Riccardo Cassin: Die italienische Bergsteigerlegende. 'Solange ich jung war, bis sechzig, ging ich nie als Seilzweiter - nie!' Nichts charakterisiert Riccardo Cassin besser als diese Aussage - und sie lässt darauf schliessen, was für ein willensstarker und unabhängiger Geist er war. An den Felsen der Grigna oberhalb Leccos erlernte er das Handwerkszeug des Kletterns, das er später in den grossen Alpenwänden und an den Bergen der Welt umsetzte. Vor allem mit Freunden aus der Kletterergruppe der 'Rocciatori Lecchesi' realisierte er berühmte Erstbegehungen in den Dolomiten wie 1935 die Torre-Trieste-Südostkante und dieNordwand der Westlichen Zinne, 1937 die Nordostwand des Piz Badile (die er noch im Alter von 78 Jahren wiederholte), 1938 den Walkerpfeiler an den Grandes Jorasses. Legendär sind vor allem sein Durchsetzungswillen und sein Durchhaltevermögen geworden, denn er liess sich auch von katastrophalenWetterbedingungen nicht abhalten. Nach dem Krieg leitete er mehrere Expeditionen: 1957 zum Gasherbrum IV, 1961 zur Südwand des Mount McKinley, 1969 zum Jirishankar in Peru. Cassins letzte grosse Expedition 1975 hatte die Lhotse-Südwand zum Ziel. Die Autobiografie dokumentiert seinen Aufstieg vom Grigna-Kletterer zum führenden Felskletterer seiner Zeit. Sie verschweigt aber auch nicht die Schrecken des Partisanenkampfes im Zweiten Weltkrieg oder bittere Enttäuschungen seines Lebens wie die verhinderte Teilnahme an der erfolgreichen K2-Expedition 1954.Die italienische Originalausgabe 'Capocordata. La Mia Vitadi Alpinista' erhielt 2002 die Auszeichnung 'Cardo d'Oro' desPremio ITAS di Letteratura di Montagna.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2004Alpinistische Rekorde
Als Riccardo Cassin 1938 im Alter von neunundzwanzig Jahren zur Nordwand des Eigers reiste, war er längst ein berühmter Bergsteiger. Seine Erstbegehungen in den Dolomiten - die Nordwand der westlichen Zinne 1935 und die Nordostwand des Piz Badile 1937 - waren legendär. Sein Anspruch, "die Grenzen des Möglichen zu überschreiten und die Schranken der Natur zu durchbrechen", hatte ihn durch bis dahin unbezwungene Wände geführt. Seine Kletterei im sechsten, dem damals höchsten Schwierigkeitsgrad, belohnte der Duce mit zwei Goldmedaillen. Jetzt war er gekommen, um "das letzte große Problem der Alpen", die Eigernordwand, zu lösen, aber die deutsch-österreichische Doppelseilschaft Heckmair/Vörg und Kasparek/Harrer war schneller. Cassin verschwendete keine Zeit mit Glückwünschen, sondern fuhr sofort zum Walker-Pfeiler der Grandes Jorasses weiter. In zweiundachtzig Stunden durchstieg er mit zwei Gefährten die Tausendmeterwand, holte sich seine dritte Goldmedaille und demonstrierte mit dem Erfolg die hohe Klasse des italienischen Bergsteigens. Bis 1975, als er eine letzte, gescheiterte, Expedition zur Lhotse-Südwand führte, hat Cassin den italienischen Alpinismus geprägt. Seine Doktrin von der "Direttissima", der idealen Linie des vom Gipfel fallenden Tropfens, die der Bergsteiger als der schönsten Route zu folgen habe, war genauso einflußreich wie sein Bekenntnis zur "Materialschlacht", etwa des Einsatzes von Bohrhaken. Zeitgeschichtlich und klettertechnisch stand der heute fünfundneunzig Jahre alte Cassin im Mittelpunkt einer der interessantesten Epochen des Bergsteigens. Vor diesem Hintergrund fällt die Lektüre seiner Erinnerungen etwas ab. Vielleicht liegt es daran, daß Cassin seine Autobiographie 1984 schon einmal verfaßt hat ("50 Jahre Alpinismus") und Wiederholungen selten Neues bringen, letztlich ist es aber die Konzentration aufs schiere Klettern, die ermüdet. Dies betrifft natürlich nicht die klassischen Routen, mit denen er Alpingeschichte schrieb, doch hätte man statt der zahllosen übrigen Tourenbeschreibungen lieber etwas mehr über den politischen Hintergrund des Bergsteigens in den zwanziger und dreißiger Jahren gelesen oder über die im italienischen Alpinismus geführte Diskussion über das freie oder technische Klettern - oder ganz einfach mehr über Cassin selbst, der sich als Person allzusehr zurücknimmt.
