter der Short Story" bestätigt. Die hier versammelten 22 Storys, die über einen Zeitraum von 25 Jahren entstanden sind, zeigten deutlich, dass Carver seinen Ton von Anfang an getroffen habe, wenn auch nicht von Anfang an in der Perfektion, die ihm später zu eigen wurde. Carver verleihe einfachen Dingen und Begebenheiten Kraft, indem er sie genau und möglichst objektiv beschreibe, ohne sie zu analysieren, zu erklären, zu werten. Diese Erzählweise verleihe seinen Geschichten eine einzigartige Lakonie, die dem Inhalt angemessen sei, so der Rezensent. Carver spare sich übermächtige Handlungen und konzentriere sich stattdessen auf viele kleine Aspekte des Lebens, die kaleidoskopartig ein Bild der Realität schüfen. Der Übersetzung von Helmut Frielinghaus wird ähnlich großes Lob zuteil, da dieser es verstehe, nicht nur Carvers Ton hervorragend zu treffen, sondern ihn an einigen Stellen auch noch im selben Stil zu verstärken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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