rpm
"Riccardo Cassin: Erster am Seil" mit einem Vorwort von Christine Kopp. AS-Verlag, Zürich 2003. 288 Seiten, etwa 150 Abbildungen. Gebunden, 26,80 Euro. ISBN 3-905111-98-5.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Riccardo Cassin 1938 im Alter von neunundzwanzig Jahren zur Nordwand des Eigers reiste, war er längst ein berühmter Bergsteiger. Seine Erstbegehungen in den Dolomiten - die Nordwand der westlichen Zinne 1935 und die Nordostwand des Piz Badile 1937 - waren legendär. Sein Anspruch, "die Grenzen des Möglichen zu überschreiten und die Schranken der Natur zu durchbrechen", hatte ihn durch bis dahin unbezwungene Wände geführt. Seine Kletterei im sechsten, dem damals höchsten Schwierigkeitsgrad, belohnte der Duce mit zwei Goldmedaillen. Jetzt war er gekommen, um "das letzte große Problem der Alpen", die Eigernordwand, zu lösen, aber die deutsch-österreichische Doppelseilschaft Heckmair/Vörg und Kasparek/Harrer war schneller. Cassin verschwendete keine Zeit mit Glückwünschen, sondern fuhr sofort zum Walker-Pfeiler der Grandes Jorasses weiter. In zweiundachtzig Stunden durchstieg er mit zwei Gefährten die Tausendmeterwand, holte sich seine dritte Goldmedaille und demonstrierte mit dem Erfolg die hohe Klasse des italienischen Bergsteigens. Bis 1975, als er eine letzte, gescheiterte, Expedition zur Lhotse-Südwand führte, hat Cassin den italienischen Alpinismus geprägt. Seine Doktrin von der "Direttissima", der idealen Linie des vom Gipfel fallenden Tropfens, die der Bergsteiger als der schönsten Route zu folgen habe, war genauso einflußreich wie sein Bekenntnis zur "Materialschlacht", etwa des Einsatzes von Bohrhaken. Zeitgeschichtlich und klettertechnisch stand der heute fünfundneunzig Jahre alte Cassin im Mittelpunkt einer der interessantesten Epochen des Bergsteigens. Vor diesem Hintergrund fällt die Lektüre seiner Erinnerungen etwas ab. Vielleicht liegt es daran, daß Cassin seine Autobiographie 1984 schon einmal verfaßt hat ("50 Jahre Alpinismus") und Wiederholungen selten Neues bringen, letztlich ist es aber die Konzentration aufs schiere Klettern, die ermüdet. Dies betrifft natürlich nicht die klassischen Routen, mit denen er Alpingeschichte schrieb, doch hätte man statt der zahllosen übrigen Tourenbeschreibungen lieber etwas mehr über den politischen Hintergrund des Bergsteigens in den zwanziger und dreißiger Jahren gelesen oder über die im italienischen Alpinismus geführte Diskussion über das freie oder technische Klettern - oder ganz einfach mehr über Cassin selbst, der sich als Person allzusehr zurücknimmt.
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"Riccardo Cassin: Erster am Seil" mit einem Vorwort von Christine Kopp. AS-Verlag, Zürich 2003. 288 Seiten, etwa 150 Abbildungen. Gebunden, 26,80 Euro. ISBN 3-905111-98-5.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der berühmte Bergsteiger Riccardo Cassin im Mittelpunkt einer der interessantesten Epochen des Bergsteigens stand, fällt für den "rpm" zeichnenden Rezensenten die Lektüre seiner Lebenserinnerungen etwas ab. Einerseits liegt das, wie wir lesen, daran, dass Cassin seine Autobiografie 1984 schon einmal verfasst hat und in der neuen Version wenig Neues zu finden ist. Dann findet der Rezensent aber auch die Konzentration des Buches aufs "schiere Klettern" langfristig ermüdend. Von den zahllosen Tourbeschreibungen findet der Rezensent nur jene klassischen Routen interessant, mit denen Cassin einst Alpingeschichte schrieb. Es fehlt dem Rezensenten "etwas über den politischen Hintergrund des Bergsteigens in den zwanziger und dreißiger Jahren", sowie über Cassin selbst, der sich "rpm" zufolge als Person allzu sehr zurück nimmt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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